eJournals körper tanz bewegung 11/4

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2023.art21d
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Fachbeitrag: Funktionelle Entspannung und Padovan-Methode in der Therapie mit Kindern und Jugendlichen

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Damaris Bucheli
Der Körper kann genutzt werden, um vegetative Vorgänge zu verändern und um das periphere und zentrale Nervensystem so zu stimulieren, dass Entwicklungsschritte möglich werden. Das machen die Funktionelle Entspannung nach Marianne Fuchs und die Padovan-Methode Neuro-funktionelle Reorganisation in unterschiedlicher und sich ergänzender Art und Weise. Beide Methoden werden in diesem Artikel vorgestellt und ihre Wirkungsweise erklärt. Wie gewinnbringend diese ganzheitlichen Körper-Therapien für die Persönlichkeitsentwicklung und die Fähigkeit, sich in unserer Welt zu bewegen, sein können, soll in den nachfolgen-den Erläuterungen verdeutlicht werden.
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151 Fachbeitrag körper-- tanz-- bewegung 11. Jg., S. 151-161 (2023) DOI 10.2378/ ktb2023.art21d © Ernst Reinhardt Verlag Funktionelle Entspannung und Padovan-Methode in der Therapie mit Kindern und Jugendlichen Körper, Raum und Zeit für Entwicklung nutzen Damaris Bucheli Der Körper kann genutzt werden, um vegetative Vorgänge zu verändern und um das periphere und zentrale Nervensystem so zu stimulieren, dass Entwicklungsschritte möglich werden. Das machen die Funktionelle Entspannung nach Marianne Fuchs und die Padovan-Methode Neurofunktionelle Reorganisation in unterschiedlicher und sich ergänzender Art und Weise. Beide Methoden werden in diesem Artikel vorgestellt und ihre Wirkungsweise erklärt. Wie gewinnbringend diese ganzheitlichen Körper- Therapien für die Persönlichkeitsentwicklung und die Fähigkeit, sich in unserer Welt zu bewegen, sein können, soll in den nachfolgenden Erläuterungen verdeutlicht werden. Schlüsselbegriffe Nervensystem, Bewegung, Atmung, Wahrnehmung, Rhythmus, therapeutische Selbstregulation, Gegenübertragung Neurofunctional Reorganization in Therapy with Children and Adolescents. Using Body, Space and Time for Development The body can be used in therapy to change processes of the autonomic nervous system and to stimulate the peripheral and central nervous system in such a way as to enable developmental steps. The two methods, Functional Relaxation according to Marianne Fuchs and the Padovan method Neurofunctional Reorganization, achieve this in different and complementary ways. This article presents both methods and explains how they work. This article will show how these holistic body therapies can be very effective for developing personality and competences that are important for navigating our world. Key words nervous system, movement, breathing, perception, rhythm, therapeutic self-regulatory ability, countertransference phenomenon Bevor Sie mit dem Lesen beginnen, habe ich ein Angebot für Sie: Ich lade Sie dazu ein, Ihre Zehen leicht zu bewegen und sich vorzustellen, dass die Zehen in Seifenblasen-Lauge eintauchen. Stellen Sie sich weiter vor: Seifenblasen beginnen langsam, in Ihrem Körper nach oben zu schweben. Die Beine hoch, ins Becken, immer weiter nach oben. Vielleicht spüren Sie die 152 4 | 2023 Damaris Bucheli Bewegung, die in den Zehen begonnen hat, auch immer weiter nach oben kommen? Vielleicht können Sie die Bewegungen mit einem Summen, Brummen oder einem anderen Ton begleiten? Lassen Sie die Seifenblasen immer höher steigen, bis sie irgendwo am Kopf einen Weg nach außen finden und außen immer höher steigen. Bewegen und tönen Sie dazu. Und dann lassen Sie sich wieder in Ruhe und spüren nach: Wo spüren Sie etwas? Wie ist es? Was braucht es im Moment noch? Vielleicht wollen Sie noch mal Seifenblasen steigen lassen? Vielleicht braucht es ein Räkeln und Strecken? Vielleicht ein Spannung-Abgeben zum Boden und Stuhl