eJournals körper tanz bewegung 11/4

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2023.art23d
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Forum: Suizidalität im Jugendalter

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Anne Labbé
Wie kann ich als Tanz- und Bewegungstherapeutin suizidalen jugendlichen PatientInnen in einem akutpsychiatrischen Setting aus ihrer Krise helfen? Der folgende Artikel befasst sich mit dieser Fragestellung, indem er Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen sowie Risiko- und Schutzfaktoren von Suizidalität im Jugendalter benennt, das präsuizidale Syndrom als theoretische Grundlage sowie einen psychodynamischen Erklärungsansatz für Suizidalität nutzt. Es werden Beispiele für Übungen und Arbeitsweisen mit suizidalen Jugendlichen aufgezeigt und diese an einem Fallbeispiel illustriert.
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Forum: Aus der Praxis 170 körper-- tanz-- bewegung 11. Jg., S. 170-177 (2023) DOI 10.2378/ ktb2023.art23d © Ernst Reinhardt Verlag Suizidalität im Jugendalter Feature einer akutpsychiatrischen Tanz- und Bewegungstherapeutin Anne Labbé Wie kann ich als Tanz- und Bewegungstherapeutin suizidalen jugendlichen PatientInnen in einem akutpsychiatrischen Setting aus ihrer Krise helfen? Der folgende Artikel befasst sich mit dieser Fragestellung, indem er Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen sowie Risiko- und Schutzfaktoren von Suizidalität im Jugendalter benennt, das präsuizidale Syndrom als theoretische Grundlage sowie einen psychodynamischen Erklärungsansatz für Suizidalität nutzt. Es werden Beispiele für Übungen und Arbeitsweisen mit suizidalen Jugendlichen aufgezeigt und diese an einem Fallbeispiel illustriert. Schlüsselbegriffe Akutpsychiatrie, Risiko- und Schutzfaktoren, präsuizidales Syndrom, psychodynamischer Erklärungsansatz, tanz- und bewegungstherapeutische Interventionen Suicidality in Youth. Feature of an Acute Psychiatric Dance and Movement Therapist How can I help suicidal adolescent patients out of their crisis in an acute psychiatric setting? The following article deals with this question by naming adolescent development tasks, risk and protective factors for suicidality in adolescence, using the presuicidal syndrome as a theoretical basis and applying a psychodynamic explanation for suicidality. Examples of exercises and working methods with suicidal adolescents are shown and illustrated with a case study. Key words acute psychiatry, risk and protective factors, presuicidal syndrome, psychodynamic explanatory approach, dance and movement therapy interventions D ieser Artikel entstand aus meiner zweijährigen beruflichen Erfahrung als Tanz- und Bewegungstherapeutin auf einer Akutstation in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Berlin. Ich wollte besser verstehen, wie es zu den suizidalen Krisen meiner noch so jungen PatientInnen kam und meine Arbeitsweise reflektieren sowie gewinnbringende Erkenntnisse mit interessierten KollegInnen teilen. Bedeutung und Ursache der suizidalen Krise Um die Bedeutung einer suizidalen Krise in der Adoleszenz zu verstehen, muss man sich zuerst die Relevanz dieser besonderen Lebensphase vor Augen führen. Grundsätzlich ist das Ziel dieser Entwicklungsphase die „Wandlung und Reifung der gesamten Persönlichkeit aus dem Kind-Sein zum Erwachsen-Sein“ (Schnell 2005, 460). Vorherrschend sind ambivalente Suizidalität im Jugendalter 4 | 2023 171 Bedürfnisse nach Geborgenheit und Sicherheit sowie Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Die