körper tanz bewegung
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle tanztherapeutische Studien bei Kindern mit Angststörung, bei ASD und bei PatientInnen mit DDD
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Iris Bräuninger
Vorgestellt werden drei Studien mit unterschiedlichen Studiendesigns: Die Cross-Over Studie bei PatientInnen mit Depersonalisations-Derealisationsstörung (DDD) verglich die Wirksamkeit von zwei selbstinduzierten Tanztherapie (TT)-Interventionen auf die Symptomreduktion (Millman et al. 2023). Die partizipative Beobachtungsstudie bewertete anhand der Analyse von Therapieprotokollen, ob Angst bei Kindern anhand körperlicher und geistiger Manifestation im tanztherapeutischen Setting beobachtbar wäre (Bresler Nardi et al. 2023). Die letzte Studie beschreibt anhand von Videoanalysen den Einsatz von Synchronität und Interaktionsqualität beim Spiegeln in der TT mit einer Person im Autismus-Spektrum (Manders et al. 2022).
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Aktuelles aus der Forschung 181 körper-- tanz-- bewegung 11. Jg., S. 181-183 (2023) DOI 10.2378/ ktb2023.art24d © Ernst Reinhardt Verlag Aktuelle tanztherapeutische Studien bei Kindern mit Angststörung, bei ASD und bei PatientInnen mit DDD Iris Bräuninger V orgestellt werden drei Studien mit unterschiedlichen Studiendesigns: Die Cross- Over Studie bei PatientInnen mit Depersonalisations-Derealisationsstö rung (DDD) verglich die Wirksamkeit von zwei selbstinduzierten Tanztherapie (TT)-Interventionen auf die Symptomreduktion (Millman et al. 2023). Die partizipative Beobachtungsstudie bewertete anhand der Analyse von Therapieprotokollen, ob Angst bei Kindern anhand körperlicher und geistiger Manifestation im tanztherapeutischen Setting beobachtbar wäre (Bresler Nardi et al. 2023). Die letzte Studie beschreibt anhand von Videoanalysen den Einsatz von Synchronität und Interaktionsqualität beim Spiegeln in der TT mit einer Person im Autismus-Spektrum (Manders et al. 2022). Cross-Over Studie bei PatientInnen mit Depersonalisations- Derealisationsstörung Millman und KollegInnen (2023) verglichen im Rahmen einer Cross-Over-Studie den Effekt von zwei strukturierten tanztherapeutischen Online-Interventionen (Dance Exercise oder Body Awareness) auf die Symptome bei Depersonalisations-Derealisationsstörung (DDD). Diese äußern sich in Form von ausgeprägter Trennung vom eigenen Selbst und von der äußeren Realität. Von den ursprünglich 80 rekrutierten Personen wurden 31 Teilnehmende (davon 21 weiblich) mit DDD mit DMS-5-Diagnose (333.6) und 29 gesunde Kontrollpersonen (davon 21 weiblich) eingeschlossen. Zu drei Messzeitpunkten (vor, während, nach den Aufgaben) wurden der Schweregrad der Symptome (Cambridge Depersonalization Scale), das interozeptive Bewusstsein (Multidimensional Assessment of Interoceptive Awareness- - II), die Achtsamkeit (Five Facet Mindfulness Questionnaire) und die Körperwachheit (Body Vigilance Scale) erhoben. Den Teilnehmenden wurden individuelle und strukturierte Tanz- / Bewegungsübungen als Audioaufzeichnungen zugesandt, welche sie zu Hause ohne InstruktorIn durchführten. Beide Interventionen wurden über sechs Tage a) mit Warm-Ups und b) mit einer der beiden Interventionen (entweder Dance Exercise oder Body Awareness) durchgeführt. Am siebten Tag fand für alle eine Online-Videositzung statt zum Austausch der bisherigen Erfahrungen. Im Anschluss erfolgten weitere sechs Tage mit denselben Interventionen / 1x pro Tag (insgesamt also über 12 Tage). Eine „Auswaschphase“ ohne Intervention folgte für vier bis sechs Wochen. Beim Cross-Over erlernte jede Gruppe die jeweils andere Aufgabe und deren Durchführung an weiteren 12 Tagen. Die Personen 182 4 | 2023 Iris Bräuninger mit DDD zeigten vor der Studie erhöhte DDD- Symptome und geringere interozeptive Bewusstseins- und Achtsamkeitswerte im Vergleich zur Kontrollgruppe. In der DDD-Gruppe reduzierten beide Aufgaben die Symptome, die Dance-Exercise-Aufgabe wurde jedoch als leichter wahrgenommen, und sie förderte die Achtsamkeit stärker als die Body-Awareness- Aufgabe. Qualitative Studien bei Kindern mit Angststörung Die partizipative Beobachtungsstudie von Bresler Nardi und Kolleginnen (2023) untersuchte anhand der Analyse von Therapieprotokollen, ob sich Angst bei Kindern körperlich und geistig manifestieren ließe. Hierfür prüften die Autorinnen, ob bei Kindern mit Angstsymptomen einzigartige körperliche und mentale Manifestationen im Rahmen der Tanz-, Bewegungstherapie beobachtbar und identifizierbar wären in der Absicht, das klinische Verständnis für diese Kinder zu verbessern und zur Entwicklung eines wirksamen Behandlungsmodells beizutragen. Die Therapieprotokolle von acht PatientInnen (Alter: 8 bis 11 Jahre), die ein bis zwei Jahre an der TT und an mindestens 25 Therapiesessions à 45 Minuten teilgenommen hatten, wurden analysiert. Die Protokolle wurden nach der Milner-Methode analysiert, welches subjektives autobiografisches Schreiben und psychoanalytische