hin, dazu ein Seufzen oder ein „ach ja“? In diesem Artikel möchte Ich Ihnen zwei Therapiemethoden näherbringen, die ich in meinem Praxis- und Schulalltag mit Kindern und Jugendlichen mit Begeisterung anwende und die mich immer wieder von Neuem faszinieren. Die Funktionelle Entspannung (FE) Die vorangegangene Einladung zum „Ankommen im Hier und Jetzt“ ist eines von vielen Angeboten aus dem reichhaltigen Repertoire der Funktionellen Entspannung. Die FE wurde um 1946 durch die Gymnastiklehrerin Marianne Fuchs begründet. Als Mitarbeiterin der Universitätsklinik Heidelberg begann sie vor dem Hintergrund der Anthropologischen Medizin des Viktor von Weizsäcker, im Austausch mit Weizsäcker und Richard Siebeck diese Methode zu entwickeln (Köhle 2009, V-VI). Ihrem Wissen lagen die physiologisch-anatomisch aufgebaute, funktionelle Gymnastik mit musikalisch-rhythmischen Elementen sowie Einflüsse der Psychoanalyse zugrunde (Fuchs 2013, 13). Der Ursprung der FE liegt in der Behandlung des an Asthma erkrankten Sohnes von Marianne Fuchs. Sie fand über die Beeinflussung der unbewussten Atmung einen Zugang zu den vegetativen Vorgängen des Körpers. In Zusammenarbeit mit den Ärzten und Psychologen der Klinik in Heidelberg wurde an der Idee der indirekten Beeinflussung des Atemrhythmus und dessen Auswirkung auf den Körper gearbeitet. Es handelt sich bei der FE aber nicht um eine Atem-Therapie. Vielmehr ist das Finden, Entwickeln und Stärken des Eigenrhythmus das zentrale Anliegen. Dabei steht nicht die Entspannung im Vordergrund, sondern der Dialog mit sich selbst (von Arnim 1994, 196). Über diesen Dialog wird es möglich, im Alltag eigenverantwortlich für Wohlbefinden und Wohlspannung zu sorgen. Lebendigkeit und Kraft wird erfahrbar. Die FE findet nicht nur in der Körperpsychotherapie ihre Anwendung. TherapeutInnen verschiedener Berufsgruppen (Physio-, Ergotherapie und Logopädie) sowie PädagogInnen nutzen die methodischen Vorgehensweisen der FE. Nach von Arnim (2009, 27) ist die „FE körpertherapeutisch, körperpsychotherapeutisch und präventiv-pädagogisch anwendbar“. In der FE wird die körperliche Wahrnehmung auf folgende Bereiche gerichtet (von Arnim 2009, 27): ● Der Bezug zum Boden und zur Unterlage, der sogenannte „äußere Halt“ ● Das knöcherne Skelett, der „innere Halt“ im Zusammenspiel der Gelenke ● Die Innenräume des Körpers ● Die Haut als Körpergrenze ● Die Atmung in ihrem Eigenrhythmus Die körperliche Eigenwahrnehmung soll entdeckt und verfeinert und der Eigenrhythmus gefunden werden. Hinzu kommt, dass die Kinder und Jugendlichen immer mehr lernen, ihre körperlichen Wahrnehmungen in Sprache umzusetzen. Das bipersonale Prinzip von Viktor von Weizsäcker hat in der FE eine große Bedeutung. So ist sie eine dialogische Methode, d. h. der Austausch zwischen KlientIn und TherapeutIn ist 153 4 | 2023 Funktionelle Entspannung und Padovan-Methode bei Kindern und Jugendlichen von besonderer Wichtigkeit. Die Verbalisierung des Wahrgenommenen soll KlientInnen in der Verinnerlichung neuer Selbst-Gefühle stärken und ermöglicht TherapeutInnen die Weiterentwicklung ihrer FE-Angebote im Hier und Jetzt (von Arnim 1994, 201). In der Therapie mit kleinen Kindern, denen die Möglichkeit zur Verbalisierung dessen, was sie erleben, noch fehlt, wirkt die FE vor allem über die therapeutische Haltung. Diese Haltung und das Phänomen der Gegenübertragung (Lange 2013, 56 ff ) erhält aber auch bei Schulkindern und Jugendlichen sowie deren Bezugspersonen einen besonderen Stellenwert. Wenn wir TherapeutInnen über ein differenziertes Körpergefühl verfügen- - d. h. unseren Eigenrhythmus erfahren und erarbeitet haben und um dessen individuelle Beeinflussung wissen, wenn wir für den eigenen inneren und äußeren Halt sorgen können, unsere eigenen Grenzen und den Umgang damit kennen-- dann begegnen wir dem Kind und Jugendlichen in einer FE-therapeutischen Haltung. Diese Haltung bewirkt über eine permanente Selbstregulation-- dem