eJournals körper tanz bewegung 11/3

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2023.art14d
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Fachbeitrag: Einbrüche - Ausbrüche

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Christine Pechtl
KörperpsychotherapeutInnen und körperorientierte BeraterInnen sind zunehmend mit der Wahrnehmung von Instabilität von KlientInnen konfrontiert. Der folgende Artikel versucht, die Arbeit als Bioenergetische Analytikerin mit den gesellschaftlichen Veränderungen in Beziehung zu setzen. Ebenso wird eine Integration neuerer psychotherapeutischer Erkenntnisse, insbesondere seitens der Säuglingsforschung, der Entwicklung der Mentalisierung und damit des Strukturniveaus in das klassische Konzept der Charakterstrukturen angeboten. Ausgehend von einer intersubjektiven Verfasstheit von Psyche und Körper wird von einer Intersubjektivität der therapeutischen Beziehung ausgegangen.
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Fachbeitrag 94 körper-- tanz-- bewegung 11. Jg., S. 94-106 (2023) DOI 10.2378/ ktb2023.art14d © Ernst Reinhardt Verlag Einbrüche-- Ausbrüche Aktuelle Überlegungen zum Konzept der Charakterstrukturen Christine Pechtl KörperpsychotherapeutInnen und körperorientierte BeraterInnen sind zunehmend mit der Wahrnehmung von Instabilität von KlientInnen konfrontiert. Der folgende Artikel versucht, die Arbeit als Bioenergetische Analytikerin mit den gesellschaftlichen Veränderungen in Beziehung zu setzen. Ebenso wird eine Integration neuerer psychotherapeutischer Erkenntnisse, insbesondere seitens der Säuglingsforschung, der Entwicklung der Mentalisierung und damit des Strukturniveaus in das klassische Konzept der Charakterstrukturen angeboten. Ausgehend von einer intersubjektiven Verfasstheit von Psyche und Körper wird von einer Intersubjektivität der therapeutischen Beziehung ausgegangen. Schlüsselbegriffe Charakterstrukturen, funktionale Identität, gesellschaftliche Veränderungen, Säuglingsforschung, Mentalisierung, Strukturniveau, Intersubjektivität Break-ins-- Break-outs. Current Reflections on the Concept of Character Structures Body-psychotherapists and body-oriented counselors are increasingly confronted with the recognition of instability of clients. This article aims to relate the work as a bioenergetic analyst to the societal changes. Likewise, an integration of new psychotherapeutic findings is presented, especially on the part of infant research, the development of mentalization and thus of structural levels for the classical concept of character structures. Based upon an understanding of the intersubjective constitution of psyche and body, intersubjectivity of the therapeutic relationship is assumed. Key words character structures, functional identity, societal changes, infant research, mentalization, structural level, intersubjectivity K lientInnen die von Emotionsdurchbrüchen berichten oder nach einem Burnout ganz neu beginnen müssen, Organisationen, die in eine Krise geraten, weil stabile Teams kaum mehr zu halten sind oder massive Konflikte immer wieder hochkochen- - zuletzt z. B. im Umgang mit Covid19-- das sind die Themen, die vermehrt an mich als Bioenergetische Analytikerin, sei es in der Psychotherapie, in der Supervision oder der Teamentwicklung, herangetragen werden. Jede dritte Ehe wird geschieden, die durchschnittliche Verweildauer eines/ einer ArbeitnehmerIn an einer Stelle betrug 2019 in Deutschland 10 Jahre, Tendenz fallend, die Burnout-Fälle in Deutschland haben sich seit 2009 verdoppelt (alle Statistiken aus Statista 2023). Andererseits gibt es auch ermutigende Tendenzen im Sinne von Aufbrüchen-- Aktuelle Überlegungen zum Konzept der Charakterstrukturen 95 3 | 2023 eine größere Politisierung, z. B. in der Klimafrage (Fridays for Future, Extincion Rebellion …) oder die Verflüssigung gesellschaftlicher Kategorien wie Klasse, Rasse und Geschlecht (Me Too, Black Lives Matter…). Hier könnte man durchaus auch von Aus- und Aufbrüchen sprechen, die Möglichkeiten von Personen und Gruppen vergrößern, aber doch auch einige in Angst um angestammte Privilegien oder ihre eigene Sicherheit in ihrer Identität bringen (konservativer Backlash in vielen Ländern, Abtreibungsdebatten, Incels …). Die Themen, die unsere PatientInnen, KlientInnen und KundInnen mitbringen, haben sich gewandelt. Hat das zur Folge, dass sich auch unsere Art zu arbeiten verändert? Charakterstrukturen und gesellschaftlicher Wandel 1933 sprach Wilhelm Reich (1989) als erster von Charakter im Zusammenhang auch mit körperlichen Ausdrucksformen und der Funktionalen Identität, der Einheit von körperlichen und psychischen Vorgängen- - da Abwehr, dort Abwehr, da Verspannung, dort Verspannung. In den 1960er und 1970er Jahren