eJournals körper tanz bewegung 11/2

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2023.art10d
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2023
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Forum: Emotionale Transformation

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2023
Krisztina Berger
Der vorliegende Artikel fokussiert auf die praktische Umsetzung der emotionalen Transformation. Ausgangspunkt ist das Individuum. Welche unterschiedlichen Herangehensweisen und Lösungsansätze in der psychotherapeutischen Arbeit eingesetzt werden, richtet sich nach der Persönlichkeit des Individuums, nach der Tiefe oder Breite seines Problems und dem situativen Momentum. In der Praxis entsteht dadurch immer eine individuelle Kombination der Techniken, die dem Menschen als Ganzes - seinem Körper, seiner Emotionalität, seinen mentalen Einstellungen - in dem gegebenen Moment entsprechen. In diesem Sinne werden im vorliegenden Artikel Techniken der emotionalen Transformation auf der mentalen, emotionalen und körperlichen Ebene vorgestellt und ihre Wirksamkeit mit Fallbeispielen verdeutlicht.
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69 Forum: Aus der Praxis körper-- tanz-- bewegung 11. Jg., S. 69-78 (2023) DOI 10.2378/ ktb2023.art10d © Ernst Reinhardt Verlag Emotionale Transformation Ein Praxisbeitrag Krisztina Berger Der vorliegende Artikel fokussiert auf die praktische Umsetzung der emotionalen Transformation. Ausgangspunkt ist das Individuum. Welche unterschiedlichen Herangehensweisen und Lösungsansätze in der psychotherapeutischen Arbeit eingesetzt werden, richtet sich nach der Persönlichkeit des Individuums, nach der Tiefe oder Breite seines Problems und dem situativen Momentum. In der Praxis entsteht dadurch immer eine individuelle Kombination der Techniken, die dem Menschen als Ganzes-- seinem Körper, seiner Emotionalität, seinen mentalen Einstellungen-- in dem gegebenen Moment entsprechen. In diesem Sinne werden im vorliegenden Artikel Techniken der emotionalen Transformation auf der mentalen, emotionalen und körperlichen Ebene vorgestellt und ihre Wirksamkeit mit Fallbeispielen verdeutlicht. Schlüsselbegriffe emotionale Transformation, emotionale Regulierung, mentale Einstellung, Atem, Lösung von emotionalen Blockaden, tiefgründige Transformation, emotionale Klärung, emotionales Feld Emotional Transformation. A Practice Contribution This article is focused on the practical implementation of emotional transformation. Which different approaches and solutions are used in psychotherapeutic work depends on the personalitiy of the individual, the depth or breadth of their problem and the situational momentum. In practice, this always results in an individual combination of techniques, that correspond to the person as a whole-- his body, his emotionality, his mental attitude-- in the given moment. In this sense this article presents techniques of emotional transformation on the mental, emotional and physical level, and their effectiveness is illustrated with case studies. Key words emotional transformation, emotional regulation, mental attitude, breath, dissolving emotional blockages, profound transformation, emotional clarification, emotional field Ausgangspunkt: Das Individuum I n meiner langjährigen Praxis der emotionalen Transformation bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ein Individuum unterschiedliche Einstellungen, Richtungen und Herangehensweisen erfordert. Es entsteht immer eine individuelle Kombination von Lösungsansätzen und Techniken, die in einem bestimmten Moment Wirksamkeit zeigen. Welche schon erforschten Techniken in die therapeutische Arbeit einbezogen werden, richtet sich nach der Persönlichkeit des Individuums, nach der Tiefe oder Breite seines Problems und 70 2 | 2023 Krisztina Berger dem situativen Momentum. Das, was letztlich geschieht, lässt sich nicht im Voraus festlegen, sondern die emotionalen Lösungen und Erkenntnisse entstehen dem Moment folgend in einem zwar intuitiven, aber fachlich fundierten Feld. „Das praktische Vorgehen selbst ist eine kreative Kunst.