eJournals körper tanz bewegung 11/4

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Forum: Tanztherapie in der ­Jugendpsychiatrie

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2023
Else Diederichs
Die Erfahrung sicherer Räume ist für eine gesunde Entwicklung von Selbstvertrauen, Selbstwert und Beziehungsfähigkeit entscheidend. Im ersten Lebensjahr entsteht über sensorische Wahrnehmung (Piaget/Inhelder 1971) und räumliche Bewegungen, wie sie von Laban und Kestenberg definiert sind, ein erstes Begreifen der Körpereigenräume und der umgebenden Außenräume. Ausgehend vom Verstehen und Begreifen des Raumbegriffs geht es im weiteren Leben darum, den Eigenraum zu definieren, einzunehmen, identitätsstiftend zu gestalten und damit in Beziehung zu gehen. Wurde dieser Prozess beeinträchtigt, kann dies in der jugendlichen Entwicklung bei der Neu-Verortung auf dem Weg zum Erwachsenwerden zu Störungen führen. Die Autorin zeigt in diesem Artikel, wie in der Tanztherapie Spiel-Räume geboten werden können, um mit Jugendlichen in der Jugendpsychiatrie positive Raumerfahrungen wieder aufzubauen.
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162 körper-- tanz-- bewegung 11. Jg., S. 162-169 (2023) DOI 10.2378/ ktb2023.art22d © Ernst Reinhardt Verlag Forum: Aus der Praxis Tanztherapie in der Jugendpsychiatrie Spiel-Raum für eigene Räume Else Diederichs Die Erfahrung sicherer Räume ist für eine gesunde Entwicklung von Selbstvertrauen, Selbstwert und Beziehungsfähigkeit entscheidend. Im ersten Lebensjahr entsteht über sensorische Wahrnehmung (Piaget/ Inhelder 1971) und räumliche Bewegungen, wie sie von Laban und Kestenberg definiert sind, ein erstes Begreifen der Körpereigenräume und der umgebenden Außenräume. Ausgehend vom Verstehen und Begreifen des Raumbegriffs geht es im weiteren Leben darum, den Eigenraum zu definieren, einzunehmen, identitätsstiftend zu gestalten und damit in Beziehung zu gehen. Wurde dieser Prozess beeinträchtigt, kann dies in der jugendlichen Entwicklung bei der Neu-Verortung auf dem Weg zum Erwachsenwerden zu Störungen führen. Die Autorin zeigt in diesem Artikel, wie in der Tanztherapie Spiel-Räume geboten werden können, um mit Jugendlichen in der Jugendpsychiatrie positive Raumerfahrungen wieder aufzubauen. Schlüsselbegriffe Raum, sicherer Raum, Selbstvertrauen, Selbstwert, Beziehungsfähigkeit, Eigenraum, Außenräume, sensorische Wahrnehmung, Laban, Kestenberg, jugendliche Entwicklung, Spielräume in der Tanztherapie, Jugendpsychiatrie, Raum gestalten, Lebensräume durchschreiten Dance Therapy in Adolescent Psychiatry. Game Room for Your Own Rooms The experience of safe spaces is crucial for a healthy development of self-confidence, self-worth and relational capabilities. In the first year of life, sensory perception (Piaget/ Inhelder 1971) and spatial movements as defined by Laban and Kestenberg give rise to a first understanding of the body’s own spaces and the surrounding external spaces. Starting from understanding and comprehending the concept of space, the next step in life is to define and occupy one’s own space, to shape it in an identitycreating way and to relate to it. If this process has been impaired, this can lead to disturbances in youth development when re-orientating on the way to adulthood. In this article, the author shows how dance therapy can open up spaces in order to rebuild positive spatial experiences with adolescents in adolescent