Entwicklungsleistungen von Trennung, Ablösung und Verselbstständigung sind Themen, die schon in der frühen Kindheit ihren Ursprung haben. In der Adoleszenz erfahren diese Entwicklungsprozesse eine neue Aktualität, sie werden rekapituliert und im weiteren Verlauf integriert (Schnell 2005). Sollten die Entwicklungsschritte von Reifung, Individuation und Verselbstständigung nicht ausreichend durchlaufen werden, können Krisen ausgelöst werden-- insbesondere, wenn durch innere und äußere Faktoren nicht ausreichend flexible oder zu chaotische Rahmenbedingungen für die Jugendlichen und ihre Familien gegeben sind (Schnell 2005). Auf der Gefühlsebene können dann besonders aggressive Impulse eine Gefahr für die psychische Stabilität darstellen. Nach Autonomie strebende Impulse können sich gegen das Individuum richten. Der Selbstwert wird zunehmend negativ definiert, die Wahrnehmung der eigenen Gefühle sowie eigene Wünsche und Impulse werden von Angst und Ablehnung begleitet. Die Körperwahrnehmung ist von Entfremdung gekennzeichnet (Schnell 2005). Die Jugendlichen ziehen sich nach meiner Beobachtung dann oft aus sozialen Kontexten zurück, verfallen immer mehr in grüblerische Tendenzen und beschäftigen sich ausschließlich mit den sozialen Medien (TikTok, You- Tube). Lebensmüde Gedanken wie „Es bringt doch alles nichts“, „Ich bin eine Last für alle anderen“ und der Freitod als einziger Ausweg werden das vorherrschende Thema. Entwicklungsaufgaben für Jugendliche Grundsätzlich kristallisieren sich aus den übergeordneten Themen Autonomiebestreben und Selbstständigkeit folgende Entwicklungsaufgaben im Jugendalter nach Havighurst (1953) heraus: die Ablösung von den Eltern, die eigene Identität in der Geschlechtsrolle finden, ein eigenes Wertesystem und Moralvorstellungen ausbilden sowie eine Zukunftsperspektive bzgl. einer Berufswahl entwickeln. Können mehrere Entwicklungsaufgaben aus persönlichen oder/ und sozioökonomischen Gründen nicht ausreichend erfüllt werden, entsteht nach Hurrelmann und Quenzel (2016) ein nicht auszuhaltender „Entwicklungsdruck“, der drei verschiedene Risikowege als Reaktionen nach sich ziehen kann. Neben dem externalisierenden Risikoweg, der von Aggressionen gegen äußere Umstände geprägt ist, und dem ausweichenden oder auch vermeidenden Handlungsansatz, der von einer Flucht in Drogenkonsum, unsteten Beziehungsmustern sowie Mediensucht gekennzeichnet ist, interessiert uns der internalisierende Risikoweg. Dieser zeigt sich in sozialem Rückzug, Isolation, Desinteresse, Apathie, psychosomatischen Symptomen bis hin zu selbstverletzendem Verhalten sowie Suizidalität. Die Ursache für seine Problematik sieht der Jugendliche dabei im eigenen Unvermögen (Hurrelmann / Quenzel 2016). Resilienz-, Risiko- und Schutzfaktoren Welche Faktoren beeinflussen nun die Entwicklung einer suizidalen Krise, und wie sind diese einzuschätzen? Grundsätzlich ist es hilfreich, das Konzept der Resilienz heranzuziehen, um diese Frage zu beantworten. Resilienz wird inzwischen als interaktiver Anpassungsprozess zwischen Individuum und Umwelt definiert (Schmidt/ Schultze-Lutter 2020). Es gibt dabei stabile oder variable, neurobiologische, psychologische und auch soziale Resilienzfaktoren, die sich in gegenseitiger Wechselwirkung beeinflussen (Kalisch et al. 2019). Dabei unterscheidet man weiterhin in Risiko- und Schutzfaktoren. Im Jugendalter wurden folgende Risikofaktoren für Suizidalität nachgewiesen: Mobbing, psychische Erkrankungen wie Depression, 172 4 | 2023 Anne Labbé