“ (Geuter 2019, 4) Eine (körper)psychotherapeutische Konzeption kann zwar die Richtung der Transformation vorgeben, in der praktischen Arbeit muss ich mich aber dem Individuum, dem Moment und dem Prozess hingeben. Diese Prozessorientierung ist ein wichtiges Merkmal der modernen Körperpsychotherapie. Therapie verstehe ich daher, im Sinne von Carl Rogers, als existenzielle Begegnung zweier Menschen. In diesem interaktionellen Verständnis der therapeutischen Beziehung wird das Übertragungs-Gegenübertragungsgeschehen sowie die somatische und vegetative Resonanz eingeschlossen. Darüber hinaus werden wir, Klient und Therapeut, zur „Wirkungseinheit“ in einem wechselseitigen, auch verkörperten Geschehen (Heisterkamp 2002). In diesem intuitiv-spürenden Improvisationsfeld haben sich die folgenden Techniken und Übungen herauskristallisiert, die die mentale, emotionale und körperliche Ebene des Menschen in ihrer Kombination effektiv ansprechen: ● A. Mentale Ebene: Die Macht der Einstellung ● B. Emotionale Ebene: Vogelperspektive und Emotionale Klärung ● C. Körperliche Ebene: Atemübungen als Anker der Sicherheit und Katalysatoren für die Lösung von emotionalen Blockaden und Verletzungen Allgemein gilt, dass wir die Bearbeitungsebene wechseln müssen, wenn wir auf einer Ebene der emotionalen Transformation in eine Sackgasse geraten sind. Mehr dazu im Weiteren. Zunächst werden die Techniken und Übungen der emotionalen Transformation auf den unterschiedlichen Bearbeitungsebenen vorgestellt. Techniken der emotionalen Transformation A. Die Macht der Einstellung Die folgenden Exkurse geben wertvolle Impulse für die Praxis, da manche Individuen zuerst auf der mentalen Ebene abholbar sind. Schon unsere Einstellung zu den Gefühlen ändert sehr viel daran, ob die Gefühle für uns belastend werden oder auch nicht. Hier werden zwei Beispiele bzw. Herangehensweisen beschrieben, in denen die zeitliche Dimension zunehmend ausgedehnt wird. Das Ergebnis: Aus der Beobachtung und Veränderung der emotionalen Empfindung des Gegenwartspunktes heraus können wir Einfluss nehmen auf die subjektive Wirklichkeit unserer Zukunft. Tragödie vs. Komödie „Tragödie und Komödie sind das Gleiche.“- - sagt Sokrates. Ja, aber aus einer anderen Perspektive betrachtet, mit einer anderen inneren Einstellung. Tragödie ist, wenn wir drin sind im Leiden, wenn die ganze Schwere auf uns fällt und wir verschüttet sind vom Leiden. Komödie ist, wenn wir über das Leiden hinausgehen und darüber hinwegfliegen. Wenn wir den Humor der Situation entdecken. „Tragödie stürzt uns in den Abgrund, ist die Qual, gleichzeitig die Katharsis. Komödie lässt uns in die Höhe steigen, es ist der Sieg über unsere Schwierigkeiten.“, schreibt der ungarische Dramatiker Peter Müller (2018, 14-15, Übersetzung der Autorin). In beiden Zuständen fließen bei uns die Tränen: in dem einen vor Schmerz, in dem anderen vor Lachen. Beide Zustände sind auf den altgriechischen Theatermasken sichtbar, beide Zustände können wir in therapeutischen Prozessen einsetzen (z. B. „Tanz der Dämonen“: Berger 2021, 80). Unsere beiden inneren Erfahrungen sind in ihrer Polarität besonders und gehören zur Wirklichkeit des Menschseins. Aber die Zuversicht und Humor ist höher als das Leiden. Im Emotionale Transformation 2 | 2023 71 Leiden ist der Mensch ein Gefangener und gebunden. In der Zuversicht und Leichtigkeit ist er frei und fliegend. Die Änderung der subjektiven Wirklichkeit Wir können die Gesamtheit unserer Glaubenssysteme, Emotionen, bewussten und unbewussten Regungen als eine „subjektive Wirklichkeit“ auffassen. Die Aufgabe besteht darin, die Illusion in unserem Bewusstsein zu entdecken und aufzulösen, dass das, was wir gerade leben, unsere Wirklichkeit ist. Es ist nur eine Möglichkeit des Erlebens, eine Möglichkeit der subjektiven Wirklichkeit. Und die Zukunft weben wir gerade jetzt, in diesem Moment. Wenn wir unsere Disharmonie, unser Unglück, unsere Angst … als Wirklichkeit