psychiatry. Key words space, safe space, self-confidence, self-esteem, ability to relate, personal space, outdoor spaces, sensory perception, Laban, Kestenberg, adolescent development, scope in dance therapy, adolescent psychiatry, designing space, walking through living spaces Tanztherapie in der Jugendpsychiatrie 4 | 2023 163 (Körper-)Psychotherapie im virtuellen Raum Ohne Raum kein Leben U nser menschliches Leben ist an den Lebensraum Erde geknüpft. Wir bewegen uns meist selbstverständlich darin, so dass uns der Raum oft erst bewusst wird, wenn er als zu eng, zu weit, zu einsam, zu überfüllt u. ä. erlebt wird. In diversen Redewendungen drückt sich das aus: „eingequetscht wie in einer Sardinenbüchse“, „mir fehlt der Raum zum Atmen“, „frei wie ein Vogel“, „im luftleeren Raum“, „Raum ist in der kleinsten Hütte“, „den Raum erfüllen“ usw. Die Wahrnehmung und Erfahrung von Raum baut sich in der Entwicklung durch sensorische Wahrnehmung auf und kann später auf symbolische Räume übertragen werden (Piaget/ Inhelder 1971). Das erste Erleben von Lebensraum beginnt als Embryo im Bauch der Mutter. Das Raumerleben verändert sich mit zunehmender Größe und Gewicht. Nach der Geburt erlebt das Kind die Öffnung des Raums in gefühlt unbegrenztem Ausmaß, und es ist darauf angewiesen, Halt und Orientierung in den Armen seiner Schutzbefohlenen zu finden. In dieser Zeit werden sehr unterschiedliche Raumerfahrungen gemacht: Die inneren Körperräume entwickeln sich, Atem und Stoffwechsel verbinden die Innen- und Außenräume, die im Körper entstehenden Affekte nehmen Raum ein durch Schreien, Strampeln, Glucksen (Sodian 2010). Raum begreifen und einnehmen-- Identität In den ersten Lebensjahren werden über das Halten, Abgelegtwerden, Ausdehnen, Schrumpfen, Greifen, Robben, Krabbeln, Aufrichten und Laufen die räumlichen Dimensionen des eigenen Körpers und der Außenwelt erfahren. Mit zunehmendem Alter wird es mehr und mehr zur Aufgabe, sich aus dem vertrauten Raum herauszubewegen und selbst seinen Platz in der Welt zu finden und zu gestalten. Zunächst ist der Mensch mit dem Raum verschmolzen, es besteht noch kein Bewusstsein zwischen Innen- und Außenräumen. Er ist sozusagen eins mit dem Raum (Minkowski1933). Über die sensorische Wahrnehmung entsteht das Begreifen eines Raums (Piaget 1971) und schließlich eines eigenen Raums, der das Leben begleitet und zu einer erweiterten Identität wird, z. B. in der Art der Kleidung, Bewegung, Einrichtung und Gestaltung des eigenen Zimmers oder Hauses. Dies hat eine Wirkung in die weiteren Außenräume hinein- - Beziehungsräume, Arbeitsräume, Naturräume u. a. Je mehr der Mensch im Laufe der Entwicklung seinen Raum wahrnimmt, gestaltet und einnimmt und auch das Leben an sich als seinen Raum empfindet, wird dies sein Vertrauen in seine Lebensräume und den damit verbundenen Aufgaben stärken (Intelmann 2004). Eigener Raum und Beziehungsraum Die Erfahrung von Raum und das Finden eines Platzes sind somit physische und psychische Erfahrungen. Das Erfahren und der Umgang mit Raum sind die Basis, auf der alle späteren Erfahrungen aufbauen. Das Erlernen der basalen bewegungsanalytischen Raumfaktoren nach Laban und Kestenberg, d. h. die Bewältigung eines dreidimensionalen Daseins, findet im ersten Lebensjahr statt (Bender 2021). Unter den Laban-Kestenberg-Raumfaktoren versteht man bewegungsanalytisch die Bewegungsmuster, die den direkten und flexiblen Umgang mit den im Raum befindlichen