beschrieb Alexander Lowen (Lowen 1987, 1999) die Charakterstrukturen als fünf klar umrissene Überlebens- und Abwehrmodelle in Verbindung mit körperlichen Haltungs-, Atem-, und Verspannungsmustern. Das Charakterstrukturenmodell gehört zu den wesentlichen, identitätsstiftenden und handlungsleitenden Theoriegebäuden der Bioenergetischen Analyse. Alexander Lowen beschrieb fünf Charakterstrukturen (schizoid (Abkürzung weiter unten S), oral (O), psychopatisch (P), masochistisch (M) und rigid (R)), in denen er frühkindliche Entwicklungsbedingungen, innere Konflikt- und Verarbeitungsmuster, Atmung, Muskelanspannung und allgemeinen körperlichen Ausdruck in Verbindung brachte (Lowen 1999; siehe auch Pechtl/ Angerer 2019). „Wenn Lowen in diesem Zusammenhang von spezifischen inneren Konflikten der jeweiligen Charakterstruktur spricht, so zielt er damit im Wesentlichen auf die Frage ab, wie die ursprünglich konflikthafte und pathologisierende Erfahrung internalisiert und um den Preis eingeschränkter Selbstentfaltung verkörpert und aufrechterhalten wird.“ (Marlock 2007, 69) Aus der Sicht von Lowen und der Bioenerge- Denkorientiert/ S Bedürfnisorientiert/ O Kontrollorientiert/ P Belastungsorientiert/ M Leistungsorientiert/ R Grundangst Vernichtet werden Wieder verlassen werden Wieder manipuliert und verführt werden Wieder gedemütigt werden Wieder verraten / verletzt werden Körperliche Grundmuster Zusammenreißen, Zusammenhalten An sich halten, sich an anderen anhalten Sich hoch-, darüber- und aufrecht halten In sich halten, drinnen halten, aushalten Sich (Herz und Liebe) zurückhalten Entstehungszeitraum 25. SW bis 3. LM Geburt bis 18.-LM 9. LM bis 2. LJ 15. LM bis 4. LJ Ab 18. LM Entwicklungsthema in Beziehung Abstimmung von Atmung, Herzschlag u. Bewegung Versorgung, Nähe, Berührung Bezogenheit in der Autonomie Eigenständigkeit Triangulierung Abb. 1: Charakterstrukturen mit Abkürzungen nach Lowen und ihre weniger pathologische Benennung nach Dietrich (2004) 96 Christine Pechtl 3 | 2023 tischen Analyse lassen sich aufgrund der sicht- und erlebbaren Muster sowohl Rückschlüsse auf innere Verarbeitungs- und Beziehungsmuster ziehen als auch Ansatzpunkte in der körperorientierten Behandlung. „Da der Körper seine eigene Festung ist, muss der Mensch auch feststellen und annehmen, dass nur über und durch den Körper eine wesentliche Veränderung der Struktur möglich ist.“ (Lowen 2007, 218) Charakterstrukturen beschreiben also stabile, überdauernde, zumeist ich-syntone Haltungen und Überlebensmuster auf neurotischem Niveau. Aktuelle Krankheitsbilder, wie z. B. Borderline-Persönlichkeitsstörungen, und subjektive Beschreibungen der KlientInnen bewegen sich aber immer weniger auf diesem Niveau. Die in der psychodynamischen Diagnostik etablierte Ebene des Strukturniveaus (OPD-2) konnte bisher mit dem Konzept der Charakterstrukturen nicht in Verbindung gebracht werden. Es suchen Menschen und Organisationen Hilfe, die nicht mehr wie früher aus ihren Begrenzungen ausbrechen möchten (Fallbeschreibungen von Lowen), sondern am Verlust der Sicherheit ihrer Abwehr leiden. Theoriemodelle, mit denen wir arbeiten, entstehen immer auch im Kontext ihrer Umgebung und drücken Denk(un)mögliches der aktuellen gesellschaftlichen Situation aus. Nach mit Veränderungen verbundener Unsicherheit kann es zu einem Paradigmenwechsel kommen. In diesem Artikel möchte ich der Frage nachgehen, ob das Konzept der Charakterstrukturen noch das tun kann, was eine gute Theorie tun sollte (Lewin 1982): ● Erklärungen für Phänomene liefen, die uns begegnen (Diagnose) ● Sich in Bezug setzen zum Stand der Wissenschaft ● Handlungsanleitungen für unsere Arbeit bieten Gesellschaftliche Veränderungen Reich lebte in einer Zeit der strengen bürgerlichen Moral mit klaren Erwartungen an den Menschen und mit einer sehr restriktiven Sexualmoral. Lebensverläufe waren durch das Hineingeborenwerden in Familien vorgezeichnet, das Geschlecht bedingte Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, noch viel mehr als das heute der Fall ist. Biographische Ausbrüche, aber auch ganz konkret emotionale Ausbrüche und damit das Austragen von Konflikten waren kaum denkbar. Das führte eher zu inneren Konflikten, der Ausdruck- - gar ein Durchbruch-- waren verboten, Konflikte mussten innerlich reguliert werden. Genau das beschreibt Reich als neurotische Abwehrvorgänge unter Beteiligung des Körpers mit dem Begriff Charakterpanzer. Er meint damit eine Abwehr unangenehmer konflikthafter Impulse (oder um mit Freud zu sprechen Triebe) durch muskuläre Anspannung (Büntig 2007, 41 ff ). Lowens Vorstellung von Charakterstruktur bewegte sich, ganz im Zeitgeist des Auf- und Ausbruchs der 1968er, rund um Einschränkung des Ausdrucks und der persönlichen Freiheit durch