eJournals körper tanz bewegung 12/1

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2024.art02d
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2024
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Fachbeitrag: Integrative Budotherapie zur Deeskalation

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2024
Hermann Ludwig
Frank Siegele
Integrative Budotherapie ist ein spezieller methodischer Ansatz im Rahmen der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie (IBT). Eine wichtige Grundlage dieses Ansatzes ist das Integrative Lernkonzept, das vielfältige Aspekte des Komplexes Gehirn–Körper/Leib–Umwelt einbezieht, wodurch Lernen auch immer ein embodied learning ist. Der vorliegende Artikel beschreibt anhand eines Deeskalationstrainings für Mitarbeitende im Pflegebereich, wie mit Hilfe kampfkunstbasierter Techniken komplexe Lernprozesse gefördert und Deeskalationsstrategien implementiert werden können.
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Fachbeitrag 2 körper-- tanz-- bewegung 11. Jg., S. 2-10 (2024) DOI 10.2378/ ktb2024.art02d © Ernst Reinhardt Verlag Integrative Budōtherapie zur Deeskalation Traditionelle Kampfkunst trifft auf moderne Kognitionstheorien Hermann Ludwig und Frank Siegele Integrative Budōtherapie ist ein spezieller methodischer Ansatz im Rahmen der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie (IBT). Eine wichtige Grundlage dieses Ansatzes ist das Integrative Lernkonzept, das vielfältige Aspekte des Komplexes Gehirn-Körper / Leib-Umwelt einbezieht, wodurch Lernen auch immer ein embodied learning ist. Der vorliegende Artikel beschreibt anhand eines Deeskalationstrainings für Mitarbeitende im Pflegebereich, wie mit Hilfe kampfkunstbasierter Techniken komplexe Lernprozesse gefördert und Deeskalationsstrategien implementiert werden können. Schlüsselbegriffe Budōtherapie, 4E-Kognition, Deeskalationstraining, Pflegeberufe, embodied learning Integrative Budō Therapy for De-escalation. Traditional Martial Art Meets Modern Theories of Cognition Integrative Budō Therapy is a special methodological approach within the framework of Integrative Body and Movement Therapy (IBT). An important basis of this approach is the integrative learning concept, which includes several aspects of the brain-body / subjective body-environment complex, which means that learning is always embodied learning. This article describes, by means of a de-escalation training for nursing staff, how martial arts-based techniques can be used to promote complex learning processes and implement de-escalation strategies. Key words budō therapy, 4E-cognition, de-escalation training, nursing, embodied learning W enn traditionelle Kampfkunst auf moderne Kognitionstheorien trifft, dann können fruchtbare Synthesen entstehen, die für die Arbeit mit Menschen in therapeutischen, agogischen oder beraterischen Kontexten von Nutzen sind. In all diesen Kontexten geht es letztendlich um Lernen oder genauer um die Frage: Wie lernen Menschen möglichst gut und nachhaltig? Wir möchten in diesem Artikel Möglichkeiten aufzeigen, wie die Integrative Budōtherapie im Bereich der Erwachsenenbildung-- dargestellt anhand eines Deeskalationstrainings für Krankenschwestern und -pfleger-- eingesetzt werden kann und so im Sinne eines Embodied Learning, eines verkörperten Lernens, einen attraktiven Bildungsansatz bieten kann. Integrative Budōōtherapie zur Deeskalation 3 1 | 2024 Budō und Integrative Budōtherapie Budō ist der Oberbegriff für die japanischen Kampfkünste, die sich wiederum aus den alten Kriegskünsten (Bujutsu) entwickelten. In