Objekten und Personen einschließlich der eigenen Person und des Raums an sich schulen (Bender 2021). Das Kind lernt allmählich, eigene und fremde Körpergrenzen zu unterscheiden, lernt, sich im Raum zu verorten, die Aufmerksamkeit zu lenken und zu halten, Nähe und Distanz zu den Bezugspersonen herzustellen, die Grundlagen von Beziehungsfähigkeit aufzubauen. In der Jugendpsychiatrie ist die Erfah- 164 4 | 2023 Else Diederichs rung von geschützten Räumen und der Wiederaufbau von positiven Raumerfahrungen wichtig, um das Empfinden eines Daseins und Dazugehörens zu stärken und die Basis für ein Vertrauen in sich und die Welt zu erneuern. Raum in der Peergruppe finden Für Jugendliche ist das Thema der Zugehörigkeit und das Finden eines Platzes in der Welt eine wichtige Entwicklungsaufgabe. Früher gemachte Erfahrungen leben nochmal auf und beeinflussen die Handlungsweise der jungen Menschen (Wiese 1983). Gerät der/ die Jugendliche in eine starke Identitätskrise und entwickelt bei deren Bewältigungsversuch psychiatrische Krankheiten, erfährt er/ sie bei Einweisung in die Jugendpsychiatrie eine oft unerwünschte Ortsveränderung und ist mit dem Finden eines Platzes in der Klinik und nach Entlassung einer Neujustierung seines/ ihres Platzes im Alltag konfrontiert. Teilweise stehen ein Schul- oder Klassenwechsel an, eine therapeutische Wohngruppe ist anzuvisieren, der Freundeskreis ist neu zu formieren u. ä. Auch wenn die äußeren Gegebenheiten bleiben, werden die neu eroberten internalisierten Erlebnisräume, wie größere Abgrenzungsfähigkeit oder Offenheit, in den Familien- und Freundes-Systemen ein Zurechtrücken der Plätze nach sich ziehen. In der Tanztherapiegruppe kann dieses Suchen, sich Orientieren und Finden als therapeutische Erfahrung erlebt werden. Ist das Vertrauen in den großen Lebensraum verlorengegangen, können der Therapieraum und die Teilräume darin wieder zum „Freund“ werden, um sich von hier aus weiteren Räumen zuwenden zu können im Sinne von Bachelard, der von „bergenden Räumen“ spricht: „Ei, Nest, Haus, Vaterland, All.“ (Bachelard 1958, zitiert nach Intelmann 2004, 247). Therapieraum kennenlernen und einen Platz in der Gruppe finden Oft ist der Start in der Jugendpsychiatrie und in einer Therapie-Gruppe mit Scham und Unsicherheit verbunden. Startet die Tanztherapiegruppe, benötigt es genügend Zeit, um den Raum mit Blicken und auch im Herumgehen zu erkunden. Gleichzeitig ist es wichtig, die anderen kennenzulernen. Als Tanztherapeutin in einer oberbayerischen Klinik startete ich in vielen Gruppen meist mit einem Namensspiel im Kreis, so dass sich alle sehen können. Durch die Kreisform ist eine klare Struktur vorgegeben, die bekannt ist und in der jede/ r einen gleichwertigen Platz hat. Das Zuwerfen eines Balles im Kreis mit dem Nennen des Namens fördert das Wahrnehmen der ganzen Gruppe und auch das direkte Zuwenden zu einer Person. Ebenso ist das Gesehenwerden im Kreis und das Ansprechen einer Person bereits eine erste Herausforderung, sich zu zeigen. Im zweiten Schritt wird die Reihenfolge des Zuwerfens beibehalten, jedoch wird der Kreis aufgelöst, und die TeilnehmerInnen bewegen sich frei im Raum, so dass der Name der Person, an die der Ball weitergegeben wird, laut gerufen wird und die Person im Raum geortet werden muss. So werden gleichzeitig der Raum und die anderen etwas vertrauter. Es entstehen erste Begegnungen im Suchen, Schauen, Ansprechen, Werfen. Werden nun die