Borderline-Persönlichkeitsstörung und Schizophrenie, familiäre Konflikte, Konflikte in romantischen Liebesbeziehungen und nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (Plener et al. 2017). Hinzu kommen traumatische Erlebnisse wie ein Suizid in der Familie oder der Verlust einer nahen Bezugsperson, schwere Krankheit und soziale Isolation (World Health Organization 2014). Toomey et al. (2018) kamen in einer Studie zu amerikanischen Jugendlichen zu dem Ergebnis, dass die Geschlechtsidentität ebenso einen Risikofaktor darstellt. Es verübten mehr transgeschlechtliche und non-binäre Jugendliche Suizidversuche als cisgeschlechtliche Jugendliche. Weiterhin machen Radeloff et al. (2012) auf den Zusammenhang von Drogenkonsum und Suiziden im klinisch-psychiatrischen Kontext aufmerksam. Alle genannten Risikofaktoren können sich summieren, jedoch auf der anderen Seite von Schutzfaktoren abgepuffert werden. Dabei ist zu beachten, dass personenbezogene und umweltbezogene Schutzfaktoren differenziert betrachtet werden müssen. Gerade in extremen Belastungssituationen mit multiplen Risikofaktoren, wie zum Beispiel dem plötzlichen Tod eines Elternteils und gleichzeitigem Mobbing in der Schule, können die persönlichen Schutzfaktoren, wie beispielsweise emotionale Stabilität oder stabiles Selbstwertgefühl, nicht ausreichend sein, um mit der Situation fertig zu werden. Wenn dann zusätzlich ungenügend umweltbezogene Ressourcen (Freunde, Familie) aktiviert werden können, kann dies die Entwicklung einer suizidalen Krise verstärken. Dreier et al. (2018) nennen die Pflege und den Aufbau gesunder, enger zwischenmenschlicher Beziehungen, den Zugang zu Gesundheitsvorsorge und Unterstützung, vorhandene Problemlösefähigkeiten (z. B. die Fähigkeit, geeignete Hilfe aufzusuchen, wenn dies erforderlich ist), Bewältigungsstrategien (z. B. ein hilfreicher Umgang mit Belastungen oder Krisensituationen), emotionale Stabilität, ein stabiles Selbstwertgefühl, positive Selbstwirksamkeitserwartungen und eine optimistische Zukunftseinstellung als nachgewiesene Schutzfaktoren im Jugendalter. Insgesamt konstatieren Schmidt und Schultze-Lutter (2020), dass sich die Gewichtung aller Resilienzfaktoren nach dem individuellen Alter, dem jeweiligen Entwicklungsstand, Geschlecht und kulturellem Hintergrund bedeutsam unterscheidet. Letztendlich wirken in jedem einzelnen biografischen Hintergrund unterschiedlichste Einflüsse zu psychischen Belastungen, sozioökonomischen oder auch somatischen Bedingungen auf die Resilienz eines Individuums ein. Das präsuizidale Syndrom Ist es nun durch das Überwiegen von Risiko- und das Nicht-Kompensieren von Schutzfaktoren zu suizidalen Gedanken gekommen, können sich diese bei 6 bis 9 % der Jugendlichen (Plener et al. 2017) zu einem Suizidversuch entwickeln, dem das sogenannte präsuizidale Syndrom vorausgeht. Ein Erklärungsmodell dazu kommt aus der psychodynamischen Suizidtheorie nach Ringel (1953) und ist durch einen dauerhaften seelischen Zustand der Einengung, Aggression und Selbstmordphantasien gekennzeichnet (Bojack 2010). In der ersten Phase des Syndroms wird der Selbstmord als mögliche Problemlösung in Betracht gezogen, und suggestive Momente können hier eine ausschlaggebende Rolle spielen. Es entwickelt sich ein innerer Kampf zwischen Selbsterhaltungstrieb und selbstzerstörerischen Tendenzen. Hier liegt dann die Einengung auf den Suizid als einzige Lösung vor. Daraus resultiert die zweite Phase des präsuizidalen Syndroms, die gerade bei Jugendlichen ausgeprägter scheint: das