gesellschaftliche Konvention (durch die Eltern) und deren Befreiung durch Katharsis. In den 1960er Jahren wurden gesellschaftliche Konventionen hinterfragt, es erfolgte eine Liberalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft. Hierarchien wurden in Frage gestellt. Lowen bringt die Entstehung der Charakterstrukturen auch mit der Einschränkung von Freiheit und kindlichen Grundbedürfnissen durch die Eltern in Zusammenhang (Lowen 1999, 169 ff ). Gesamtgesellschaftlich ist inzwischen einiges an Sicherheit und Orientierung verloren gegangen, Biographien und Beziehungen sind brüchiger geworden, Stress entsteht weniger durch konstanten Anpassungsdruck, sondern durch Beschleunigung des Lebenstempos, multiple, sich teilweise widersprechende Anforderungen und die Notwendigkeit zur Selbst- Aktuelle Überlegungen zum Konzept der Charakterstrukturen 97 3 | 2023 inszenierung als einzigartiges Wesen. Stress entsteht also weniger im Umgang mit innerer Anpassung und ungelebten Wünschen, sondern eher durch Außenanforderung und der Anpassung an äußere Notwendigkeiten der Selbstinszenierung. Kenneth Gergen (1991) beschreibt dies als „Fragmentierung des Subjekts“, Heiner Keupp (1999) als „Patchworkidentität“. „Als postmodern erscheint das Gegenwartssubjekt hier insofern, als es sich-- im Unterschied zum zentrierten Subjekt der bürgerlichen und der organisierten Moderne- - aus einer Multiplizität unterschiedlicher Teilidentitäten zusammensetzt, die nicht mehr in ein kohärentes Selbst eingefügt werden müssen.“ (Reckwitz / Rosa 2021, 155 f ) Verkörperung von Entwicklungen braucht Zeit, zu schnelle Veränderungen kann der Mensch immer schwerer innerlich absichern. Es ergeben sich aber auch neue Möglichkeiten des Ausbruchs aus vorgegebenen Mustern- - Chance und Herausforderung zugleich. Gesellschaftliche Institutionen können ihren Auftrag, uns Halt und Sicherheit zu geben, immer weniger erfüllen. Wir arbeiten nicht mehr lebenslang in einem Unternehmen, an den gleichen Orten und Lebenszusammenhängen, sondern sind gefordert, uns auf immer neue Anforderungen einzustellen bzw. ihnen sogar proaktiv zu begegnen. (Paar-)Beziehungen halten oft nicht mehr lebenslang, wir haben wechselnde Kontakte und immer neue Rollen, was unsere Identität beeinflusst und verändert. Einmal geschaffene Sicherheiten bleiben nicht bestehen, unsere Identität ist eine Dauerbaustelle geworden. So befreiend diese Entwicklungen individuell erlebt werden können, so sehr erleben wir sie auch als teilweise massive Angriffe auf unsere psychische Stabilität (Ehrenberg 2015). Die Folgen von Freiheit, Veränderung und damit verbundener Verunsicherung, Angst und Stress finden ihren Weg in die Beratungspraxis. Erkenntnisse der Säuglingsforschung Die Erkenntnisse aus der Säuglingsforschung erscheinen für eine neue Konzeption der Charakterstruktur wesentlich. Sie ermöglichte den Forschenden damals erstmals eine direkte Beobachtung der Entwicklung von Säuglingen im Kontakt mit ihren primären Bezugspersonen statt der Rekonstruktion mittels Krankengeschichten. Das hat die Sicht auf die menschliche Entwicklung verändert. Ganz wichtig: Entgegen der früher angenommenen Passivität von Säuglingen durch die frühen Psychoanalytiker sind wir als Menschen von Beginn an an Beziehung interessiert und in der Lage, diese auch zu gestalten (Dornes 1993). Wenn wir Säuglinge und ihre Bezugspersonen beobachten, sehen wir Bewegungen des Körpers, ein Hin- und Abwenden, Augenkontakt, Lächeln und andere emotionale Ausdrücke. Ein Wechsel von muskulärer An- und Entspannung ist schon in den ersten Kontakten mit unseren Bezugspersonen möglich und notwendig. Atemrhythmen und sogar der Herzrhythmus werden unbemerkt synchronisiert (Downing 2007). Zwischen Bezugsperson und Kind entwickelt sich ein Tanz, ein gemeinsames, anregendes, idealerweise lustvolles Kontaktspiel. Körperliche Mikropraktiken, so nennt George Downing (2007) diese basalen Bewegungs- und Haltemuster, sind das Ergebnis von Abstimmungsprozessen in Beziehung, die lebenslang handlungsleitend bleiben, und sie sind die Basis für die Herausbildung der Charakterstrukturen. Wir lernen in diesen frühen Beziehungen auch, und zwar ganz körperlich, wie man einen affektiven Zustand erhält, intensiviert oder unterdrückt, und bilden eine Erwartungshaltung aus, wie das Leben und unsere Umwelt mit uns umgehen. In späteren Entwicklungsphasen entwickeln sich Strategien rund um Autonomie, Abgrenzung und Wiederannäherung (Aufstehen, Gehen, Weggehen, Nein sagen, wieder Zurückkommen) 98 Christine Pechtl 3 | 2023 sowie Strategien zur Kooperation und Kontrolle, zum Umgang mit Triangulierungsprozessen und noch später solche, die als Nuancen innerhalb der kulturellen Untergruppe entstehen und sozial normativ sind (wie