Fortbewegungsqualität und die Wege im Raum variiert (vorwärts langsam, schnell, rückwärts, Kreuzschritt usw.), kann auch die Reihenfolge umgedreht werden, so dass sich neue Erkundungswege und neue AnsprechpartnerInnen ergeben. Der Raum kann verkleinert und vergrößert werden, so dass sich alle auf einem engeren bzw. weiteren Raum begegnen. Die Kinesphäre muss angepasst werden, Nähe und Distanz werden in der Gruppe erfahren. Der Ball kann in einer bestimmten Qualität weitergegeben werden: schnell und heimlich, ärgerlich, erfreut, wie ein Geschenk, verschämt, Tanztherapie in der Jugendpsychiatrie 4 | 2023 165 usw. Dabei können Ideen von den Gruppenmitgliedern eingeholt werden. Dies schult Kontakt auf einer spielerischen Ebene und das Zeigen von Emotionen. Oft stellt sich in diesem spielerischen bewegten Kontakt eine erste Entspannung ein, es wird gelacht, ein erstes Zugehörigkeitsgefühl entsteht. Das Drehen und Zuwenden im Suchen und Ansprechen fördert die Bewegung in der horizontalen Raumebene, die in der Tanztherapie nach Kestenberg für Kommunikation steht. Das indirekte Wahrnehmen der Gruppe und das direkte Ansprechen und Anspielen eines Gruppenmitglieds, das Sich-Zurücknehmen und Sich-Zeigen, das Öffnen und Schließen sind die grundlegenden Raumerfahrungen, die entwicklungspsychologisch dem ersten Lebensjahr zuzuordnen sind. Ist in frühen Jahren dieses vertrauensvolle Hineinwachsen in den Lebensraum nicht gut gelungen oder durch spätere Erlebnisse erschüttert worden, so kann dies jetzt in der therapeutischen Gemeinschaft nachgenährt und neu erlebt werden. Tanzsack-- frühe Raumerfahrungen nacherleben Der Tanzsack eignet sich gut, um frühe Entwicklungsschritte nachzunähren. Das Hineinsteigen in den elastischen Sack und das Schließen mit dem Klettverschluss ermöglichen ein Raumerlebnis mit gedämpfter Sicht und enganliegender Umhüllung. Dies knüpft an die Erfahrung des ersten Raumerlebens im Mutterbauch an. Der Start am Boden in der unteren Bewegungsebene entspricht dem ersten Lebensjahr. In den Therapiestunden lud ich dazu ein, zunächst auf dem Boden zu liegen, sich beidseitig und einseitig einzurollen, auszudehnen, die dehnbaren Begrenzungen wahrzunehmen. Unipolarer und bipolarer Formfluss, die Vorläufer der Form- und Richtungsbewegungen, werden dadurch angeregt (Bender 2021). Beim bipolaren Formfluss drückt ein allgemeines Abb. 1 und 2: Tanzsack 166 4 | 2023 Else Diederichs Weiterwerden des Körpers Wohlbefinden und das beidseitige Engerwerden Unwohlsein aus. Unipolarer Formfluss meint die einseitige körperliche Ausdehnung in Richtung eines angenehmen Reizes oder umgekehrt das einseitige Wegziehen von einem unangenehmen Reiz. Dieser entwickelt sich, bevor das aktive „auf etwas Zu- und von etwas Wegbewegen“ im ersten Lebensjahr erlernt wird, und ist wichtig, um Intuition und das richtige Gespür für andere Menschen und Situationen zu entwickeln. Ist der Formfluss erstarrt, bin ich von diesem Gefühl und der kommunikativen Grundlage für Beziehungsentwicklung abgeschnitten (Bender 2021). Weiter ging es mit frühen Bewegungsmustern wie Hin- und Herrollen, in einer Umkehrhaltung die Beine und Arme in die Luft strecken u. ä. Rollend, robbend oder krabbelnd konnte nun der Raum in der Schutzhülle erforscht werden. Raum- und Körpergrenzen wurden ertastet, beim Aufeinandertreffen wurde geraten, wer da ist. Nach einer gewissen Zeit wurde damit experimentiert, verschiedene Gliedmaßen aus dem Sack zu