Benennen der Absicht. Äußerungen wie „bald habe ich ganz viel Zeit“ oder „mich wird ja doch niemand Suizidalität im Jugendalter 4 | 2023 173 vermissen“ weisen auf suizidale Gedanken und Handlungsabsichten hin (Bojack 2010). Der / die PatientIn richtet seine Aggression gegenüber übermächtigen Erziehungspersonen gegen sich selbst und gibt im Gespräch, wenn einfühlsam danach gefragt wird, Selbstmordphantasien an. In der dritten Phase wurde die Ambivalenz von Phase zwei überwunden, und die geplante Durchführung der Suizidhandlung steht im Vordergrund. Die Phaseneinteilung des präsuizidalen Syndroms habe ich als hilfreich empfunden, um suizidale Äußerungen besser einschätzen zu können und um in Reflexionsgesprächen eine Orientierung zu gewinnen, wo der / die PatientIn in seinen Handlungsabsichten, sich das Leben zu nehmen, steht. Tanz- und Bewegungstherapie im akutpsychiatrischen Setting Auf die Akutstation kommen überwiegend PatientInnen in Phase zwei und drei des präsuizidalen Syndroms, und gleichzeitig finden die Überlebenden von verhinderten Suizidversuchen einen ersten sicheren Hafen. In Phase zwei ist nach meinen Erfahrungen (siehe Fallbeispiel) bei einem längeren Aufenthalt eine tiefere therapeutische Arbeit möglich. Die jugendlichen PatientInnen nach einem Suizidversuch verbleiben in der Stabilisierungsphase, bis sie von allein in meinen Stunden anzeigen, über ihre Entscheidung sprechen zu wollen. Die PatientInnen sind überwiegend im Alter von 11 bis 17 Jahren, vereinzelt sind auch Kinder zwischen 7 und 9 Jahren auf der Station, die sich suizidal geäußert haben. Die Aufenthaltsdauer variiert zwischen zwei und vier Tagen für PatientInnen, die in ein verlässliches Elternhaus zurückkehren können oder für die eine ambulante psychotherapeutische Versorgung gewährleistet werden kann. Wiederum schwierigere soziale Umstände wie ein fehlender Lebensort, schwer belastete Situationen zu Hause oder auch Kinderschutzfälle führen zu verlängerten Aufenthalten von mehreren Wochen bis zu zwei bis drei Monaten. Stabilisierende Übungen Um einen tieferen Einblick in die Arbeit auf der Akutstation zu gewinnen, möchte ich zunächst mein Repertoire an stabilisierenden Übungen beschreiben, welches hauptsächlich bei den PatientInnen mit einer kurzen Verweildauer zum Tragen kommt. Generell nutzte ich verletzungsarme Gegenstände wie Tischtennisbälle, Softbälle, Gummibänder, später auch Boxhandschuhe und Trittkissen. Es bestand bei vielen Patientinnen die Gefahr der Selbstverletzung, ebenso wie ein erneuter Suizidversuch auf Station, so dass das Stationskonzept insgesamt beinhaltete, auf eine sichere Umgebung (z. B. keine Bilderrahmen mit Glas an den Wänden, Blumenvasen aus Plastik, Kosmetika wurden in gesicherten Schränken außerhalb der Zimmer aufbewahrt) zu achten. In der Tanz- und Bewegungstherapie hatten manche PatientInnen den Wunsch, sich abzulenken, manche hatten Bewegungsdrang, manche suchten Entspannung, und viele wussten nicht, was ihnen guttun könnte. Grundsätzlich nutzte ich zu Beginn der Stunde Grounding- Übungen wie Abklopfen, Vor- und Zurückschaukeln und In-die-Mitte-Finden sowie Pressing gegen den Boden oder eine Wand. Weitere Techniken aus einem Workshop mit Homanns „Embodied Neurobiology“ (2021) setzte ich ein, um erst einmal das Nervensystem zu beruhigen und stabilisierend einzuwirken. Dies fand im Einzelkontakt in den Zimmern der PatientInnen statt, manchmal auf einem Stuhl oder auf einer Matte. Darauf folgten kleine Ballspiele, um die Kontaktfähigkeit zu fördern. Meine Zeiteinteilung war flexibel von 20 bis 30 Minuten für eine kurze Aktivierung bis zu 45 bis 60 Minuten, wenn ich in den Bewegungstherapieraum auf der Nachbarstation wechseln konnte und die PatientInnen belastbarer waren. 