verhalte ich mich mit der Peergroup, wenn ich jemanden attraktiv finde, wenn ich attraktiv gefunden werde, bei Übergriffen, mit Leistungsanforderungen). Sogar unser Gehirn und die neuronalen Verbindungen sind von diesen Erfahrungen mitbestimmt (Damasio 2013). Wesentliches Wissen über uns und die Welt ist also schon da, wenn sich unsere kognitiven Fähigkeiten, die Fähigkeit zur Symbol- und Phantasiebildung, zu entwickeln beginnen, und bleibt als prozedurales Wissen lebenslang erhalten. Downing (2007) nennt es wissen, wie, statt wissen, was. Marianne Bentzen schreibt dazu: „Zieht man jedoch die neurologische Reifung und die interpersonelle Interaktion mit in Betracht, erscheint klar, dass das Kind gegen Ende seines 2. Lebensjahres alle grundlegenden affektiven Komponenten der traditionellen fünf Phasen der Charakterentwicklung erworben hat. Das bedeutet nicht, dass die Persönlichkeit im Alter von 2 Jahren völlig ausgebildet ist. Vielmehr wird der Prozess ihrer Reifung und Differenzierung fortgesetzt, solange neue kortikale und somatische Möglichkeiten entstehen. Ab dem Alter von 2 Jahren entsteht eine linkshemisphärische verbale Identität, die mit der Entwicklung der Sprache und der Differenzierung der Kognition und der motorischen Fähigkeiten einhergeht.“ (Bentzen 2007, 326) Die charakterstrukturellen Erfahrungen sind also bereits mit knapp 3 Jahren im Wesentlichen durchlaufen, unsere Bindungsmuster etabliert, jetzt entwickelt sich dazu sozusagen ein Überbau. Der Prozess wird inzwischen häufig als Mentalisierung (Fonagy et al. 2013) bezeichnet. Was passiert also? Die ersten, noch sehr körpernahen, frühkindlichen Erfahrungen werden von den Bezugspersonen wahrgenommen, beantwortet und gespiegelt, indem sie ebenfalls zum Beispiel lächeln, aber überzeichnet. Das Kind versteht zunehmend, dass das Handeln von anderen-- und unser eigenes-- Intention hat und mit ihrer / unserer psychischen Verfasstheit zusammenhängt. Und diese Verfasstheit der frühen Bezugspersonen hat Folgen. Unsere ersten Bezugspersonen können unser Verhalten wahrnehmen und bewerten oder übersehen. Darüber lernen wir, was in unserer Umwelt möglich ist. Ihr Verhalten zu uns und unsere Versuche, damit umzugehen, bewirken einen emotionalen und kognitiven Überbau der basalen körperlichen Erfahrungen. Wir entwickeln die den Charakterstrukturen zugehörigen Haltungen und Überzeugungen. Gleichzeitig bildet sich auch der „psychische Apparat“ (um einen klassisch tiefenpsychologischen Begriff dafür zu verwenden), der unsere Möglichkeiten der psychischen Informationsverarbeitung bestimmt. Wir bilden vertraute Muster ab, die die Muster in unserer Informationsverarbeitung bedingen und unsere Reaktionen auf Neues vorstrukturieren. Im Als-ob-Modus (Phantasie ist Realität) und dem Spielen mit der Realität, z. B. in Rollenspielen, können wir üben, einen Umgang damit finden und neue Erfahrungen machen (Streeck-Fischer 2014, 181 ff ). Inkongruenz oder das Überstülpen eigener Emotionen, der Missbrauch für eigene Bedürfnisse durch die Bezugspersonen, Gewalt oder auch Deprivation und unplanbare Reaktionen führen zu einer Brüchigkeit der eigenen Identität und zu verminderter Mentalisierungsfähigkeit, zu geringerem Wissen über uns selbst, den anderen und die Beziehung zwischen uns. Es entstehen strukturelle Mängel, die über geringe Erregbarkeit oder emotionale Durchbrüche, mangelnde Stresstoleranz, Konflikte in Beziehungen statt innerpsychischen und Beziehungsabbrüche sichtbar werden (Kernberg 2006, 59 ff ). Was hier passiert, geht weit über simples Lernen hinaus: Über die beschriebenen Erfahrungen bilden sich unsere physischen, psychischen, kognitiven Strukturen, die Aktuelle Überlegungen zum Konzept der Charakterstrukturen 99 3 | 2023 wiederum unsere Wahrnehmung vorstrukturieren. Unsere innere Stabilität ist nichts dauerhaft Verlässliches, sie kann sich vermindern, wenn Stress und Überlastung zu groß werden, aber auch verbessern, wenn neue Fähigkeiten entwickelt werden. Charakterstrukturen sind mit diesem Blickwinkel nicht mehr nur das Produkt innerer neurotischer Abwehrvorgänge und Konflikte, sondern auch Ausdruck früh erlebter Beziehungsmuster und ihrer Internalisierung. Zu den Trieben im klassisch psychoanalytischen Sinn und damit zur Sexualität als wesentliches Grundbedürfnis kommen Bindung und Kontakt und deren Aufrechterhaltung (Pechtl/ Trotz 2019, 43 ff ). Veränderte Beziehungen Die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern haben sich seit Reich, aber auch Lowen, verändert. Kindern wurden zunehmend Rechte zugestanden. Erziehungsverhalten richtet sich nach dem individuellen Kind und folgt weniger vorgegebenen Normen. In der Sauberkeitserziehung werden Kinder zum Beispiel nicht mehr bereits als Einjährige auf den