strecken und wieder hineinzuziehen, dabei evtl. jemanden zu berühren und sich wieder zurückzuziehen. Nach der Experimentierphase wurde innegehalten und nachgespürt, wie sich diese verschiedenen sensomotorischen Stadien angefühlt haben. Die nächsten Fragen und Aufgaben waren: „Wie möchtest du ausschlüpfen? Erst mit den Beinen oder Händen, mit dem Kopf? Willst du erst mal so bleiben, wieviel Zeit brauchst du, um den Sack abzustreifen? Wenn du ganz herausgekommen bist, nimm den elastischen Sack und schau, ob du ihn dir mal über die Schulter legen oder um die Hüften wickeln möchtest. Komm langsam ins Stehen und bewege deinen Tanzsack: Lasse ihn schwingen oder durch den Raum schlängeln, vielleicht möchtest du mit deinem Tanzsack einen anderen berühren und in Kontakt treten.“ Bei mir tauchten Assoziationen auf von einer Nabelschnur und einem Übergangsobjekt. Ich nahm Impulse auf und regte zum Experimentieren an. Danach sollte ein Platz im Raum gesucht werden, wo der Tanzsack abgelegt wurde. Dort wurden die Körpergrenzen abgeklopft, der Körper gedehnt und gestreckt, um Körpergrenzen und Kinesphäre ohne die Umhüllung spürbar zu machen. Der Tanzsack wurde nun als eigener Platz so ausgelegt, dass er für die / den Betreffenden genügend Platz und Raum bot. Fragen und Anregungen luden zum Reflektieren und Mitteilen ein: „Schau, wo die anderen Plätze im Raum sind. Wer ist in deiner Nähe, wer ist weiter weg, wen kannst du sehen, wen vielleicht nicht? Wie geht es dir jetzt? Was hast du erlebt? Wie war es innen im Sack, wie war es, herauszukommen oder auch nur Teile herauskommen zu lassen? Was war am angenehmsten? “ In der zweimal wöchentlich stattfindenden Anorexie-Gruppe wurden unter anderem Sätze wie diese geäußert: „Es war lustig, durch den Raum zu rollen und zu krabbeln, ich konnte alles entdecken ohne das Gefühl, dass bewertende Blicke auf mir ruhen, ich fühlte mich ungestört und trotzdem irgendwie in Kontakt.“ Oder: „Als ich so halb aus dem Sack herausgestiegen war und nur unten herum eingehüllt war, fand ich das so gemütlich, ich hätte so bleiben wollen. Oben konnte ich die anderen sehen und war im Kontakt, und unten war ich geschützt und geborgen, da fühlte ich mich irgendwie kleiner, unbekümmerter.“ Der Übertrag auf den Alltag konnte dadurch hergestellt werden, dass generell im Leben immer wieder Übergänge stattfinden zwischen Rückzug und Für-sich-Sein einerseits und dem Hinausgehen und In-Kontakt-Treten andererseits. Oft war anfangs eine etwas alberne Stimmung, da es nicht alltäglich ist, in einen Tanzsack zu steigen, und die Jugendlichen mit der Scham kämpften- - ist das nicht uncool- …? Tanztherapie in der Jugendpsychiatrie 4 | 2023 167 Doch kannte sich die Gruppe schon etwas, überwog meist die Lust am Ausprobieren und daran, neue Impulse zu entdecken. Raum gestalten und einnehmen Immer wieder sehr berührt hat mich die Gestaltung von Plätzen im Raum. Es fanden sich jeweils zwei PartnerInnen zusammen und interviewten sich über Hobbies, Vorlieben, Geschwister, Urlaubswünsche, Fähigkeiten u. ä. Daraufhin wurden mit von mir angebotenem Material Plätze für die / den jeweilige PartnerIn im Raum gestaltet. Das Material umfasste bunte Seile, Tücher, Kuscheltiere, Puppen, Steine, Bälle u. ä. Meist begann ein lebhaftes Begutachten und Aussortieren des Materials und die Suche nach einem geeigneten Platz im Raum. Das Gestalten und Ausfüllen dieser Räume war teilweise mehrdimensional, indem Tücher