174 4 | 2023 Anne Labbé Ich nutzte bei den PatientInnen mit einer längeren Verweildauer ab ca. 2-3 Wochen oft gezielt Musik zum Aufwärmen und um bestimmte Themen wie Einsamkeit, Angst vor dem Verlassenwerden oder den emotionalen Ausdruck von Wut und Verzweiflung zu unterstützen. Noch stärker lag mein Fokus jedoch auf dem Wiederfinden von Kraft, Freude und Talenten der PatientInnen, die nicht selten tänzerische Vorerfahrungen hatten oder sportlich in Vereinen aktiv gewesen waren. In dieser PatientInnengruppe versuchte ich auch, dem Bedürfnis nach Geselligkeit, Zugehörigkeit und Freundschaft mit Gleichaltrigen nachzukommen, und teilte Arbeitspaare ein. Rollenspiele sowie Übungen zu Mimik und Gestik kamen zum Einsatz, um den emotionalen Ausdruck und die Interaktionsfähigkeit zu stärken. Die PatientInnen ließen sich oft leichter über strukturierte Angebote wie Boxen oder Kämpfen mit Schlagnudeln motivieren. Dabei entstanden viele spielerische, fröhliche, unbelastete Momente, die die Jugendlichen mehr als alles andere zu genießen schienen. Fallbeispiel Einen Therapieverlauf möchte ich ausführlicher beschreiben, um meine Arbeitsweise transparenter darzustellen. Die Patientin Ariane (14 Jahre alt, Name geändert): Die Patientin wurde von ihrer Klassenlehrerin und dem Schulsozialarbeiter zu einer Aufnahme bewogen, da sie sich suizidal einer Klassenkameradin gegenüber geäußert hatte. Die konkrete Aussage lautete: „Ich sehe keinen anderen Ausweg mehr. Es ist einfach zu viel.“ In der Erstanamnese mit der Stationspsychologin gibt die Patientin an, eine Mutter mit Borderline-Persönlichkeitsstörung zu haben. Der Vater sei vor kurzem, nach der Trennung der Eltern, aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen, und die jüngere Schwester sei anorektisch. Die Patientin sagt, keinen konkreten Suizidplan zu haben, aber dennoch konstant seit mehreren Wochen an Selbstmord zu denken. Sie habe andererseits auch Schuldgefühle, ihre Mutter und ihre Schwester allein zu lassen. Ariane gibt weiterhin Schlafstörungen, Antriebslosigkeit, starke Niedergeschlagenheit und Appetitlosigkeit an. Es wird eine mittelgradige depressive Episode nach ICD-10 diagnostiziert. Erste Begegnung Nach einem Tag Aufenthalt auf der Akutstation im Einzelzimmer stelle ich mich Ariane als Tanz- und Bewegungstherapeutin vor und lade sie zu einem Spaziergang in den Stationsgarten ein. Im Erstkontakt erscheint mir die Patientin ängstlich, sie beobachtet meine Reaktionen sehr genau, als ob sie nichts Falsches sagen oder tun wolle. Ich schlage ihr ein paar gemeinsame Atemübungen beim Gehen vor, ihre Füße zu spüren sowie den Sonnenschein und Wind auf der Haut bewusst wahrzunehmen. Sie entspannt sich spürbar, der Blick wird weicher, und die Schultern hängen tiefer herab. Ich erfrage Arianes Vorerfahrungen zum Thema „Bewegung“, und sie eröffnet mir, dass sie lange HipHop getanzt habe, dies nun aber nicht mehr tun wolle. Sie sei zu alt dafür. Zuallererst mache ich Ariane nun strukturierte Bewegungsangebote wie Tischtennis und Basketball im Stationsgarten-- erstens, um sie zu motivieren, an der Therapie teilzunehmen, und zweitens, um einen niedrigschwelligen Einstieg in unsere therapeutische Arbeit zu gewährleisten. Drittens versuche ich, den spielerischen Aspekt in unseren Stunden in den Vordergrund zu stellen, da Ariane