Topf gesetzt, sondern Eltern warten eher, bis die Kinder selbst motiviert sind, die Windel wegzulassen. Hierarchien zwischen Eltern und Kindern verschwinden, Auseinandersetzung ist möglich. Waren früher Einschränkung und konstanter Druck im Vordergrund, so geht es aktuell um das Unterstützen von Potentialen, deren Entfaltung den Selbstwert der Eltern stärkt. In extremer Ausprägung kommt es zur narzisstischen Aufwertung der Eltern durch das perfekte Kind (Daly 2017). Diese Veränderung und die oben beschriebenen Erkenntnisse zur Entwicklung der Identität haben auch Auswirkungen auf die therapeutische / beraterische Beziehung. Der allwissende, abstinente Analytiker (absichtlich nicht gegendert), der unangreifbar und hierarchisch übergeordnet weiß, was gut für mich ist, ist Geschichte. Beziehungen bewegen sich auf Augenhöhe- - oder zumindest ist das ein therapeutisches / beraterisches Ziel. Wir als Beratende / Begleitende sind hinterfragbarer. Wenn Beziehung immer beide Beteiligten verändert, ist eine einseitige Festlegung der Ursache von Übertragung und Gegenübertragung auf die unbewältigten, neurotischen Konflikte des / der KlientIn nicht mehr möglich. Wir können heute, so wie in der intersubjektiven Psychoanalyse, von einer Co-Kreation der Beziehung durch alle Beteiligten ausgehen. Nicht allein der / die KlientIn bestimmt die Themen, um die es in der therapeutischen / beraterischen Beziehung geht, die Themen entwickeln sich im Zusammentreffen der Personen, sind etwas gemeinsames Drittes, ein intersubjektives Feld (Altmeyer / Thomä 2016, 7 ff ). Unsere Psyche und (in der Tradition von Reichs funktionaler Identität) auch unser Körper sind intersubjektiv verfasst. Wenn Identität in der Beziehung entsteht, sind Beziehungen auch Ausdruck der Identität und das Mittel der Veränderung und Entwicklung. Wenn Beziehungen Menschen verändern, dann verändern auch die jeweils Beteiligten die Beziehung. Das Konzept der Charakterstrukturen unter neuen Bedingungen Aus den genannten gesellschaftlichen Veränderungen ergibt sich aus meiner Sicht die Möglichkeit, das klassische Konzept der Charakterstrukturen um folgende Dimensionen zu erweitern: Stabilität der Charakterstruktur als diagnostisches Kriterium Charakterstrukturen bieten auf den ersten Blick eine Einordnung nach Themen, die KlientInnen / KundInnen beschäftigen: der schizoide Rückzug oder die orale Gier, Über- oder Unterordnung oder der Verzicht auf große Nähe 100 Christine Pechtl 3 | 2023 (Abb. 1). Mit einer veränderten Matrix (um es körperlich zu sagen: einem Sidestep) können sie aber auch den Blick auf die aktuelle Stabilität des Systems, Person oder Gruppe / Organisation richten (Abb. 2). Kernberg (1984) beschreibt Persönlichkeitspathologien auf drei Ebenen: der neurotischen, bei der die Identität, Realitätsprüfung, die Objektbeziehungen und die moralischen Funktionen stabil sind; der Borderline-Persönlichkeitsorganisation, bei der alle vier Kriterien instabil werden können, und dem desorganisierten Niveau eines psychotischen Zusammenbruchs. Die Charakterstrukturen können sich unabhängig vom Konfliktthema in ihrer Stabilität verändern. Sie bleiben im Leben eines Menschen auch nicht dauerhaft auf dem gleichen Niveau. Krisenhafte Ereignisse könnten kurzfristig oder dauerhaft die Stabilität des Strukturniveaus einer Person beeinträchtigen. Personen können sich auf einem neurotischen Niveau bewegen im Sinne von überdauernden Mustern in körperlicher und psychischer / sozialer Hinsicht. Diese Muster helfen ihnen, sich in Beziehungen zu bewegen, nicht unaushaltbar viele negative / verbotene Gefühle zu haben und Konflikte nicht mit dem nahen Umfeld, sondern innerlich auszutragen. Aufrechterhalten werden sie im klassisch tiefenpsychologischen Verständnis durch konstanten Druck von außen und Gegendruck durch eigene Bedürfnisse von innen. Sie geben uns Sicherheit und das Gefühl, das Leben zu bewältigen, auch wenn sie uns natürlich einschränken (Lowen 2007). Wenn diese Stabilität durch äußeren (ständige Wechsel der Zusammenhänge, Reizüberflutung, Abwertung …) oder inneren Stress, zu großen Druck, widersprüchliche Zug- und Druckkräfte, oder Vakuen verloren geht, sprechen wir von mäßig oder gering integriertem Strukturniveau. Beim totalen psychischen oder körperlichen Zusammenbruch sind wir bei einem desintegrierten Strukturniveau angelangt (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik-- OPD; Arbeitskreis OPD 2014). Im Segment der oralen Charakterstruktur können Menschen auf neurotischer Ebene beispielsweise mit ihrer Einsamkeit oder dem Bedürfnis, sich nach getaner Arbeit belohnen zu müssen, mit einem Glas Wein vor dem Fernseher umgehen. Wenn sie aber von Alkoholexzessen und der Scham über einen erlittenen Kontrollverlust