aufgehängt, Polster und Stühle zur Hilfe genommen wurden u. ä. Waren die Plätze fertig, ging die ganze Gruppe von Platz zu Platz. Fast immer waren die „mit dem Platz Beschenkten“ sehr bewegt, dass sich jemand über sie Gedanken gemacht hatte, sie gehört und gesehen wurden. Teilweise waren sie erstaunt, wenn sie Neues über sich entdeckten, und gerührt über Vertrautes. Die GestalterInnen waren oft aufgeregt und freuten sich über die ausgelösten Reaktionen. Der individuelle Platz in der Gemeinschaft und im Gruppenraum wurde in der Gestaltung sichtbar und spürbar. Reflexion Fragen tauchten auf: „Nehme ich diesen Raum wirklich ein? Zeige ich den Inhalt, oder verstecke ich einiges? Fehlt etwas? Ist es zu eng, möchte ich den Platz erweitern? Was ist neu, was vertraut? Würdest du gerne etwas verändern? “ So konnte mit dem Platz weiter gestaltet und das Erleben erforscht werden: „Was passiert mit deinem Gefühl, wenn der Vorhang gelüftet, die Blume aufgerichtet, Verdecktes hervorgeholt wird? “ Eigenreflexion und Eigeninitiative begannen. Da dies einige Zeit in Anspruch nimmt, wurden die noch nicht begangenen Plätze fotografiert, vorübergehend zusammengeschoben und bekamen im Nebenraum einen Warteplatz bis zur nächsten Stunde, in der sie wieder aufgebaut wurden. Alle Plätze wurden von mir fotografiert und jede/ r durfte ihren / seinen Platz als Foto mitnehmen. Der Frosch im Teich Bei einer Platzgestaltung in der Anorexiegruppe der Autorin entstand „der Frosch im Teich“. Der Platz wurde für eine Jugendliche gestaltet, die zum Zeitpunkt des Klinikaufenthalts 14 Jahre alt war und an Anorexia nervosa litt. Obwohl sie einige Zeit in der Gruppe war, blieb sie meist zurückhaltend und still. Es fiel jedoch auf, dass sie auf Nachfragen sehr treffende und humorvolle Rückmeldungen geben konnte. Wurde darauf mit Lachen reagiert, freute sie sich, tauchte dann wieder ab und schien sich vor so viel Aufmerksamkeit verstecken zu wollen. Eine Mitpatientin hatte für sie einen Platz in der Mitte des Raumes gestaltet. In der Mitte lag ein blaues Tuch, da die Gestalterin wusste, dass blau eine der Lieblingsfarben der Mitpatientin war. Ein Stoff-Frosch saß auf dem Tuch wie in einem Teich, mit dem Gesicht nach innen gedreht. Außen herum war der Teich mit Edelsteinen umrandet. Der Kommentar war: „Der Frosch ist lebhaft und hüpft für sich im Teich herum, er hat manchmal etwas Lustiges, was ich gerne öfter erleben würde. Die Steine außen herum sind die Stolpersteine auf dem Weg nach draußen.“ Die Patientin experimentierte daraufhin damit, den Frosch nach außen über die Grenze schauen zu lassen. Das fand sie gut und meinte: „Vielleicht kann ich auch mal aus dem 168 4 | 2023 Else Diederichs Teich herausspringen.“ Sie versetzte den Frosch nach außen, fühlte sich dort jedoch zu unsicher und ungeschützt. Da sie die Stolpersteine zwar hart, aber auch ganz schön fand-- es waren kleine Edelsteine-- kam ihr die Idee, sie wie eine Straße als Verbindung zu ihrem Teich und als begleitende Schutzmauer nach draußen zu legen, so dass der Weg nach vorne frei wurde, sie seitlich jedoch Schutz hatte. In der Einzelstunde konnten wir weiter daran arbeiten, was ihr Schutz geben könnte, welche Stolpersteine sie bereits bewältigt hatte und ihr jetzt mehr Basis und Boden gaben. So wurden aus den Stolpersteinen tatsächlich wertvolle Edelsteine auf ihrem Weg. Auch konnten wir ihre Ressourcen herausarbeiten und symbolisch einen Platz in ihrem