aufgrund ihrer familiären Situation hoch belastet ist und im Familiensystem eine große Verantwortung trägt. Dies nimmt Ariane dankbar an. Im Verlauf der nächsten Wochen wird deutlich, dass Ariane eine sehr gute Schülerin ist und einen überdurchschnittlichen IQ (134) aufweist. Im letzten Suizidalität im Jugendalter 4 | 2023 175 Jahr haben ihre schulischen Leistungen nachgelassen, sie geht ihren Hobbys nicht mehr nach und trifft sich kaum noch mit Freunden. Ariane berichtet dies während unserer Stunden stets in kleinen Anekdoten und beobachtet mich dabei immer wieder genau. Ich begegne Ariane in unseren Stunden mit spiegelnden Bewegungen im Verlauf unserer Interaktionen, um mich einzufühlen und um ihr das Gefühl einer verlässlichen Beziehung zu vermitteln. Bewegungsbeobachtung Im Verlauf unserer dritten und vierten Stunde wird klar, dass sich Ariane sehr zurücknimmt, was ihre Gefühle und eigenen Bedürfnisse angeht. Ich beobachte bei Ariane hochgezogene Schultern, mehrheitlich gebundenen Fluss in ihren Bewegungen und eine nach innen neigende Beinhaltung, die sie sehr unsicher stehen lässt. Ich schlage Ariane vor, in den nächsten Stunden am sicheren Stand zu arbeiten, und erläutere den Zusammenhang von seelisch-emotionaler Haltung und Körperhaltung. Sie schlägt selbst vor, mit Schlagnudeln zu kämpfen, da sie diese bei einem Mitpatienten gesehen habe. Ich werte ihre klare Bedürfnisäußerung als einen Vertrauensbeweis und ein Zeichen wachsender Sicherheit, was den nächsten Therapieschritt anzeigt. In den nächsten zwei bis drei Stunden beginnen wir mit leichten Dehnübungen zur Aufwärmung wie Strecken, Räkeln, Handgelenke-Ein- / Ausdrehen und Kopfkreisen. Dann vergrößern wir die Bewegungen in Armkreisen, Beine-Heben und Hüftkreisen. Ariane ist sehr erpicht auf die Schlagnudeln, und ich nehme diese als Hilfsmittel für die Aufwärmübungen. Ich zeige ihr, wie sie sich mit der Schlagnudel zur Seite, aber auch nach vorne und hinten strecken kann. Die Arme lockert sie nun mit dem Schwingen der Schlagnudel, und ich baue kleine Koordinationsspiele ein, da sie dort Schwierigkeiten äußert, wie zum Beispiel bei Ballspielen in der Schule. Am Anfang wirft sie die Schlagnudel von einer Hand in die andere, später werfen wir uns die Schlagnudeln gegenseitig zu. Besonders gefällt Ariane das Spiel, sich mit den Schlagnudeln gegenseitig am Oberarm oder Oberschenkel zu treffen. Sie übt, ihre aggressiven Impulse zuzulassen, erhöht immer mehr ihre Schlagweite und Geschwindigkeit, so dass sie mich des Öfteren besiegt und dies sichtlich genießen kann. Dabei muss ich sie auch eingrenzen, wenn ihre Schlagkraft mir gegenüber zu stark dosiert ist. Wir nutzen dann einen Boxsack, um die hohe Anspannung abzubauen, die sich immer wieder in Arianes erhöhtem Krafteinsatz zeigt. Hier entscheide ich mich gegen das Aufdecken des emotionalen Aspekts ihres Krafteinsatzes, da sich Ariane noch in einem zu labilen Zustand befindet, um mit ihrer Wut und Hilflosigkeit konfrontiert zu werden. Ich ermutige sie dennoch, tief zu atmen, um in eine tiefere Entspannung zu kommen und ihren Körper mehr wahrzunehmen und zu spüren. Nach unseren Stunden spricht Ariane langsamer, wirkt erschöpft, aber auch zufrieden mit sich. Entwicklung innerhalb der Familie und Abschied Während ihres Aufenthalts auf der Akutstation gab es mehrere Besuche durch die Mutter, und nach ein paar Wochen darf Ariane als Belastungserprobung zuerst ein paar Stunden nach Hause und dann einen ganzen Tag und über Nacht. Nachdem diese Begegnungen überwiegend positiv