berichten, können wir schon an einen strukturellen Einbruch denken. Sollten sie aufgrund ihres Umgangs mit Alkohol nicht mehr arbeitsfähig sein, von wahnhafter Eifersucht berichten oder körperlich zusammenbrechen, sind wir beim Zusammenbruch bzw. einem desintegrierten Strukturniveau angelangt. Dieser Stabilitätsverlust ist nach den Berichten der KlientInnen begleitet von Emotionsdurchbrüchen (vor allem Angst und Wut), Energieeinbrüchen oder körperlichen Zusammenbrüchen, ihre Rhythmen (Atmung, Herz, Schlaf …) gehen verloren. Betroffene können sich nicht mehr stabil in Beziehungen bewegen, sicher zwischen sich und anderen unterscheiden, und primitive Abwehrmechanismen wie Spaltung oder Projektion stehen im Vordergrund. Die Sicherheit „So bin ich, so bin ich in Beziehungen, das können ich und andere von mir erwarten“ geht verloren. Auf einer dritten Ebene sind völlige Zusammenbrüche der Struktur denkbar, sei es in psychischer Hinsicht (wie etwa bei Psychosen) oder auf körperlicher Ebene, z. B. bei einem Infarkt. Auch das lässt sich in der neuen Konzeption der Charakterstrukturen verstehen, nicht dahingehend, dass die Themen der Charakterstrukturen nicht mehr wichtig sind, sondern dass die neurotische Struktur nicht mehr hält. Ganz im Sinne der funktionalen Identität gehen dabei Einbrüche auf körperlicher und psychischer Ebene Hand in Hand, bedingen sich und lösen sich aus. Einbrüche im Energieniveau, z. B. bei Long Covid, verändern auch die psychische Stabilität. Charakterstruktur ist nicht immer gleich stabil, sie kann mehr oder Aktuelle Überlegungen zum Konzept der Charakterstrukturen 101 3 | 2023 Abb. 2: Charakterstrukturen und Strukturniveau Denkorientiert/ S Bedürfnisorientiert/ O Kontrollorientiert/ P Belastungsorientiert/ M Leistungsorientiert/ R Vernichtet werden Wieder verlassen werden Wieder manipuliert und verführt werden Wieder gedemütigt werden Wieder verraten / verletzt werden Zusammenreißen, Zusammenhalten An sich halten, sich an anderen anhalten Sich hoch-, darüber- und aufrecht halten In sich halten, drinnen halten, aushalten Sich (Herz und Liebe) zurückhalten 25. SW bis 3. LM Geburt bis 18 LM 9. LM bis 2. LJ 15. LM bis 4. LJ Ab 18. LM Abstimmung von Atmung, Herzschlag u. Bewegung Versorgung, Nähe, Berührung Bezogenheit in der Autonomie Eigenständigkeit Triangulierung Funktionale Identität Desintegriert/ Psychotisch Mäßig bis gering integriert/ Borderline Gut Integriert/ Neurotisch Psychischer Zusammenbruch Alexithymie oder Emotionsdurchbrüche, äußere Konflikte, primitive Abwehrmechanismen, unklare Grenzen, Unsicherheit im Selbst Sichere Identität, innere Konflikte, reife Abwehrmechanismen, stabile Beziehungen, kontrollierbare Emotionen Körperlicher Zusammenbruch Energieeinbrüche, Rhythmusverluste (Atmung, Herz, Schlaf …), wandernde Schmerzen, Psychosomatik Bewegungseinschränkungen, stabile und überdauernde Haltung, Charakterpanzer 102 Christine Pechtl 3 | 2023 weniger brüchig werden, sogar zeitweilig oder ganz zusammenbrechen, desintegriert sein. Eine solche Diagnose hat Folgen für den Umgang mit dem KlientInnensystem (und damit meine ich auch Gruppen von Menschen, Teams und Organisationen). Die DÖK (Die österreichische Gesellschaft für körperorientierte Psychotherapie / Bioenergetische Analyse) verwendet das Charakterstrukturenmodell traditionell auch im Beratungskontext bzw. in der Organisationsentwicklung (Pechtl 1995; Pesendorfer / Pechtl 2018; Majce-Egger 2019). Die Entwicklung von Knowhow geschieht daher immer inner- und außerhalb des therapeutischen Settings. Auch die Fallbeispiele in diesem Artikel entstammen aus beiden Arbeitsfeldern. Fallbeispiel Schule: Eine katholische Privatschule ernennt eine neue Direktorin, die sich von außen beworben hat. Sie setzt sich gegen einen internen Bewerber durch, auch weil es Druck der zuständigen Landesbehörde gibt, Veränderungen und neue gesetzliche Vorgaben umzusetzen. Die Neue steht für einen Kulturwandel, der als solcher aber nicht benannt wird. Die schon länger tätigen LehrerInnen gehen massiv in Opposition, intrigieren bis zur Bildungsdirektion und verweigern Arbeitsaufträge, wie z. B. die Gangaufsicht oder die Teilnahme an Sitzungen. Die neue Direktorin möchte gemocht werden, orientiert sich an den Wünschen der LehrerInnen. Die Schulleitung hört sich immer wieder die Klagen des Lehrers an, der eigentlich Direktor werden wollte. Hierarchien, die eigentlich Sicherheit geben sollten, werden umgangen. Die gesamte Schule ist nicht mehr handlungs- und entscheidungsfähig. Sie kann ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht werden. Interne Sicherheiten und damit verbundene Strukturen gehen verloren. Man könnte von einer masochistischen Struktur der gesamten Schule mit Konfliktvermeidung und heimlichem