der Edo-Periode (1603-1868) wurde Japan politisch weitgehend geeint und befriedet. Insbesondere die Samurai (der Kriegsadel) verloren in dieser Zeit ihre primäre Aufgabe, den Militärdienst, und wurden zunehmend mit zivilen Aufgaben betraut. Das Üben der Kampfkunst führten die Samurai vermutlich zunächst weiter. Durch den Einfluss von religiösen und weltanschaulichen Strömungen (z. B. Daoismus, Konfuzianismus, Shinto und Zen-Buddhismus) entwickelten sich aus den ehemaligen Kriegstechniken Kunstformen: die Kampfkünste (Dioszeghy-Krauß 2014, 86 ff ). Die Integrative Budōtherapie ist eine leib- und bewegungstherapeutische Methode (Petzold 1996), die in der Psycho- und Sozialtherapie, in der Pädagogik und Erwachsenenbildung sowie im Coaching zur Anwendung kommt (Höhmann-Kost/ Siegele 2004). Sie fußt auf einem komplexen Verständnis des menschlichen Daseins, wie es von H. G. Petzold und Mitarbeiter- Innen im Konzept des „informierten Leibes“ ausgearbeitet und klinisch angewandt wurde (Petzold 2000), und ist als ein methodischer Ansatz im Rahmen der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie zu sehen (Waibel et al. 2009). Sie greift wesentliche Konzepte der traditionellen Kampfkünste auf und stellt gleichzeitig Verbindungen und Anschlüsse an Konzepte abendländischen Denkens und westlicher Psychotherapie her. Als Beispiele seien die in den asiatischen Kampf- und Wegkünsten vorhandenen Übungstraditionen genannt. Sie lassen sich als Formen der Selbstkultivierung und der Selbstsorge verstehen und sind beispielsweise mit den antiken Praktiken der Askese vergleichbar (Krings 2017). Gleichzeitig ist dieses Üben auf Dauer angelegt. Es ist etwas „Unabschließbares, ein […] anhaltendes Üben“ (Krings 2017, 186), ein Übungsweg, den man in seinem Leben geht. Wir können hier wiederum Parallelen zwischen dem Konzept des Weges (do) und der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne (life span developmental approach) erkennen (Baltes 1990; Petzold 2003, 515-605) oder auch der Philosophie der Lebenskunst und der Oikeiosis der Stoiker (z. B. Seneca) (Petzold 2019). Anschluss finden die alten Übungstraditionen auch an die neuzeitliche Philosophie und Psychotherapie. Sloterdijk nennt all die „Formen selbstbezüglichen Übens und Arbeitens an der eigenen vitalen Form“ Anthropotechniken (Sloterdijk 2012, 59). In der Integrativen Therapie schließlich wurden die Formen der Selbstkultivierung und Selbstsorge in eine „Philosophie des Weges“ integriert (Petzold / Orth 2009), und nicht zuletzt ist das Üben neuer Verhaltensweisen auch ein wesentlicher Aspekt der Verhaltenstherapie. Eine solche Übertragung fernöstlicher Ideen und Konzepte in moderne Kontexte ist ein zentrales Anliegen der Integrativen Budōtherapie. Denn die fernöstlichen Konzepte haben sich in einem kulturgeschichtlichen Zusammenhang entwickelt, der den modernen, westlichen Menschen in der Regel sehr fremd ist. Damit wir aber in unserem kulturellen Kontext-- sei es in der Therapie, Beratung oder Bildung- - die Kernsubstanz fernöstlicher Konzepte verstehen und von ihr profitieren können, bedarf es der oben beschriebenen „Transponierung in moderne Kontexte“ (Bloem et al. 2004, 71). Hier unterscheidet sich die Integrative Budōtherapie von anderen kampfkunstbasierten, bewegungstherapeutischen Ansätzen (z. B. Wolters 2020; Schröder / Brendel 2004), die durchaus maßgebliche Arbeiten zum Einsatz von Kampfkunst im Feld von Pädagogik und Therapie geleistet haben. Dennoch fehlt in diesen Konzepten-- nach unserer Ansicht-- eine Transponierung fernöstlicher Ideen in zeitgeschichtlich aktuelle