verlaufen sind und Jugendhilfemaßnahmen in der Familie etabliert wurden, steht die Entlassplanung an. Ariane malt japanische Kirschbäume mit einer Mitpatientin als Abschiedsgeschenk für die Station. In unseren letzten Stunden wünscht sich Ariane einen gleichaltrigen Sparringpartner, und ein Mitpatient willigt ein, mit ihr zu trainieren. In der vorletzten Stunde kommt Ariane überraschenderweise mit dem Wunsch in die Tanz- und Bewegungstherapie, etwas Ruhiges machen zu wollen. Sie fragt mich und indirekt auch sich, warum das alles passiert sei und wie sie grundsätzlich etwas in ihrem Leben ändern 176 4 | 2023 Anne Labbé könne. Ich nehme ihre existenzielle Frage auf und biete ihr an, diese in Körperhaltungen auszudrücken, da ihr das Thema vertraut ist. Sie nimmt eine erste Körperhaltung ein für den Beginn ihres Aufenthalts: Sie steht mit gekrümmten Beinen, verschränkten Armen und leicht gesenktem Kopf vor mir. Ich ermuntere sie zu spüren, wie sie sich in dieser Position fühlt. Dies fällt ihr schwer, so dass ich einen Schritt vorher ansetze, ihre Position spiegele und sie auffordere zu beschreiben, was sie sieht. Langsam kann sie sich ihren Gefühlen annähern und bringt Annahmen ein: „Sie sehen einsam aus“, „unsicher“, „verletzlich“. Danach ermuntere ich Ariane, die erste Position abzuschütteln und eine zweite Körperhaltung einzunehmen, die ihrem momentanen Sein-Zustand entspricht. Sie stellt sich in den sicheren Stand, hat die Arme runterhängend eng am Körper anliegend, der Kopf ist seitlich geneigt, und der Blick schaut immer wieder hin zu und weg von mir. Nun fällt es Ariane leichter, ihre Gefühle in Worte zu fassen: Sie beschreibt sich als „selbstbewusster“, fühle sich „sicherer“ und irgendwie „größer“, „wie gewachsen“. Sie verabschiedet sich herzlich und bedankt sich für unsere therapeutische Arbeit. Zusammenfassung Arianes Fallbeispiel zeigt hohe Risikofaktoren im Bereich ihrer Familie auf, ebenso wie ihre depressive Erkrankung und die daraus resultierende soziale Isolation, welche auch ihre Schutzfaktoren nicht mehr ausgleichen konnten. Rückblickend war der therapeutische Prozess mit Ariane etwas Besonderes, da die Patientin durch ihre hohe Intelligenz und Aufgeschlossenheit den therapeutischen Prozess maßgeblich gestalten konnte. Ariane fasste schnell Vertrauen und konnte in unserer Arbeitsbeziehung annehmen, was ich ihr als Therapeutin anbieten konnte. Viele andere PatientInnen hatten aufgrund von traumatischen Erfahrungen oder persönlicher Disposition nicht die Möglichkeit, sich so schnell zu öffnen oder sich auf die Angebote einzulassen. Fazit Der psychodynamische Erklärungsansatz informiert über die Bedeutung und Ursache von Suizidalität. Aggressive Impulse werden aus dem mangelnden Zugang zu anderen Lösungsstrategien gegen sich selbst gerichtet (Schnell 2005). Anstehende Entwicklungsaufgaben können aus personen- oder umweltbezogenen Gründen nicht gemeistert werden, so dass sich manche Jugendliche zurückziehen und einen internalisierenden Risikoweg einschlagen, der zu einer suizidalen Krise führen kann (Hurrelmann / Quenzel 2016). Ausschlaggebend sind dabei Risiko- und Schutzfaktoren, die bei jedem Menschen individuell je nach Alter, Geschlecht, dem jeweiligen Entwicklungstand sowie dem kulturellen Hintergrund betrachtet werden müssen (Schmidt/ Schultze-Lutter 2020). Haben sich suizidale Gedankengänge einmal etabliert, kann das Erklärungsmodell des präsuizidalen Syndroms (Ringel 1953) hilfreich sein, um eine suizidale Krise realistisch einzuschätzen. Die Arbeitsweise