Abweichen sprechen, der Zusammenbruch der Zusammenarbeitsfähigkeit und aller Hierarchien lässt aber auch die Diagnose einer damit verbundenen Strukturschwäche zu. Veränderungen in der Interventionsplanung Wenn die innere Struktur des Systems brüchig ist oder wird, geht es nicht mehr um das Aufweichen von Grenzen, die Irritation von Überzeugungen, das Konfrontieren mit den körperlichen und sonstigen Widerständen, um das Zulassen intensiverer Emotionen und Konflikte, um Katharsis, sondern um Stabilisierung, Zentrierung und den Aufbau neuer Strukturen. Die Einschätzung, wie brüchig die Charakterstruktur des Systems ist, hilft uns, Interventionsrichtungen festzulegen. Dieser Aufstellung folgend gingen die Interventionen im 1. Fallbeispiel in Richtung Stützung von Hierarchie, einer Veröffentlichung des Auftrags der Direktorin seitens des Schulerhalters und der Bildungsdirektion, um die Angst und Projektionen der MitarbeiterInnen zu reduzieren und Klarheit und Orientierung zu ermöglichen. Weitere Interventionen versuchten, die jeweilige psychische Stabilität der Beteiligten zu stützen, wie z. B. eine Selbstvereinbarung für jeden zu eigenen konstruktiven Schritten im Prozess. Dies führte zur Beruhigung der Situation. Die Organisation konnte wieder auf normal-neurotischem Niveau funktionieren. Wenn wir den Erkenntnissen über die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit folgen, sind als Interventionsmöglichkeiten zur Stabilisierung des Strukturniveaus vor allem zu nennen (Weber-Steinbach 2018; Pechtl 2019; Pechtl/ Nagele 2019): ● Erfahrungen von basalen Abstimmungsprozessen als Wiederholung gemachter Erfahrung und als Enactments (wechselseitige Interaktionen (Downing), die implizite Erinnerungen im Hier und Jetzt erlebbar und beschreibbar und damit verarbeitbar machen) sind ein erster Schritt für eine kognitive und Aktuelle Überlegungen zum Konzept der Charakterstrukturen 103 3 | 2023 emotionale Einordnung gemachter Erfahrungen. Zum Beispiel können frühe Erfahrungen mit Körperkontakt im aufeinander Zugehen mit unterschiedlicher aktiver Rolle, in Experimenten mit Blickkontakten u. ä. einerseits erfahrbar gemacht, aber gleichzeitig auch neue Fähigkeiten aufgebaut werden. ● Affektwahrnehmung und deren Spiegelung durch eine/ n BeraterIn, TherapeutIn im Sinne der Achtsamkeit unterstützen die Eigenwahrnehmung und damit die Einordnung gemachter Erfahrungen (z. B. „wenn du lächelst, wenn du nein sagst, kommt dein Nein nicht klar bei mir an“). ● Die Differenzierung zwischen Außen- und Innenwahrnehmung von Handlungen (wie fühlt sich eine Bewegung innen an, wie schaut sie aus und was sehe und spüre ich) ermöglicht, die Grenze zwischen Ich und Du (und Wir) wahrzunehmen. ● Das Ausprobieren und Erleben neuer Verhaltens- und Beziehungsmuster im Sinne des Als-Ob-Modus (z. B. Aggressionsübungen, Annäherung an andere, Berührung) führen spielerisch an neue Handlungsmuster und damit verbundene Emotionen heran. ● Korrigierende neue Erfahrungen können ermöglicht werden, z. B. Nähe ohne Übergriff, Abgrenzung ohne Kontaktabbruch, die Wirkung von Aggression. Charakterstrukturen als intersubjektives Beziehungskonzept Charakterstrukturen beschreiben Beziehungsthemen: ● Den Umgang mit Nähe und Versorgung, entweder in der Abwehr der Bedürfnisse (S) oder im endlosen Suchen nach Unterstützung (O) ● Im Umgang mit Autonomiebestrebungen, entweder im Versuch der Vermeidung von Nähe durch Einfluss/ Manipulation (P), also einer Scheinautonomie, oder in der braven Unterordnung unter Aufgabe des Eigenen (M) ● Im Umgang mit Triaden, mit dem Bevorzugt- und Ausgeschlossen-Sein, im Erleben von Neid und Eifersucht, Leistung und Anerken- Stabile Charakterstruktur Brüchige Charakterstruktur Irritierend / erweiternd / kathartisch Stabilisierend / Strukturen aufbauend / neue Erfahrungen ermöglichend Druckarbeit Die Wahrnehmung unterstützende Berührung Widerstandsarbeit Versorgung / Verständnis Fallen Anlehnen, Halt geben Aufgabenstellungen Gemeinsame Bewegung / Erfahrung ermöglichen Atmung intensivieren Atemrhythmus unterstützen Emotionalen Ausdruck unterstützen Emotionale Kontrolle erarbeiten oder Wahrnehmung von Emotion ermöglichen Gruppal: Raum für Auseinandersetzung bieten Struktur schaffen Wahrnehmung und Kommunikation ermöglichen Da sein Gegenüber sein Abb. 3: Interventionsrichtungen 104 Christine Pechtl 3 | 2023 nung und dem Umgang mit Sexualität und Liebe (R) Diese Themen sind Themen jeder Therapie / Beratung von Menschen und Systemen. Wenn wir sie nicht abstinent als reine Themen der KlientInnen sehen, sondern als gemeinsam zu bewältigende Lebens- und Beziehungsthemen, wenn wir ihren Ausdruck als intersubjektives Geschehen werten, wo mindestens zwei Beteiligte immer neue Wege im Umgang mit