glauben, weben wir diese Gefühle in das Gewebe der Zeit, es wird Teil unserer Zukunft. Wir glauben an das „Unglücksprogramm“, und dieses „Programm“ generiert sich selbst. In diesem Sinne ist die „nicht veränderbare Wirklichkeit“ oder die „negative Realität“ eine Zwangsvorstellung der Psyche. Auch ein Alptraum wird nur zur Erinnerung, wenn man aufgewacht ist, egal wie reell er erschienen ist. Das Generieren dieser subjektiven Wirklichkeit ist unsere alltägliche tatsächliche „Magie“. Warum sollte man die Wirklichkeit dann nicht zu einer besseren verändern? Diese neue Einstellung hebt noch nicht unsere Verantwortung für unsere Handlungen auf, sondern die innere Position, aus welcher wir die Handlungen starten, wird befreit von z. B. angstgesteuertem Aktionismus. Die Veränderung des Grundgefühls der Gegenwart sowie die Veränderung der Gefühle in Bezug auf die Zukunft helfen, uns in eine andere subjektive Wirklichkeit, in eine andere Realität, in eine andere potentielle Zukunft zu katapultieren, die noch nicht fertig ist, deren Fäden aber in unserer Hand liegen. Mit den Worten von Albert Einstein: „Realität ist eine Illusion, allerdings eine sehr hartnäckige. Passen Sie sich der Frequenz der Realität an, die Sie sich wünschen, und Sie kommen nicht umhin, sie zu bekommen. Das ist keine Philosophie, das ist Physik.“ Exkurs: Kunst und Wissenschaft in der Entdeckung der Psyche In dem vorliegenden Artikel zitiere ich gleichwohl Künstler und Wissenschaftler im Bewusstsein darüber, dass wir alle miteinander das menschliche Dasein teilen und kardinale Erkenntnisse für uns alle möglich sind. Psyche ist Psyche, worüber wir alle verfügen. Zu einer wichtigen psychologischen Erkenntnis bzw. menschlichen Wahrheit kann jeder Mensch gelangen, sei es ein Künstler, Psychologe oder ein Körperpsychotherapeut. Was ist Kunst in dem psychologischen Sinne? Eine Abbildung, eine Darstellung der subjektiven Wirklichkeit auf anderen Ebenen, mit anderen Mitteln als es im Alltag gewöhnlich ist. In diesem Sinne kann Kunst auch Heilungsprozess sein: Der Mensch erkennt sich selbst, wird mit sich selbst konfrontiert durch den künstlerischen Ausdruck. Aus der Perspektive eines Physikers ist wiederum die psychotherapeutische Biografie-Arbeit und wie wir dabei neue Perspektiven und Einstellungen zu unserer Kindheit gewinnen nichts anderes als eine Informationsmodulierung des Raum-Zeit-Kontinuums. Das menschliche Dasein beinhaltet eine unendliche Weite der Erfahrung und Zugänge der Erkenntnis. B. Methoden der emotionalen Ebene Auf der emotionalen Ebene arbeiten wir mit Emotionen durch Visualisierung, Imagination, Spüren und Fühlen. Die folgenden zwei Übungen („Vogelperspektive“ und „Emotionale Klärung“) fokussieren nur auf das emotionale Erleben und beziehen sich nicht explizit auf den körperlichen Ausdruck. Sie beinhalten aber Elemente der Wahrnehmung des körperlichen Erlebens (z. B. Anspannung oder Schmerz im Körper bei bestimmten intensiven Gefühlen). 72 2 | 2023 Krisztina Berger 1. Vogelperspektive Die Vogelperspektive ist eine Einstiegsübung der emotionalen Transformation für den Umgang mit alltäglichen belastenden oder irritierenden Situationen. Sie kann sowohl in einer Gruppe als auch einzeln durchgeführt werden. Die Situation relativiert sich durch die Distanz der Vogelperspektive, es entsteht ein neues Gefühl, und eventuell kann die Situation neu bewertet werden. Die Übung ist jedoch für schwere emotionale Verletzungen, dissoziative Vorgänge oder bei massiven Konflikten nicht geeignet. Die Distanz könnte die Dissoziation verstärken, und schwere Paarkonflikte könnten durch die Vogelperspektive nicht gelöst, aber evtl. beschönigt werden und dadurch zu Selbsttäuschung führen. Beispiel / Verlauf 1. Schritt: Einstieg, Situationssuche „Erinnern Sie sich an eine Situation aus den letzten Tagen oder aus dieser Woche, die Sie als belastend bezeichnen würden, die Sie als irritierend empfunden haben … Melden Sie sich bitte per Handzeichen, wenn Sie Ihr Beispiel gefunden haben.