feinen Spiel mit den Gelenken, dem Kontakt zum Boden, dem Erkunden und Verändern der eigenen Atmung und Muskelspannung- - eine Resonanz beim Gegenüber. Es werden Energien freigesetzt und Vertrauen gefördert. Zudem wappnen die beschriebenen therapeutischen Kompetenzen für den Umgang mit Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen. In jedem therapeutischen Prozess haben es die TherapeutInnen mit einem Gegenüber zu tun. In der Begleitung von Kindern sind es meist mehrere Gegenüber. Auch Eltern, Geschwister, Großeltern, Lehrpersonen usw. finden Platz. In der Therapie von sprach- und entwicklungsbeeinträchtigten Kindern und Ju- Abb. 1: Kindergartenkind in Hängematte: Wir haben zum Einstieg in die Therapiestunde den „äußeren“ und „inneren“ Halt erspürt. Dabei hat sich das Mädchen immer mehr über Plüschtiere, Kissen und Decken in der Hängematte eingerichtet. Auf meine Frage nach seinem Wohlbefinden sagt das Mädchen: „Ich fühle mich wohl.“ Dieses Wohlgefühl nehmen wir im Laufe der Therapie immer wieder zum Thema, erinnern es und richten uns immer wieder „wohl“ ein. Für dieses Wohlgefühl wählt sie sich im Anschluss einen Reminder für die Zeit bis zur nächsten Therapiestunde aus. In diesem Therapiebeispiel war es ein buntes Schneckenhaus. 154 4 | 2023 Damaris Bucheli gendlichen kommt nicht selten eine gewaltige Ladung an Angst, Frustration, Verunsicherung, Scham und Hilflosigkeit mehrerer Beteiligter mit in den Prozess. Dies macht die Fähigkeit zur therapeutischen Selbstregulation in der laufenden Behandlungssituation existenziell wichtig. Lange (2013, 57) beschreibt, dass es die Kunst der TherapeutInnen ist, „leibhaftig anwesender Teil eines realen Vorgangs zwischen zwei Menschen zu sein, gleichzeitig aber sozusagen in die Vogelperspektive zu gehen und den Vorgang von außen, mit Abstand zu sich selbst und zum anderen, reflektierend zu beobachten“. Dabei soll das Augenmerk in drei Richtungen gehen: in Richtung der TherapeutInnen selbst- - in Resonanz auf das Kind- - und in Richtung Unterstützung der Bezugspersonen. Damit möchte ich betonen, dass die Selbstregulation der Behandelnden immer eine direkte Auswirkung auf das Kind oder den Jugendlichen hat. Zudem können Angebote für die Bezugspersonen gemacht werden. Diese Angebote können im Alltag immer wieder angewandt werden, sich positiv auf die Bezugspersonen auswirken und haben wiederum eine Resonanz auf die Situationen mit den Kindern und Jugendlichen. Die FE wird dabei als Werkzeug genutzt, um immer wieder gut für sich zu sorgen, den Kontakt zu sich selbst (wieder) zu finden und bei sich zu bleiben. Zu diesem oben beschriebenen Erhalten- Können von Raum, Halt, Boden und vertieftem Atem, dieser vertieften Körperwahrnehmung, dem inneren Dialog und der Selbstregulation befähigt uns die FE auf spielerische, einfache, immer und überall anwendbare Weise. Drei „Spielregeln“ bilden den zentralen Zugangsweg. Sie dienen dazu, die Propriozeption anzuregen, den Eigenrhythmus zu entdecken und das Wahrgenommene zu verbalisieren (von Arnim 2008, 71): ● Bewegen und Tönen im Aus(-atmen). Das Ein(-atmen) kommen lassen. ● Alles Wahrnehmen und Bewegen zweibis dreimal wiederholen. ● Ruhen lassen, nachspüren und dafür Worte finden. Selbsterfahrungsangebot, um diese Spielregeln zu erleben Nun mache ich Ihnen noch einmal ein Spürangebot: Ich lade Sie dazu ein, sich mit ihrer Aufmerksamkeit dem Boden und den Füßen zuzuwenden. Vielleicht mögen Sie die Zehen leicht bewegen? Was nehmen Sie wahr? Wie würden Sie den Boden / das Gegenüber der Füße beschreiben? Vielleicht mögen Sie diese kleinen Bewegungen in den Füßen mit einem Brummen, Summen oder Ton begleiten? Tun Sie dies zwei-, dreimal. Dann lassen Sie sich in Ruhe und spüren nach. Wie ist es jetzt? Nun bitte ich Sie, ihre Knie abwechslungsweise mit kleinen Bewegungen vor und zurück zu bewegen. Vielleicht mögen Sie dazu ein leises Brummen oder Summen oder einen Ton erklingen lassen- - so