Wesentlichem finden, dann sind wir BeraterInnen und TherapeutInnen mit unseren bewältigten und unbewältigten Themen auch beteiligt. Es spielt eine Rolle, wie ich auf eine Konkurrenzansage reagiere, dem Wunsch nach Versorgung begegne usw. Dieses gemeinsame, intersubjektive Feld entwickelt sich zwischen zwei Personen genauso wie in der Triade oder in Gruppen. Gruppen handeln dann unabgesprochen und unbewusst gemeinsam, haben eine gemeinsame „Grundannahme“ (Bion 1971). Maria Majce- Egger beschreibt genau das in ihrem Artikel zum Gruppenkörper: „Die- - meist unbewussten- - Grundkonflikte der einzelnen Personen finden sich in einem dominanten, gemeinsamen Konflikt, der sich im Gruppengeschehen als spezifisches Widerstands- / Abwehr- / Schutzphänomen darstellt.“ (Majce-Egger 2019, 84) Hier ist sowohl das Bewusste, Denk- und Sagbare als auch das Unbewusste eine intersubjektive Co-Kreation. Die charakterstrukturelle Brille auf das bewusste und unbewusste Beziehungsgeschehen gibt Halt und Orientierung in ihrer Konzentration auf die jeweiligen Beziehungsthemen. Werden die Beteiligten im gemeinsamen Tun rational, vernünftig und leistungsorientiert oder zurückhaltend unpersönlich? Verfolgen sie einander, flüchten sie voreinander, werten sie sich ab oder auf, oder versuchen sie, sich zu kontrollieren? Sind sie brav oder endlos bedürftig? Und in welcher Rollenverteilung? Wo reinszenieren sie gemeinsam Altes aus beider / aller Lebensgeschichten, und wo gibt es Platz für Neues? Fallbeispiel 2: Druckarbeit bei einer Klientin nach Burnout. Diagnose: Masochistisch, massive Verspannungen des oberen Rückens, Spannungskopfschmerz, Kopf eingezogen, unterwürfige Haltung. Die Massage des oberen Rückens lässt die Klientin massiv leiden, sie jammert, hat das Gefühl zu zerbrechen. Ich bleibe dran, weil ich ihr helfen will, weiß, was gut für sie ist, damit sie endlich ihre Verspannungen loswerden kann. Sie lässt es brav über sich ergehen, weil ich ja weiß, was gut für sie ist. Wir stellen also ganz unwillkürlich gemeinsam die wesentliche Kindheitssituation wieder her. Ihre Mutter, alleinerziehend und schwer belastet, trägt überfordernde Erwartungen an sie heran. Die Klientin hält den ganzen Druck brav aus und versucht, Erwartungen zu erfüllen. Diese Wiederholung oft geäußerter Erinnerungen auf Körperebene lassen mich stutzig werden. Erst meine Ermutigung der Klientin, auch auf der Körperebene nicht länger ins brave Mittun zu gehen, sondern eigenen Impulsen zu folgen, führt dazu, dass sie sich gegen meinen Druck aufrichtet, zu knurren beginnt und mich abschüttelt. Wiederholungen dieser und ähnlicher Körperarbeit führen zu einer Aufrichtung der Klientin, die Verspannungen reduzieren sich aufgrund der Haltungsänderung. Erst eigene Standpunkte zu beziehen, ermöglicht Emanzipation. Trautmann-Voigt und Voigt schreiben dazu: „Die Wechselwirkung zwischen Psyche und Körper ermöglicht zum einen die dialogische Erfassung psychischer Zustände durch Formen der Bewegungsanalyse und zum anderen die Einflussnahme auf kognitive und emotionale Zustände durch spezifische Bewegungs- und Handlungsangebote.“ (Trautmann-Voigt/ Voigt 2008, 197) Erst die Aufgabe der Vorstellung einer wissenden Behandlerin im Kontakt mit einer bedürftigen Klientin ermöglicht das Einlassen auf ein gemeinsames Bewegungs-, Handlungs- und Aktuelle Überlegungen zum Konzept der Charakterstrukturen 105 3 | 2023 Beziehungsexperiment. Die charakterstrukturelle Diagnose bleibt handlungsleitend, aber im Sinne einer Diagnose der geteilten Beziehung. Resümee Charakteranalyse war seit Reich ein hilfreiches Instrument in der Begleitung von Personen, sei es im psychotherapeutischen Kontext oder in verwandten Feldern. Die aktuellen, oben beschriebenen Veränderungen der Gesamtgesellschaft haben auch die Herausforderungen an unsere KlientInnen verändert: ihre Möglichkeiten, aber auch die Stresspositionen, mit denen sie umgehen müssen. Das verändert die Themen, mit denen wir als BeraterInnen und TherapeutInnen konfrontiert werden. Charakterstrukturen- - besonders in der hier skizzierten erweiterten Form- - bleiben weiterhin ein hilfreiches Instrument für die bioenergetisch-analytische Arbeit. Die Erkenntnis über die Funktionale Identität des Strukturniveaus bietet, ähnlich erweiternd wie damals bei Reich, neue Parameter für eine Interventionsplanung. Das Wissen über die Intersubjektivität auch unserer Körperlichkeit ermöglicht einen anderen Zugang zur therapeutischen / beraterischen Beziehung. Literatur Arbeitskreis OPD (Hrsg.) (2014): Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik. Das Manual für Diagnostik und Therapieplanung. 3.-überarb. Aufl. Verlag Hans Huber, Bern Altmeyer, M., Thomä, H. (Hrsg.) 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