“ 2. Schritt: Rückführung in die Situation, Aktivierung der unangenehmen Gefühle (mit einer meditativen, ruhigen, leisen, tiefen Stimme geführt): „Schließen Sie bitte die Augen … Stellen Sie sich diese Situation ganz genau vor … Was hat sich abgespielt? … Wer war dabei? … Wie war das Gespräch? … Was haben Sie erfahren? … Was haben Sie empfunden? Wie war Ihr Gefühl in der Situation? … Stellen Sie sich ganz genau die Situation vor … und spüren Sie die Gefühle … fühlen Sie die Gefühle … Was wurde in Ihnen ausgelöst? “ 3. Schritt: Vogelperspektive, Veränderung der Gefühle (mit einer frischen, belebenden Stimme geführt) „Jetzt treten Sie aus der Situation heraus, heben Sie sich über diese Situation wie ein Vogel … Sie können ein Schwan, eine Möwe oder auch ein kleiner Spatz sein, welcher Vogel Ihnen sympathisch ist … Einerseits bleiben Sie in der Situation, gleichzeitig sehen Sie sich von außen, wie Sie sprechen und agieren … Betrachten Sie von außen, von oben erneut die Situation … Beobachten Sie, wie sich die Anfangsgefühl Wo sind Sie gestartet? Endgefühl Wo sind Sie gelandet? Gekränkt sein, dem anderen nicht wichtig sein Bei mir sein, dem anderen seine eigene Angelegenheit überlassen Wut Zufriedenheit Wut Erleichterung, Liebe Wut Freude Schuld Erleichterung Unsicherheit und Wut Empathie und Erleichterung Unsicherheit und Wut Entspannung und Erleichterung Ärger Ruhe Tab. 1: Beispiele für Veränderungen (Gruppensession am 12.11.2021) Emotionale Transformation 2 | 2023 73 Gefühle in Ihnen ändern … Spüren Sie erneut rein … Welches Gefühl löst dieser Blick von außen in Ihnen aus? … Spüren Sie … Schauen Sie auf die Situation von oben wie ein Vogel, und spüren Sie immer wieder aufs Neue … Langsam öffnen Sie Ihre Augen … Wir kehren in diesen Raum zurück … Spüren Sie einfach, was neu ist. Was hat sich in Ihnen verändert? Was war Ihr Anfangsgefühl? Wie hat sich das verändert? Welchen Unterschied merken Sie jetzt? “ Aus der Höhe werden die Sorgen kleiner, das Leiden erträglicher, die Ängste können verschwinden. Es kann Heiterkeit, Zuversicht auftauchen oder das Amüsante an der Situation entdeckt werden. Die Veränderung kann aber auch von einem unangenehmen zu einem anderen unangenehmen Gefühl wechseln, weil z. B. die Wut bis jetzt die Traurigkeit verdeckt hat. Das Wichtige ist, dass eine Veränderung passiert, dass in die Gefühlswelt eine Dynamik hereinkommt und die KlientInnen und PatientInnen nicht in einem unfruchtbaren Gefühl z. B. des Selbstmitleids stagnieren. Da wir-- in unserer Vorstellung zumindest-- nicht mehr aktiv an der Situation und deren Lösung beteiligt sind, werden wir eine Veränderung in unserer Gefühlswelt bemerken. Wir werden die ganze Angelegenheit anders beurteilen und somit auch unsere Reaktion und den Einfluss, den sie auf uns hatte. Die neue Betrachtungsweise, die Veränderung der Perspektive hilft uns, resilienter zu werden und unsere belastenden Gefühle in der Situation besser einzuschätzen und leichter loszulassen. Befinden wir uns das nächste Mal in genau dieser Situation, werden wir uns daran erinnern, was wir aus der Vogelperspektive empfunden haben. Wenn jedoch die Wurzel des unangenehmen Gefühls tiefer liegt und auch Kindheitserinnerungen oder Glaubenssätze damit verbunden sind, dann schaffen wir mit der Vogelperspektive nicht mehr, das Gefühl umzuwandeln. Dazu bedarf es einer stärkeren Methode: 2. Emotionale Klärung Diese Übung stammt von John Ruskan (emotional clearing, 2002), der ursprünglich ein Künstler in New York ist. Ich halte diese Übung für die Königsdisziplin im emotionalen Bereich. Die konsequente, tägliche Praxis dieser Übung ermöglicht eine emotionale Leichtigkeit und Klarheit. Die Übung eignet sich für die Auflösung von schwer belastenden Emotionen. Es lehrt die Menschen, sinnvoll zu leiden, sich ihren tiefsten Empfindungen zu stellen und von hier aus wahre, echte Freude und Kraft zu erzeugen. „Überlegen Sie sich eine Situation, die Sie schwer verletzt hat … Was haben Sie genau empfunden? Lassen Sie Raum für dieses Gefühl … Wohin