laut oder leise wie Sie mögen. Summen, brummen, klingen Sie zweibis dreimal und machen Sie dann wieder eine Pause. Was spüren Sie? Wohin gehen diese kleinen Bewegungen? Spüren Sie die Bewegung im Becken? Nun wenden Sie sich der Wirbelsäule zu, und lassen Sie sie in kleine Bewegungen kommen. Nehmen Sie damit Kontakt auf mit dem Stuhl oder dem Sessel, auf welchem Sie sitzen. Diese Bewegungen können Sie erneut mit Summen, Brummen oder einem Ton begleiten. Begrüßen Sie das Ein, und spüren Sie nach: Was ist? Wie ist es? Und was macht das mit Ihrem Kiefergelenk und Ihrer Zunge? Nun bitte ich Sie, auch den Kopf in leichte Bewegungen kommen zu lassen und dazu zu tönen. Wiederum zwei-, dreimal bewegen und tönen und dann wieder Pause machen und nachspüren. Wie fühlen Sie sich im Moment? Was braucht es? Können Sie sich dem Folgetext widmen, oder brauchen die Augen noch eine kurze 155 4 | 2023 Funktionelle Entspannung und Padovan-Methode bei Kindern und Jugendlichen Pause? Mögen Sie die Augen in ihre Höhlen „ablegen“? Nach hinten, unten? Ein Summen, Brummen, Tönen? Sind Sie tief abgetaucht, und Ihr Körper verlangt nach einer Pause? Dann legen Sie doch die Lektüre zur Seite, und lesen Sie zu einem späteren Zeitpunkt weiter. Vielleicht braucht es ein Räkeln und Strecken und kurzes Aufstehen, ein Tee-Nachschenken oder ein kurzes Lüften? Nun möchte ich zum zweiten Therapiekonzept, welches mir sehr am Herzen liegt, kommen. Die Padovan-Methode Neurofunktionelle Reorganisation (NFR) Auch mit der NFR können Körper-Erfahrung, Körper-Wissen und Eigen-Sinn gefördert und ermöglicht werden. Die NFR hat einen Einfluss auf die vegetativen Vorgänge im menschlichen Körper und kann eine Veränderung des Eigen-Rhythmus bewirken. Beatriz Padovan entwickelte die Methode Ende der 1960er / Anfang der 1970er Jahre. Die Methode vereint Wissen um die ontogenetische Bewegungsentwicklung (Aufrichtungsprozess des Menschen) sowie das Wissen um die vorsprachlichen Funktionen Atmen, Saugen, Kauen und Schlucken. Das theoretische Fundament bilden die Neurowissenschaften und die Kiefernorthopädie, Elemente aus der Heilpädagogik und Logopädie sowie Rudolf Steiners Konzept des Gehen-Sprechen-Denkens (Abad Bender 2017, 3). Die für die menschliche Entwicklung zum aufrecht gehenden, sprechenden und denkenden Individuum relevanten motorischen Meilensteine (= neuro-evolutive Bewegungsmuster) werden in der Therapie wiederholt, um das zentrale Nervensystem zu stimulieren. Zur NFR gehören Übungen für den gesamten Körper, die Hände, die Augen und den Mundbereich. Dies ergibt einen dynamischen Therapieablauf, der individuell auf den Entwicklungsstand oder die Möglichkeiten der KlientInnen abgestimmt wird. Je nach Anliegen der Patienten können mit dem gesamten Programm (Körper, Hände, Augen und Mundprogramm) sowohl motorische („gehen“), orofaziale („sprechen“) als auch höhere kognitive Funktionen („denken“) verbessert werden. Das Nervensystem wird dabei als Ganzes von unten nach oben reorganisiert (Abad Bender, 2017, 5). Die sensomotorische Integration von Mund und Körper macht die Methode zu einem interessanten, bereichernden therapeutischen Werkzeug. Sie findet u. a. in der Physio-, Ergotherapie und Logopädie Anwendung, wird in der Neonatologie oder Neurorehabilitation eingesetzt. Sônia Padovan, Tochter von Beatriz Padovan, führt und entwickelt die Pionierarbeit ihrer Mutter weiter. Sie verknüpft praktische Inhalte der Methode mit aktuellen Erkenntnissen aus der Neurologie, Neuropädiatrie und Neurobiologie (Abad Bender 2017). Darüber lassen sich die durch die Therapie erreichten gesamtkörperlichen Entwicklungen und Verhaltensänderungen erklären. Beatriz Padovans Aussage „Wer dem folgt, was die weise Natur uns lehrt, hat weniger die Möglichkeit, Fehler zu machen“ verdeutlicht die natürliche Einfachheit der Methode. In der Anwendung benötigt sie aber einiges an anatomischem und neurologischem Knowhow, an eigener Beweglichkeit, Kraft