im akutpsychiatrischen Setting entspricht meiner Erfahrung nach nicht den klassischen tiefenpsychologischen Langzeittherapien mit aufdeckenden Methoden, die ich in der Tanztherapieausbildung gelernt habe. Dennoch wende ich zum großen Nutzen meiner PatientInnen das gesamte Repertoire an Übungen zur Körperwahrnehmung, Aktivierung, Interaktionsförderung und Stabilisierung an, welche ich als Tanz- und Bewegungstherapeutin im Laufe der Jahre gelernt habe. Das Fallbeispiel illustriert hierbei realitätsnah, wie auf einer Akutstation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet werden kann, wenn gute innere und äußere Faktoren zusammenkommen. Suizidalität im Jugendalter ist ein ernsthaftes Gesundheitsproblem, dem sich gerade Tanz- und BewegungstherapeutInnen mit Leidenschaft widmen sollten, um eine PatientInnengruppe zu erreichen, die von kreativer und einfühlsamer Tanz- und Bewegungstherapie profitiert. Suizidalität im Jugendalter 4 | 2023 177 Literatur Bojack, B. (2010): Der Suizid im Kinder- und Jugendalter. Wismarer Diskussionspapiere 2. HWS-Hochschule, Wismar Dreier, M., Liebherz, S., Härter, M. (2018): Psychische Gesundheit. Suizidalität. In: www.psychenet.de/ de/ psychische-gesundheit/ themen/ suizidalitaet.html, 24.6.2023 Havighurst, R. J. (1953): Human development and education. David McKay, New York Homann, K. (2021): Embodied brain: How the body lives within the mind. In: www.iacaet.org/ event/ embodied-brain-how-the-body-lives-within-the-mind, 15.5.2023 Hurrelmann, K., Quenzel, G. (2016): Lebensphase Jugend. 13. Aufl. Beltz Juventa, Weinheim Kalisch, R., Cramer, A. O. J., Binder, H., Fritz, J., Leertouwer, I., Lunansky, G., Meyer, B., Timmer, J., Veer, I. M., van Harmelen, A.-L. (2019): Deconstructing and reconstructing resilience: A dynamic network approach. Perspectives on Psychological Science 14 (5), 765-777, https: / / doi.org/ 10.1177/ 1745691619855637 Plener, P. L., Groschwitz, R. C., Kapusta, N. D. (2017): Suizidalität im Kinder- und Jugendalter. Nervenheilkunde 36 (4), 227-232, https: / / doi. org/ 10.1055/ s-0038-1627009 Radeloff, D., Lempp, T. Albowitz, M., Oddo, S., Toennes, S. W., Schmidt, P. H., Freitag, C. M., Kettner, M. (2012): Suizide im Kindes- und Jugendalter. Eine 13-Jahreserhebung im Einzugsgebiet einer deutschen Großstadt. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 40 (4), 263-269, https: / / doi. org/ 10.1024/ 1422-4917/ a000179 Ringel, E. (1953): Der Selbstmord. Abschluß einer krankhaften Entwicklung. 5. Aufl. Maudrich, Wien / Düsseldorf Schmidt, S. J., Schultze-Lutter, F. (2020): Resilienz, Wohlbefinden und psychische Gesundheit im Kindes- und Jugendalter. Therapeutische Umschau 77 (3), 117-123, https: / / doi.org/ 10.1024/ 0040-5930 / a001165 Schnell, M. (2005): Suizidale Krisen im Kindes- und Jugendalter. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 54 (6), 457-472 Toomey, R. B., Syvertsen, A. K., Shramko, M. (2018): Transgender adolescent suicide behavior. Pediatrics 142 (4), e20174218, https: / / doi. org/ 10.1542/ peds.2017-4218 World Health Organization (2014): Preventing suicide: A global imperative. In: www.who.int/ publications/ i/ item/ 9789241564779, 7.6.2023 Anne Labbé Bachelor Psychologie, Tanztherapeutin BTD. Die Autorin arbeitet seit über zehn Jahren mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Settings. Sie ist seit 2021 in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Berlin als Tanz- und Bewegungstherapeutin angestellt. ✉ Anne Labbé Dance Therapy Berlin dancetherapyberlin@icloud.com