führt Sie dieses Gefühl? “ Es kann sein, dass hinter der Wut eine große Enttäuschung steht. Dann lassen wir dieser Enttäuschung den inneren Raum und spüren diese Enttäuschung. Es kann sein, dass dahinter ein Ausgeliefertsein, eine Ohnmacht steht … usw. Das Wichtigste in der Durchführung ist, dass man immer dem aktuellen Gefühl den Raum gibt- - ohne Deutungen, Ursachensuche oder Assoziationen der mentalen Ebene. Es steht das pure Gefühl im Fokus. Aus diesem puren Erleben heraus fragen wir uns, wohin uns das führt, was dahintersteht. Es kann so tief führen, dass Selbstauflösungs- oder Selbstvernichtungsgefühle auftauchen oder man das Gefühl hat, niemand zu sein. Die Methode greift bis hin zu den Wurzeln, bis zum existentiellen Fundament. Die Praxis zeigt: Wenn man auf dieser Gefühlsspirale den tiefsten, schmerzhaftesten Punkt erreicht hat, kippt das Erleben in ein angenehmes Gefühl. Von alleine. Die Anwendung braucht Mut, Konsequenz und Ehrlichkeit zu sich selbst, so dass man alle Gefühlszustände, die zu der aktuellen „Gefühlsspirale“ gehören, anschauen, spüren, Raum lassen, erleben kann. Es ist, als ob eine lebendige Yin-Yang- Dynamik in uns programmiert wäre: Wo der größte Schmerz ist, da wird ein Tropfen Zuversicht und Leichtigkeit geboren, was dann wie- 74 2 | 2023 Krisztina Berger derum wächst und wächst in uns, bis es unser ganzes Wesen ausfüllt. Beispiel für die Anleitung „Schließen Sie bitte die Augen, und denken Sie an eine Situation oder an ein Erleben, das Sie schon lange beschäftigt, irritiert, schwermütig macht … Welches Gefühl taucht als Erstes auf? … (Klientin: Atemlosigkeit) … Spüren Sie diese Atemlosigkeit, geben Sie ihr Platz … Was kommt danach? Wohin führt Sie dieses Gefühl? … (Klientin: Stagnation, Hilflosigkeit) … Folgen Sie dem intensivsten Gefühl … (Klientin: Es ist die Hilflosigkeit.) … Spüren Sie nur dieses Gefühl, es gibt nichts anderes … auch wenn es schmerzhaft ist, bleiben Sie in Ihrer Hilflosigkeit … Wohin führt Sie das? Was empfinden Sie jetzt? … (Klientin: Schmerz.) … Wo ist dieser Schmerz? Wo wohnt dieser Schmerz in Ihrem Körper? … (Klientin: Es ist zentriert im Bauch.) … Spüren Sie diesen Schmerz dort … Lassen Sie dem Gefühl Platz, tauchen Sie in diesen Schmerz ein … Was fühlen Sie jetzt? Wohin hat Sie dieser Schmerz geführt? … (Klientin: Einsamkeit (die Klientin weint)) … Spüren Sie diese Einsamkeit … kein Kontakt zu der Welt, niemand weiß, dass Sie einsam sind, und niemanden interessiert, dass Sie einsam sind (ich verstärke damit die unangenehme Empfindung) … Sie sind ganz allein, auch mit diesem Gefühl sind Sie ganz allein … Diese Einsamkeit saugt Sie ein und hält Sie fest … (Weinen) … Wohin führt Sie diese Einsamkeit? … (Klientin: Dunkelheit) …- Wie ist diese Dunkelheit? Was fühlen Sie in dieser Dunkelheit? (Klientin: Kalt und feucht … aber auch Hitze.) … Was ist intensiver? Die Kälte oder die Hitze? (Klientin: Die Hitze) … Gut … dann stellen Sie sich in dieses Feuer hinein … (lautes Lachen, Husten, Aufatmen) … Halten Sie dieses Gefühl. Sie sind stark, halten Sie dieses Gefühl aus … Sie sind ein Behälter für dieses Gefühl, dieses Gefühl wird Sie nicht verzehren … Sie sind stärker als dieses Gefühl. Sie halten dieses Gefühl … (Weinen) … Wohin führt Sie das? … (lange Pause) … (Klientin: Es fühlt sich lebendig an … Es entspannt sich gerade … Huch) … Spüren Sie Ihre Lebendigkeit, vergrößern Sie das in Ihnen selbst … Lassen Sie die Lebendigkeit sich ausbreiten (Herzliches Auflachen) … Lassen Sie die Lebendigkeit sich ausbreiten, von dem Epizentrum des Entstehens bis zu den Fingerspitzen, bis zum Kopf (ich verstärke jetzt die angenehme Empfindung) … (Lachen und Tränen) … Ist es überall angekommen? (Klientin: Ja (mit erleichterter Stimme)) … Was fühlen Sie jetzt? (Klientin: Jetzt kommt ganz viel Licht (sie lacht weiter)). … Gut, jetzt öffnen Sie Ihre Augen und seien Sie hier im Raum. Atmen Sie durch, seien Sie im Kontakt, seien Sie hier, und bleiben Sie im Kontakt mit der Lebendigkeit und dem Licht. (Glückliches Gesicht. Die Klientin atmet tief mit offenen Augen.) … Was fühlen Sie jetzt? (Klientin: Och, noch nicht ganz wieder da.) … Erden Sie dieses Gefühl. Es ist wahr, es ist echt. Atmen Sie bewusst, spüren Sie den Kontakt zu dem Stuhl, auf dem Sie sitzen … Lassen Sie das Gefühl sich in eine ruhige Sicherheit verwandeln … (Klientin: Danke schön! Das ist so toll! ! (glückliche, euphorische Stimme)).