und Flexibilität. Die Padovan-Methode besteht aus einer Reihe von Übungen natürlicher Bewegungsmuster in bestimmter Abfolge (bspw. Schaukeln, Bein- und Armübungen, Rollen, Klettern, Greifbewegungen und Augenbewegungen sowie Übungen zu den orofazialen Funktionen Atmen, Saugen, Kauen und Schlucken), die alle unter Einsatz von Rhythmus, Lied, Reim und Stimme wiederholt werden. Das Nervensystem soll dabei stimuliert und reorganisiert werden, sodass „alte“ und „neue“ Entwicklungsschritte verbessert oder überhaupt erreicht werden können. Die Kinder und Jugendlichen erhalten in der Therapie Raum und Zeit für eigene Entwicklungsschritte. Die TherapeutInnen modellieren 156 4 | 2023 Damaris Bucheli die Bewegungen und bieten allen Körper-Systemen große und kleine Bewegungserfahrungen, welche über Reime und Lieder synchronisiert werden. Die Übungen können auch vollständig passiv geführt werden, so dass ebenso Menschen mit schweren körperlichen Beeinträchtigungen und fehlender Körperkontrolle behandelt werden. Brand (2007, 71 ff ) erläutert, dass sich Lernen durch Veränderungen an den Synapsen vollzieht. Dies erfolgt durch regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen, was für motorisches Lernen innerhalb einzelner Hirnregionen nachgewiesen wurde. Die in der Therapie wiederholten Bewegungsmuster, welche sich an der physiologischen ontogenetischen Bewegungsentwicklung des Menschen orientieren, bieten dem Zentralnervensystem qualitativ neue Erfahrungen, die integriert werden (Abad Bender 2017, 4). Somit soll die mentale Repräsentation des Körpers reorganisiert und verfeinert werden. Darüber hinaus können sensomotorische Entwicklungsschritte angestoßen werden, das Nervensystem nachreifen und auch kompensatorische Bewegungen abgebaut werden. Mit diesem veränderten Wissen um den eigenen Körper und seine Handlungsmöglichkeiten lernen die Kinder und Jugendlichen, mit anderen und der Umwelt in Kontakt zu treten. Je reichhaltiger die Erfahrungen sind, die „von Natur aus“ gemacht werden, und je klarer das Kind diese Erfahrungen mit all seinen Sinnen Abb. 2: Junge beim Rollen: Dabei sollen der Hör- und Gleichgewichtssinn stimuliert, die Augenbewegungen und die Raumorientierung gefördert werden. Zudem wird die Zwerchfell- und Interkostalmuskulatur erreicht. Foto: Philipp Strohbach, Kriens 157 4 | 2023 Funktionelle Entspannung und Padovan-Methode bei Kindern und Jugendlichen erleben kann, desto vielfältiger werden die neuronalen Muster für das Lernen, Denken und die Kreativität. Bei diesen basalen Erfahrungen setzt die Padovan-Methode an. Sie nutzt bspw. die unter anderem von Hüther und Hauser (2014, 57 ff ) beschriebenen, bereits vorgeburtlich gemachten Erfahrungen wie Schaukeln und Stimmmelodie, um Wohlgefühl und Vertrauen zu fördern. Wenn wir in der Padovan- Methode in der Hängematte schaukeln und dazu singen, erreichen wir den Hör- und Gleichgewichtssinn sowie jene Hirnnervenpaare, die für die Augen und Sehverarbeitung zuständig sind. Ich möchte hier erwähnen, dass jedes Bewegungsangebot der Padovan-Methode auf unsere 12 Hirnnervenpaare zielt. Die Hirnnerven zu „lesen“ und zu verstehen, ermöglicht es den Padovan-TherapeutInnen, die Bewegungen korrekt anzuwenden und anzupassen. „Was wir erkennen, fühlen, lernen und denken, wird durch die Art und Weise geformt, wie wir erkennen, fühlen, lernen und denken. Wie wir dies tun, hängt von den sensorischen-motorischen Systemen, von Wahrnehmung und Bewegung ab, durch die uns unsere gesamte Erfahrung der Welt und unserer eigenen Person vermittelt wird.