Kontexte und der aktuelle Wissensstand von für die Pädagogik und Therapie bedeutsamen Disziplinen. Beispiels- 4 Ludwig, Siegele 1 | 2024 weise wurden die Aggressions- oder Therapieforschung, die Neurobiologie und auch die Sportmedizin bislang nicht eingearbeitet. Dies wiederum ist ein zentrales Merkmal der Integrativen Budōtherapie. Moderne Kognitionstheorien Als methodischer Ansatz innerhalb der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie (IBT) (Waibel et al. 2009) beruht die Integrative Budō-therapie verständlicherweise auf den grundlegenden Konzepten der IBT. Von größter Bedeutung ist hier die Sichtweise auf das menschliche Sein, die in der folgenden anthropologischen Grundformel zum Ausdruck kommt: „Menschen-- Frauen und Männer-- verfügen in ihrer Hominität, ihrem Menschenwesen, über körperliche, seelische, geistige Dimensionen und leben in soziokulturellen und ökologischen Lebenskontexten und in einem Vergangenheits- Gegenwarts-Zukunfts-Kontinuum. Sie sind Leib- Subjekte in der Lebenswelt-- subjects embodied and embedded. Das macht ihre Menschennatur aus, die in beständigen Gestaltungsprozessen steht“ (Petzold 2000, 2003, 2012). Diese Sichtweise bestimmt auch die Vorstellung vom menschlichen Lernen als „ultrakomplexe Syntheseleistung von unterschiedlichsten, hochvernetzten Prozessen des Leibsubjektes und seiner ‚wahrgenommenen‘ relevanten Umwelt“ (Petzold 2006, 16). In Lernprozesse ist demnach der gesamte Komplex Gehirn- - Körper-- Umwelt mit den jeweiligen dynamischen Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen involviert. Die Integrative Therapie hat dieses Verständnis schon sehr früh zum Ausdruck gebracht und wird durch die aktuellen Theoriebildungen der Neuro- und Kognitionswissenschaften bestätigt. Von Bedeutung ist hier vor allem die sogenannte 4E-Perspektive (Newen et al. 2018 und Stefan 2020). Danach sind mentale Prozesse: ● verkörpert (embodied): Der Körper, seine Beschaffenheit und Funktionen, seine Motorik und Sensorik sind nicht nur die Hardware für Lernprozesse, sondern körperliche, sensomotorische Erfahrungen sind wichtige Bedingungen für diese und beeinflussen sie. Körperliche Zustände haben Einfluss auf das Denken und Handeln, wie auch Denken und Handeln Einfluss auf körperliche Zustände haben. ● in die Lebenswelt eingebettet (embedded): Sie vollziehen sich in einer für sie konstitutiven Umwelt, in einem historischen und sozialen Kontext (Stefan 2020, 92). Die Lebenswelt, Kontext und Kontinuum sind also maßgeblich oder begründend für Lernprozesse. Man kann sie nicht unbeachtet lassen. ● enaktiv (enacted): Aus der Tatsache, dass die Sensomotorik eine wichtige Bedingung für Lernprozesse ist (Embodiment) ergibt sich, dass lebendige Organismen sich durch aktive Handlungen Wissen erschließen. Sie repräsentieren ihre Umwelt nicht bloß aus einer Art Beobachterperspektive, um dann zu handeln. Die Repräsentation der Umwelt und mentale Prozesse überhaupt vollziehen sich in der Interaktion mit der jeweiligen Lebenswelt (Stefan 2020, 92). In diesem Zusammenhang wird Konfuzius folgendes Zitat zugeschrieben: „Sage es mir-- Ich werde es vergessen! Erkläre es mir- - Ich werde mich erinnern! Lass es mich selber tun-- Ich werde verstehen! “ ● auf andere Bereiche ausgedehnt oder erweitert (extended) (Clark/ Chalmers 1998): Sie reichen in den nicht-neuronalen Körper und in dessen Umwelt hinein. Dabei entsteht eine reziproke Bedingtheit, ein gekoppeltes System, bei dem sich die mentalen Prozesse und die externen Komponenten gegenseitig beeinflussen. So hängt das, was wir hören und sehen, wesentlich auch