“ Bei der Anwendung der Methode „Emotionale Klärung“ haben sich in meiner Praxis mehrere hilfreiche Erkenntnisse herausgestellt: ● Die „Gefühlsspirale“ ist ab einem bestimmten Punkt abgekoppelt von dem Auslöser- Ereignis und bringt uns zu Wurzeln, auch zu den emotionalen Mustern der Kindheit, warum wir im Moment noch so reagieren. Die aktuellen Lebensereignisse sind in diesem Fall irrelevant. Es zählt nur, was das mit uns macht und welches, auch verschüttetes Erleben es aktiviert. Hier bekommen wir die Möglichkeit, diese zu verändern. So leidet man nicht stunden- oder tagelang, sondern man geht zu der Wurzel des Leidens und transformiert sie effektiv in Leichtigkeit, Lebendigkeit oder Kraft. Emotionale Transformation 2 | 2023 75 ● Wenn mehrere Gefühle auf einer Vertiefungsebene auftauchen, dann folgen wir dem intensivsten Gefühl. Es kann gut passieren, dass die Nebengefühle sich im Laufe der Durchführung von alleine lösen. Man muss nicht in jede Nebenspirale hineingehen. ● Es kann aber auch passieren, dass auf einmal so viele, intensive Gefühle auftauchen, dass wir nicht mehr wissen, was wir lösen sollen. In diesem Fall lösen wir zuerst das „Metagefühl“ der Verwirrung und Überforderung, erst danach die einzelnen „Teilgefühle“. ● Falls nach der gelungenen Gefühlsspirale doch noch Restgefühle bleiben, arbeiten wir sie in einer nächsten Emotionale-Klärungsspirale auf. ● Wie tief man in sich selbst eintauchen kann, so hoch kann man sich selbst auch heben. Unsere innere Amplitude bestimmt wiederum, wohin wir unsere KlientInnen und PatientInnen begleiten können. Auch deshalb lohnt es, sich länger mit dieser Methode auseinanderzusetzen. ● Wenn wir nicht zu dem tiefsten Gefühl heruntersteigen können, dann bleiben wir in einem bestimmten Gefühl hängen und generieren und wiederholen die dazugehörigen Gedankenkreise immer wieder neu (Abb. 1). Das passiert auch im Alltag, daher lassen uns bestimmte Ereignisse nicht in Ruhe. Genauso kann auch ein „Emotional Looping“ stattfinden. Es wiederholen sich dann z. B. die ersten vier Gefühle. Deshalb müssen wir in der Anwendung, wenn der Klient oder Patient bestimmte Gefühle wiederholt, darauf achten, ob sich dabei die Qualität der Wut verändert hat oder gerade ein „Emotional Looping“ einsetzt. ● Der tatsächliche Grund für das Stehenbleiben in der Spirale ist das nächste Gefühl, welches so intensiv und bedrohlich ist, dass wir es nicht fühlen können oder möchten. Diese habe ich „Tresorgefühle“ genannt. Sie sind die Sackgassen dieser Methode. Abb. 1: Gedankenkreise vs. emotionale Kreise 76 2 | 2023 Krisztina Berger In diesem Fall ist es sinnvoll, die Bearbeitungsebene zu wechseln. Wir müssen die primär emotionale Ebene verlassen. Es stehen uns als Wege die mentale oder die körperliche Ebene oder das Unterbewusstsein offen. Die mentale Ebene macht keinen Sinn, da tiefsitzende Gefühle mit Denken nicht lösbar sind. Die Analysen wären überflüssig und würden nur die Abwehrreaktion des Rationalisierens aktivieren. Vielmehr ist es sinnvoll, in die körperliche Ebene der Bearbeitung zu wechseln: C. Methoden der körperlichen Ebene Hier steht uns ein großes Spektrum an Übungen und Interventionen zur Verfügung. In meiner Auswahl liegt der Schwerpunkt auf Atemübungen, da sie jederzeit und zu jeder Situation für unsere PatientInnen und KlientInnen anwendbar sind. Die Atemarbeit hat eine mehr als 80-jährige Tradition in der Körperpsychotherapie, und es gibt eine unendliche Vielzahl von Atemübungen, die anwendbar sind (Reich 1933 / 1989 ; Marlock/ Weiss 2006 ; Geuter 2019 ). Die Veränderung des Atems ist auch ein wichtiges Indiz, dass wir aus der Balance geraten sind: Wenn sich unsere Atmung ändert, dann sind wir im Stress oder in einem gereizten, verschärften emotionalen Zustand, und an dieser Stelle können die folgenden Übungen eingesetzt werden. 