Teich geben. Das Gefühl und das Bild, nach vorne gehen zu können, sich mit den Steinen aber auch abgrenzen zu können, tat ihr gut. Tatsächlich begann ein vorsichtiger Prozess der Differenzierung und Abgrenzung in der Klinik und auch der Wunsch, die Konflikte mit der Mutter anzusprechen. Das Erfahren von geschützten Räumen und der gestaltete Raum hatten ihr das Gefühl eines eigenen Raums, der sie auch bei Annäherung an andere begleitet, wieder näher gebracht und den Grundstein für weitere Schritte gelegt, die im ambulanten Setting erfolgen sollten. Ein neuer Zeit-RAUM brach für sie an. Abschlussbetrachtung In seinem Gedicht „Stufen“ beschreibt Hermann Hesse das Leben als Durchschreiten von Räumen. Der Aufbau und die basale Erfahrung eines sicheren Eigen-Raumes können hilfreich sein, wenn es uns nicht gelingt, manche Räume zu durchschreiten und sie dann zugunsten neuer Räume loszulassen. Bei traumatisierten PatientInnen können wir beobachten, wie sich Zeit und Raum in Flashbacks vermischen. Das Abb. 3: Frosch im Teich, Blick nach innen Abb. 5: Frosch auf dem Weg nach draußen mit Schutzmauer Abb. 4: Frosch vor dem Teich, Blick nach außen Tanztherapie in der Jugendpsychiatrie 4 | 2023 169 Spüren von räumlichen Strukturen wie Boden und Körpergrenzen sowie die Imagination von Schutzhüllen, sicheren Orten usw. können eine Ordnung wieder herstellen. Nach obigen Ausführungen und meinen persönlichen Erfahrungen ist der Aufbau von positiven und sicheren Raumerlebnissen der Grundstein von Sicherheit, Vertrauen und Wertschätzung des Selbst und der Umwelt. Starten wir im Therapieraum und bauen neue Räume mit unserer Jugend! Stufen von Hermann Hesse Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen, Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde Uns neuen Räumen jung entgegen senden, Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden … Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde! Literatur Bachelard, G. (1958): La poétique de l’espace. Paris. Dt. Übersetzung: Leonhard, K. (1960): Poetik des Raumes. Carl Hanser Verlag, München Bender, S. (2021): Die psychophysische Bedeutung der Bewegung. Ein Handbuch der Laban Bewegungsanalyse und des Kestenberg Movement Profiles. Logos, Berlin Bollnow, F. O. (2010): Mensch und Raum. Kohlhammer, Stuttgart Intelmann, C. (2004): Der Raum in der Psychoanalyse. Zur Wirkung des Raums auf den psychoanalytischen Prozess. Dissertation. In: edoc. ub.uni-muenchen.de/ 1794/ 1/ Intelmann_Claudia.pdf, 5.4.2023, https: / / doi.org/ 10.5282/ edoc.1794 Minkowski, E. (1933): Le temps vécu. Etudes phénoménologiques et psychopathologiques. Payot, Paris Piaget, J., Inhelder, B. (1971): Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde. Klett-Cotta, Stuttgart Sodian, B. (2010): Pränatale Entwicklung und Neugeborenenzeit. Neuronale Entwicklung. In: www.psy.lmu.de/ epp/ studium_lehre/ lehrmaterialien/ lehrmaterial_ss10/ wintersemester1011/ lehrmat_sodian/ einf_entwspsycho/ bsc_nfws10_2.pdf, 9.7.2023 Wiese, J. (1983): Zur Funktion der Regression in der Adoleszenz. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 32 (1), 1-4 Else Diederichs Tanztherapeutin BTD, Ausbilderin, Lehrtherapeutin, Supervisorin BTD, langjährige Arbeit in einer jugendpsychiatrischen Abteilung, ist in eigener Praxis und als Dozentin in der Tanztherapieausbildung im EZETTHERA in München tätig. ✉ Else Diederichs Laubanerstr. 40 | D-82205 Gilching else_diederichs@t-online.de