“ (Hannaford 2016, 33) Ich höre bereits kritische Stimmen, die mir entgegnen werden, dass sich die menschliche Entwicklung nicht nur auf den Aufrichtungsprozess reduzieren lässt. Das stimmt natürlich und soll auch nicht die Aussage dieses Artikels sein. Dass es für die Reifung des menschlichen Gehirns soziale Beziehungen braucht, dass es Schutz, Nähe, Wärme, Geborgenheit braucht (Hüther / Hauser 2014, 57 ff ), das scheint in meinen Ausführungen vielleicht wenig Raum zu erhalten. Dass es eine anregende, kindgerechte Umgebung braucht, ebenfalls. Auf dies alles wird im therapeutischen Rahmen natürlich geachtet, sofern es durch die Therapie oder die TherapeutInnen beeinflusst werden kann. Für die Padovan-Methode ist, wie für jede andere erfolgreiche Vorgehensweise, eine gute Therapiebeziehung zu den Kindern und Eltern elementar. Das hier vorgestellte Vorgehen be- Abb. 3: Vorschulkind beim Hangeln. Dabei soll die Augen-Hand-Koordination gefördert und der Vagussowie Accessoriusnerv erreicht werden. Damit ist diese Bewegung wichtig für die Organisation der Vitalenergie, die Zentralachse und die Differenzierung von Kopf und Rumpf. Foto: Philipp Strohbach, Kriens 158 4 | 2023 Damaris Bucheli ansprucht keine Einflussnahme auf alle für die Entwicklung wichtigen Bereiche, und zudem würde es auch den Rahmen dieses Artikels sprengen, diese vollständig einzubeziehen. Ich will hier aber die Möglichkeiten hervorheben, die wir haben, um über den Körper die Plastizität unseres Nervensystems zu nutzen und damit Entwicklung zu unterstützen. FE und NFR in Kombination Die FE nach Marianne Fuchs und die Padovan- Methode Neurofunktionelle Reorganisation (NFR) lassen sich wunderbar miteinander kombinieren. Im Übrigen lassen sich beide Vorgehensweisen auch mit anderen im therapeutischen und pädagogischen Setting angewandten Vorgehensweisen verbinden. Die Padovan-Methode bietet dem Kind und Jugendlichen quasi „unbewusste“ Körpererfahrung an. D. h. das Kind wird in der Regel in den Bewegungen nicht mündlich angeleitet. Die TherapeutInnen führen die Bewegungen und können dem Körper somit über den taktil-kinästhetischen Wahrnehmungsweg den nächsten Entwicklungsschritt ermöglichen. Geübt wird nie an der Schwierigkeit, sondern an den vorgelagerten Entwicklungsschritten. Wir nutzen die Bewegung als Schlüssel, um das Nervensystem und die Hirnentwicklung anzuregen. Das neu aufgebaute bzw. korrigierte und immer differenziertere Körperschema ermöglicht es dem Menschen, sich in Raum und Zeit zu bewegen, die Welt zu erfahren und sie zu verändern. Die FE wirkt in gewisser Weise auch indirekt, bspw. über die therapeutische Haltung und deren Resonanz auf das Gegenüber. Sie hat jedoch ganz klar ein verbalisiertes, dialogisches Prinzip und wird damit zu einem bewusst ansteuerbaren Prozess. So suche ich in der FE mit den Kindern und Jugendlichen nach Bildern für ihr Körpererleben. Ihre Wahrnehmung wird quasi versprachlicht. Auf diese Bilder können sie in ihrem Alltag zurückgreifen und das damit abgespeicherte Körpererleben erneut abrufen. In der Padovan-Methode kommt dem Sprachmodell der TherapeutInnen und der Wahrnehmungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen für die Entwicklung der höheren menschlichen Kognitionen wie Sprechen, Denken oder Kreativität eine zentrale Bedeutung zu. Es entsteht „von innen heraus“ zunehmend die Möglichkeit, sich gegen die Schwerkraft aufzurichten. Leichtigkeit ist auf der Körper-Ebene mit spielend leichtem Hüpfen beobachtbar, auf der Gedanken-Ebene mit Lernfortschritten und Kreativität. In der NFR ist die Bewegung das zentrale Element. Auch die FE nutzt die Bewegung, um eine Veränderung im Nervensystem zu erwirken. Es handelt sich bei der FE aber um die kleinen, bereits beschriebenen Bewegungen der Gelenke. Dabei wird eine weitere Gemeinsamkeit der Methoden angesprochen und positiv verändert: die Atmung. Über diese Bewegungen kann ein vertieftes Hergeben in die Ausatmung mit der Folge einer ergiebigen Einatmung erfolgen, was zu einer vegetativen Ausbalancierung führen kann (Johnen 2022, 267 ff ). In der NFR wiederum werden das Zwerchfell und die Interkostalmuskulatur über verschiedene Bewegungsangebote innerhalb des Therapieablaufs angesprochen und so als physiologisch arbeitende Muskeln stimuliert. So kann vertiefte Atmung möglich gemacht