Selbsterkundung beinhaltet. Als Ergebnisse konnten die Autorinnen vier Themen identifizieren: (1) von Trennung zu Verbindung; (2) von Vermeidung zu Präsenz; (3) von Verschmelzung zu Unabhängigkeit und (4) von Kontrolle zu Loslassen. Für das Thema „Kontrolle zu Loslassen“ beispielsweise wurden am Anfang der Therapie die Körperhaltung der Kinder als sehr kontrolliert, die Körper als wenig geerdet und die Bewegungen als vorwiegend peripher beschrieben. Gegen Ende erschienen die Bewegungen gelöster, geöffneter und organisch fließender. Bresler Nardi und Kolleginnen (2023) sehen darin einen Zusammenhang, wie sich Angst in Körper und Psyche manifestiert und sich gegenseitig beeinflusst. Diese Erkenntnisse könnten, so die Autorinnen, als Grundlage für ein Diagnosemodell zur Entwicklung wirksamerer Behandlungspläne für Kinder mit Angstsymptomen dienen. Fallbesprechung bei einem Mann im Autismus-Spektrum Die Daten der Fallstudie von Manders und KollegInnen (2022) entstammen einer größeren Studie zu Spiegelungsaktivitäten in Gruppen-TT mit Jugendlichen und Erwachsenen im Autismus- Spektrum. Personen im Autismus-Spektrum erscheinen in der Interaktion gegenüber anderen weniger engagiert und mit eingeschränkter Interaktionssynchronität. Die Fallstudie beschreibt die Ergebnisse der Videoanalysen der TT mit „Hans“, einem Erwachsenen: Die Sekundäranalyse zu Mustern der Synchronität und Interaktionsqualität bei Spiegelungsaktivitäten wurde möglich, da „Hans“ in mehr als zwei Therapiestunden mit derselben Partnerin (einer TT-Studentin) im Interaktionsgeschehen involviert war und dadurch affektives Engagement, Interaktionsfluss, zwischenmenschliche Synchronität und qualitative Bewegungen beobachtbar und analysierbar wurden. Aus den acht Videoaufzeichnungen wurden 31 Videoclips ausgewählt (aus den Stundenmitten und aus Momenten von Hans’ interaktiven Verhaltensweisen). Die beiden Rater-Gruppen waren blind zur Reihenfolge der Clips, sie bewerteten die Interaktionsqualität anhand von zwei 5-Punkte-Likert-Skalen zu affektivem Engagement und zum Interaktionsfluss. Die Ergebnisse ergaben, dass Hans in regelmäßigen Spiegelungsaktivitäten und spielerischen Interventionen unterschiedliche Muster der Auf- 4 | 2023 183 Aktuelles aus der Forschung merksamkeit und des Engagements zeigte und er sich im Verlauf der Therapie synchron mit seiner Partnerin und anderen bewegte, positive Gefühle zeigte und sich sein Bewegungsrepertoire erweiterte. Sein affektives Engagement nahm dann zu, wenn der Tanz weniger strukturiert, mit offenem Ende und mit derselben Partnerin stattfand. Hingegen nahm es in Therapiestunden mit anderen PartnerInnen nicht zu. Die Autorinnen interpretieren dies als möglichen Hinweis, dass die Entwicklung der therapeutischen Bewegungsbeziehung flexibel, individuell und spielerisch sein und alltägliche soziale Situationen widerspiegeln sollte. Schlussfolgerung und Ausblick Die Studie von Millman und KollegInnen (2023) zeigt auf, dass sich bei Personen mit DDD nach zwölf Tagen strukturierten tanztherapeutischen Online-Interventionen 1. die Achtsamkeit verbessert und die Symptome reduziert werden und 2. Dance-Exercice-Aufgaben leichter als Body-Awareness-Aufgaben empfunden werden. Interessant für weitere Studien wäre, die Nachhaltigkeit dieser Ergebnisse zu überprüfen. Die qualitativen Ergebnisse von Bresler Nardi und Kolleginnen (2023) bieten eine Grundlage zur Generierung von Hypothesen für quantitative Studiendesigns, beispielsweise: 1. Sind Angstsymptome von Kindern körperlich beobachtbar? 2. Wirken tanztherapeutische Interventionen nachhaltig angstreduzierend? Die Fallstudie von Manders und Kolleginnen (2022) liefert, getreu dem Titel, Argumentationshilfen für den spielerischen Einsatz von Synchronität und Interaktionsqualität beim Spiegeln in der TT mit Personen im Autismus-Spektrum. Literatur Bresler Nardi, A., Shuper Engelhard, E., Bat Or, M. (2023): Analyzing therapy logs: Mapping physical and mental manifestations of anxiety among children undergoing dance / movement therapy. American Journal of Dance Therapy 45 (1), 3-19, https: / / doi.org/ 10.1007/ s10465-023-09380-x Manders, E., Koch, S. C., Fuchs, T. (2022): A case for playful engagement: Synchrony and interaction quality during mirroring in ASD. Conceptual framework and case study. American Journal of Dance Therapy 44, 143-167, https: / / doi. org/ 10.1007/ s10465-022-09359-0 Millman, L. M., Hunter, E. C., Terhune, D. B., Orgs, G. (2023): Online structured dance / movement therapy reduces bodily detachment in depersonalization-derealization disorder. Complementary Therapies in Clinical Practice 51, 101749, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.ctcp.2023.101749 Dr. Iris Bräuninger Senior Researcher (Hochschule für Heilpädagogik Zürich IVE), Dozentin MA Tanztherapie UAB Barcelona, BTD-Supervisorin / Ausbilderin / Lehrtherapeutin, KMP-Notatorin, Praxis Tanztherapie Supervision Bodensee. ✉ Dr. Iris Bräuninger dancetherapy@mac.com oder iris.braeuninger@hfh.ch