1. Spannungslösung durch Atem Selbstbeobachtung: Wenn wir uns in intensiven, unangenehmen Gefühlen befinden, beobachten wir die körperliche Empfindung dieser Gefühle. Wo zieht sich etwas in uns zusammen, wo entsteht Überspannung? Wenn der Bereich lokalisiert ist, atmen wir tief hier hinein. Es reichen drei bis vier tiefe Atemzüge, und der Bereich entspannt sich. Damit lösen sich teilweise oder gänzlich auch die unangenehmen Gefühle. An dieser Stelle geht es nicht darum, das Gefühl objektbezogen zu richten (z. B. „Wer ist schuld an meinem Gefühl? “), sondern um die Empfindung und Auflösung der unangenehmen Qualität (siehe auch Harari 2018, 268-270). 2. Anker der Sicherheit Die Atemräume werden in einem ruhigen Moment unterschieden. Dabei beachten wir drei Atemräume: unten (Bauch)- - Mitte (Solarplexus, untere Rippen)-- oben (Herz / Lunge). Wir atmen ruhig in die unterschiedlichen Atemräume und beobachten, welche Qualität sie für uns haben. Welcher Atemraum vermittelt für uns z. B. Sicherheit, Stabilität oder Leichtigkeit? Auf diesen Atemraum und auf diese Qualität können wir dann in den Momenten hoher emotionaler Intensität zurückgreifen und für uns Entspannung schaffen. 3. Atmen bis zum Platzen Die Übung gibt akute Hilfe bei emotionaler Überforderung: tiefes Einatmen, Lungenatmung bis hin zum Gefühl des „Platzens“, danach Stoßatmung. Mindestens dreimal wiederholen. Die Luft nicht drin halten, sonst kann es zur Hyperventilation kommen, sondern in kontinuierlichem Atemfluss bleiben. Mindestens dreimal wiederholen. 4. Tennisball-Übung Die Übung hilft bei der emotionalen Ventilierung von tiefsitzenden Verletzungen und Schmerzen, deshalb eignet sie sich sehr gut als Fortsetzung von der Übung „Emotionale Klärung“, falls wir bei einem „Tresorgefühl“ stehengeblieben sind. Wir begeben uns in die Bauchlage und finden unter uns mit dem Tennisball am Brustbein den schmerzhaftesten Punkt. Wir entspannen unsere Muskulatur und lassen unser ganzes Gewicht sich auf den Tennisball senken. Damit intensiviert sich das Schmerzgefühl. Wir atmen jetzt durch die Nase bis in den unteren Bauchraum hinein und vertonen unseren ganzen Schmerz durch den Mund. Die Emotionale Transformation 2 | 2023 77 Schultern liegen locker am Boden. Je stärker der Ball drückt, umso stärker soll die Atmung sein. Je stärker der Schmerz ist, umso intensiver müssen wir ihn vertonen. Diese Atmung führen wir vier Minuten lang aus. Zum Schluss, beim letzten Ausatmen, halten wir die Luft außen und entspannen uns auf dem Ball. Dann kommen wir in die Rückenlage und ruhen uns aus. Hier ist ein Unterschied zwischen dem physiologischen und dem psychischen Schmerz zu beobachten: Im Laufe der Übung schwindet der psychische Schmerz, und es bleibt nur ein zu vernachlässigender physiologischer Schmerz übrig. Der Überdruck funktioniert als Ventil, die Atmung wiederum löst die Spannung aus dem Körper heraus, die bis jetzt festgehalten wurde. Die Übung können wir mehrere Monate lang täglich ausführen. Es löst tiefsitzende Schmerzen im Bereich der Selbstliebe und des Angenommenseins. In Folge dessen kann sich die Beziehung zu den Eltern entspannen und verbessern. Gute Erfahrungen konnte ich auch mit einem Patienten mit Angststörung sammeln. Wenn er Panikattacken hatte, zog sich sein Solarplexus schmerzhaft zusammen und war so hart wie ein Stein. Der Tennisball wanderte in diesem Fall unter den Solarplexus, und das Vertonen bis hin zum Schreien brachte die notwendige Entspannung. Angenehme Gefühle verankern Bis jetzt wurde als wesentlicher Teil der emotionalen Bearbeitung ausführlich beschrieben, wie wir unangenehme Gefühle transformieren können. Im nächsten Schritt stellt sich die Aufgabe, die angenehmen Gefühle langfristig zu verankern. Zwei Übungen, die „Dankbarkeit“ und „Warum bin ich glücklich? “, wurden in Berger (2021, 78-79) beschrieben. In der Ausrichtung unseres Gefühlslebens ist es wichtig, sich der eigenen Gefühle bewusst zu sein: Was fühle ich jetzt, und was möchte ich in Zukunft, in den nächsten Tagen, in den nächsten Gesprächen, sei es mit dem Vorgesetzten, mit der Kollegin oder dem Lebenspartner, empfinden? Gelassenheit, Sicherheit, brodelnde Wut oder verengende Angst? Hier beginnt man, GestalterIn und RegisseurIn des eigenen Lebens zu sein. Die Situationen, in denen wir uns wiederfinden, die Menschen, mit denen wir beruflich in Kontakt sein müssen, können wir oft nicht ändern. Unsere eigenen Gefühle und Einstellungen können wir jedoch maßgeblich beeinflussen. „Planen Sie und visualisieren Sie ein ‚emotionales Drehbuch‘ des Tages, der Woche oder des Monats: Wie möchten Sie sich fühlen in dem nächsten Gespräch, in der nächsten (therapeutischen) Sitzung, gar auch in der Mitte eines alltäglichen Arbeitstages? Stellen Sie sich die Situation vor, und erschaffen Sie hierzu Ihre Gefühlswelt.“ Der Vorteil dieser Methode ist, dass wir, falls wir im Visualisieren hängenbleiben und unangenehme Gefühle wie z. B. Zweifel auftauchen, „Emotionale Klärung“ einsetzen können und dadurch emotional gewappnet sind, wenn wir am nächsten Tag doch auf Widerstand stoßen. Die unangenehmen Gefühle haben wir schon am Vortag transformiert und uns ein angenehmes Gefühlskontinuum der Gelassenheit, Leichtigkeit und Großzügigkeit vorbereitet, worauf wir in der Stresssituation zurückgreifen können. Disziplin und Charakterformung Die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, beginnt damit, dass wir Verantwortung für unsere eigenen Gefühle übernehmen. Die Transformation der Gefühle braucht wiederum neben der beschriebenen Methodik auch Ausdauer und Disziplin, sogar Opfer, ein 78 2 | 2023 Krisztina Berger regelmäßiges Opfer, mit dem wir unsere Neigung zu Faulheit, schlechter Laune, zu Projektionen, Ängsten usw. bekämpfen. Das steht zurzeit in keinem Buch, weil es für unsere schnelle Zeit eine unangenehme Wahrheit ist. Ohne viel Arbeit kann man jedoch nichts realisieren. Durch die Übung wird das Gute (wie Optimismus, Gelassenheit, Zuversicht …) zur Gewohnheit. Es fügt sich in unser Leben ein, in unser Wesen, es wird zum Charakterzug. An diesem Punkt lohnt es sich, ein wenig innezuhalten und nach innen zu schauen: Habe ich eine Vision von mir selbst? Zu was für einem Menschen möchte ich mich formen? So gestalten wir selbst unsere Persönlichkeit, damit wir voller Freude und mit mehr Gelassenheit unseren Alltag bestreiten und unseren Lebenssinn tatkräftig umsetzen können. Literatur Berger, K. (2021): Leitfaden für ein erfülltes Alleinsein. körper-- tanz-- bewegung 9 (2), 73-81, https: / / doi.org/ 10.2378/ ktb2021.art11d Geuter, U. (2019): Praxis Körperpsychotherapie. 10 Prinzipien der Arbeit im therapeutischen Prozess. Springer, Berlin / Heidelberg, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-662-56596-4 Harari, Y. N. (2018): 21 lecke a 21. századra (21 Lektionen für das 21. Jahrhundert). Animus, Budapest, https: / / doi.org/ 10.17104/ 9783406727795 Heisterkamp, G. (2002): Basales Verstehen. Handlungsdialoge in der Psychotherapie. Pfeiffer, Stuttgart Marlock, G., Weiss, H. (2006): Handbuch der Körperpsychotherapie. Schattauer, Stuttgart Müller, P. (2018): Varázskő (Zauberstein). Rivaldafény, Budapest Reich, W. (1933 / 1989): Charakteranalyse. Kiepenheuer & Witsch, Köln Ruskan, J. (2002): Emotionale Klärung. Wilhelm Goldmann Verlag, München Dr. Krisztina Berger Prom. Physikerin (Dr. rer. nat.), prom. Pädagogin (PhD), Tanztherapeutin/ Ausbilderin/ Lehrtherapeutin BTD, HP Psychotherapie, Dozentin HWR Berlin und SRH Hochschule Heidelberg. Seit 2008 eigene Praxis für emotionale Bearbeitung, Affektive Störungen, EQ in der Führung, Stressreduktion, Krisenintervention. Entwicklerin und Ausbilderin der Methode „Embodied Mind Coaching“. ✉ Dr. Krisztina Berger Practice for Integrity and Flow Alt-Moabit 134 | D-10557 Berlin krisztina@krisztina-berger.com www.krisztina-berger.com