werden. Im Laufe der Mundfunktionsübungen werden die Ausatmungs- und Phonationslänge sowie die Nasenatmung ganz konkret stimuliert und sollen damit verlängert und gestärkt werden. Die Atmung als „vitalster Prozess des Menschen“ (Skuban 2021, 22 ff ) möchte ich an dieser Stelle besonders hervorheben, da viele Kinder und Jugendliche, die in meiner Praxis ein- und ausgehen, dysfunktional atmen (Mundatmung, chronische Hyperventilation, verhärtetes Zwerchfell u. a.). Ungünstige Atemmuster wirken sich auf die Leistungsfähigkeit, das Nervensystem, die Psyche, das Immunsystem 159 4 | 2023 Funktionelle Entspannung und Padovan-Methode bei Kindern und Jugendlichen u. v. m. aus. Wenn wir also über unsere Körper- Angebote die Achtsamkeit für unseren Körper, das Sich-Aufrichten-gegen-die-Schwerkraft, das optimale Zusammenspiel aller Gelenke, Muskeln und der Sinnesorgane fördern und verbessern können, legen wir Fundamente für eine physiologisch angemessene Atmung. Und wir können damit für die Kinder und Jugendlichen eine Steigerung der Vitalität und Konzentrationsfähigkeit sowie die Förderung von Lernprozessen und Emotionsregulierung bewirken. Denn all das leidet unter dysfunktionalem Atem. Über den Atem kommen wir zum Rhythmus. Ihm wird in beiden Therapieansätzen eine besondere Bedeutung gegeben. In der Padovan- Methode als „Sprache des Nervensystems“ (weil Nervenimpulse rhythmisch sind), umgesetzt als Rhythmus in der Bewegung und im Sprachangebot, in der Funktionellen Entspannung als Ziel des Erfahrens und des Entwickelns des Eigenrhythmus. Beide rhythmischen Vorgehensweisen erwirken unter anderem ein Ausbalancieren des vegetativen Nervensystems- - des Sympathikus und Parasympathikus. Aktivitäts- und Regenerationsfähigkeit kommen in ein besseres Gleichgewicht, was Lernen und Entwicklung begünstigt bzw. möglich macht. Beide Methoden haben unter anderem die Persönlichkeitsentwicklung zum Ziel. Über die Abb. 4: Das Vorschulkind macht den Purzelbaum. Dabei soll der Hör- und Gleichgewichtssinn stimuliert, Augen-Hand-Koordination und der Stützreflex gefördert werden. Das begleitende Sprachangebot dient als auditiver Stimulus. Die Übung ist wichtig für den Aufbau der Raumorientierung. Foto: Philipp Strohbach, Kriens 160 4 | 2023 Damaris Bucheli Bewegungserfahrung der Padovan-Methode wird die mentale Repräsentation unseres Körpers verbessert. Es soll eine Freiheit und Klarheit aller Körper-Funktionen erreicht werden und damit immer mehr Leichtigkeit möglich sein. Diese Leichtigkeit als Fähigkeit, sich gegen die Schwerkraft aufzurichten, können wir vorrangig auf körperlicher Ebene beobachten, soll aber, wie bereits erwähnt, bis in die Gedankenebene wirken. Auch die Funktionelle Entspannung zielt auf ein verändertes Selbst- Gefühl. Die Kinder und Jugendlichen werden in ihrer Körper-Zentral-Achse und damit in ihrem Ich gestärkt. Dieses Körper-Bewusstsein empfinde ich als sehr wertvolles Geschenk für einen Menschen. Er entwickelt Achtsamkeit für sich und kann auf dieser Basis Achtsamkeit dem Anderen gegenüber aufbauen. Was können wir unseren Kindern mehr wünschen als das Vertrauen in sich selbst? Wohl schon immer, aber in der heutigen Zeit mit der rasanten Digitalisierung und der immer virtueller werdenden Welt vielleicht insbesondere, sind wir gefordert, Körper-Bewusstsein-- ich nenne es hier das „Zuhause-Sein in meinem Körper“- - aufzubauen und unsere Körper nicht zu vergessen. Darin sehe ich einen wichtigen Schlüssel, um Resilienz zu entwickeln und sich selbstwirksam im Leben zu bewegen. Resilienz ist die Fähigkeit, auf Anforderungen wechselnder Situationen zu reagieren und auch stressreiche, schwierige Lebenssituationen zu meistern. Brooks und Goldstein (2013, 21 ff ) beschreiben die Resilienz als innere Stärke und Widerstandskraft. Diese Widerstandskraft kann meiner Meinung nach durch Körper-Bewusstsein und Achtsamkeit aufgebaut werden-- Achtsamkeit im Sinne von Wahrnehmen und Kennen unseres Körpers und die Fähigkeit zum Selbst-Dialog und zur Selbst-Regulation. Wenn wir TherapeutInnen den Kindern und Jugendlichen durch unsere körperzentrierten Behandlungen diese Achtsamkeit ihrem eigenen Körper gegenüber und diese Körper-Kompetenz vermitteln können, geben wir ihnen ein wichtiges „Werkzeug“ mit auf ihren Weg. Sie können handlungsfähig(er), selbstwirksam(er) und reif(er) werden. Veränderung wird möglich, ganz im Sinne von Marianne Fuchs’ Zitat: „Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Störungen, sondern die Fähigkeit, mit ihnen umzugehen.“ (Fuchs, zitiert nach Herholz et al. 2009, VII) Literatur Abad Bender, N. (2017): Myofunktionelle Therapie in der Padovan-Methode. Neurofunktionelle Reorganisation. Sprachtherapie aktuell: Forschung-- Wissen-- Transfer. Schwerpunktthema: Intensive Sprachtherapie (4)1, e2017- 09, https: / / doi.org/ 10.14620/ stadbs171109 von Arnim, A. (2009): Spielregeln fürs Leben-- FE und Selbstregulation. In: Herholz, I, Johnen, R., Schweitzer, D. (Hrsg.): Funktionelle Entspannung. Das Praxisbuch. Schattauer, Stuttgart, 23-27 von Arnim, A. (2008): Der Zugang der Funktionellen Entspannung: Zur Wirkung der der Spielregeln der Funktionellen Entspannung auf die Subjektive Anatomie. In: Arbeitsgemeinschaft Funktionelle Entspannung A.F.E. (Hrsg.): Festschrift zum 100. Geburtstag von Marianne Fuchs. Ausgewählte Beiträge aus A.F.E. INTERN aus dem 20. Jahrhundert. A.F.E., Erlangen, 66 -74 von Arnim, A. (1994): Funktionelle Entspannung. Fundamenta Psychiatrica 8, 169-203 Brand, M. (2007): Neurobiologische und -physiologische Korrelate von Lernen und Gedächtnis-- Konsequenzen für Pädagogik und Therapie. In: de Langen-Müller, U., Mailhack, V. (Hrsg.): Tagungsbericht zum 8. Wissenschaftlichen Symposium des dbs e. V. am 2. und 3. Februar 2007 in Gelsenkirchen. Früh genug-- aber wie? Sprachförderung per Erlass oder Sprachtherapie auf Rezept? ProLog, Köln, 71-84 Brooks, R., Goldstein, S. (2013): Das Resilienz- Buch. Wie Eltern ihre Kinder fürs Leben stärken. 5. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart Fuchs, M. (2013): Theoretischer Teil. In: Herholz, I., Johnen, R., Schweitzer, D. Wurzbacher, S. (Hrsg.): Funktionelle Entspannung. Theorie und Praxis eines körperbezogenen Psychotherapieverfahrens. 3. Aufl. Pro Business, Berlin, 12-48 161 4 | 2023 Funktionelle Entspannung und Padovan-Methode bei Kindern und Jugendlichen Hannaford, C. (2016): Bewegung-- das Tor zum Leben. 9. Aufl. VAK Verlag, Kirchzarten Herholz, I., Johnen, R., Schweitzer, D. (2009): Funktionelle Entspannung. Das Praxisbuch. Schattauer, Stuttgart Hüther, G., Hauser, U. (2014): Jedes Kind ist hoch begabt. Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen. btb Verlag, München Johnen, R. (2022): Schmerz und Depression: Behandlung einer 39-jährigen Patientin. In: von Arnim, A., Lahmann, C., Johnen, R. (Hrsg.): Subjektive Anatomie. Theorie und Praxis körperbezogener Psychotherapie. 3. Aufl. Schattauer, Stuttgart, 267-274 Köhle, K. (2009): Geleitwort. In: Herholz, I., Johnen, R., Schweitzer, D. (Hrsg.): Funktionelle Entspannung. Das Praxisbuch. Schattauer, Stuttgart, V-VI Lange, D. (2013): Die Bedeutung der Gegenübertragungsregulation in der Körperpsychotherapie mit Kindern. Funktionelle Entspannung. Beiträge zu Theorie und Praxis 40, 56-66 Damaris Bucheli Dipl. Logopädin, FE-Therapeutin, Padovan-Therapeutin, Schwerpunkte CAS-Stottern, Poltern, Mutismus. Niedergelassen in eigener Praxis in Sarnen und Emmenbrücke, Schweiz. ✉ Damaris Bucheli info@praxis-bucheli.ch www.praxis-bucheli.ch Largo, R. (2010): Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. Piper, München Nestor, J. (2022): Breath. Atem. Neues Wissen über die vergessene Kunst des Atems. 13. Aufl. Piper, München Skuban, R. (2021): Die Buteyko Methode. Wie wir unsere Atmung verbessern für mehr Gesundheit, und Leistungsfähigkeit im Alltag, Beruf, Yoga und Sport. 2. Aufl. Crotona Verlag, Amerang