davon ab, was wir wissen, und eine komplexe Rechenoperation, die wir mit Papier und Bleistift durchführen, hängt eben auch Integrative Budōōtherapie zur Deeskalation 5 1 | 2024 von diesen Medien ab und umgekehrt (Institut für Kunst und Kunsttheorie der Universität zu Köln 2018). Solche gekoppelten Systeme entstehen natürlich auch, wenn wir mit anderen Menschen im Austausch sind, wie beispielsweise in Therapie- oder Lerngruppen. Auch hier kann zwischen den mentalen Prozessen der einzelnen Subjekte eine reziproke Bedingtheit entstehen, bei der sich die einzelnen mentalen Prozesse gegenseitig beeinflussen. So können kreative Lösungsmöglichkeiten für Probleme entstehen oder emergieren. In der hier beschriebenen Arbeit mit Krankenschwestern und -pflegern legten wir ein solch komplexes Verständnis von Lernen zugrunde, was nach Aussagen der TeilnehmerInnen zu einer hohen Akzeptanz des Trainings und zu nachhaltigen Erkenntnissen und Lernerfolgen führte. Situation in Pflegeberufen Pflegeberufe, wie die Altenpflege und die Gesundheits- und Krankenpflege, zählen laut Institut der deutschen Wirtschaft zu den Berufen mit dem größten Fachkräftemangel (Hickmann / Koneberg 2022). Das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA) stellt fest, dass mehr als acht von zehn Stellen unbesetzt bleiben (Seyda et al. 2021). Diese Situation führt zu erheblichen physischen und psychischen Belastungen der in diesen Berufen Arbeitenden. So verzeichnet man ein kontinuierliches Ansteigen des Krankenstandes und insbesondere eine Zunahme der psychischen Erkrankungen wie in keiner anderen Branche, was die Mangelsituation weiter verschärft (Schlingensiepen 2022). Die erhöhte Belastung führt zu einem starken Stresserleben, das die Kommunikation und den Umgang mit PatientInnen und deren Angehörigen erschwert. TeilnehmerInnen unserer Fortbildung sagen selbst, dass sie oft nicht mehr wertschätzend und zugewandt reagieren können. Integrative Budōtherapie und Deeskalationstraining-- Embodied Learning Wir möchten nun anhand dreier Beispiele einen kurzen Einblick in die Arbeit mit den Gesundheits- und KrankenpflegerInnen geben, die in der ersten Hälfte des Jahres 2023 stattfand. Die Veranstaltung wurde als Fortbildung für MitarbeiterInnen aller Berufsgruppen in der klinischen Notaufnahme ausgeschrieben mit dem Ziel, mit Gewaltphänomenen am Arbeitsplatz sowie im Alltag professionell, sicher und deeskalierend umgehen zu können. Die Fortbildung wurde zweimal an unterschiedlichen Standorten durchgeführt und bestand jeweils aus einem zweitägigen Basisseminar (16-Stunden) und einem eintägigen Follow-up- Seminar (8 Stunden) ca. vier bis sechs Wochen später. Die Inhalte wurden theoretisch (Vorträge, Diskussionen) und praktisch (Körper- und Bewegungsübungen, Techniktraining, Rollenspiele) vermittelt. Trainer waren die Autoren dieses Artikels. Verneigung Am Anfang aller Partnerübungen, die wir im Rahmen des Deeskalationstrainings anbieten, steht die Verneigung (Abb. 1). Sie verkörpert die Haltung, dass wir unserem Gegenüber, auch in der Auseinandersetzung, grundsätzlich wohlgesonnen, ja zugeneigt sind. Diese innere und äußere Haltung wird immer wieder in Kombination mit einem Gefühl von Wohlwollen und Zuneigung geübt, um es später auch ggf. mental aufzurufen. Achtsamkeit für das Gegenüber Pflegende müssen immer wieder entscheiden, welche Aufgaben sofort erledigt werden müssen und welche später. Das führt nicht 6 Ludwig, Siegele 1 | 2024 selten zu Konfliktsituationen, da PatientInnen sich vernachlässigt fühlen und zuweilen auch werden, da dies aktuell aufgrund hoher Arbeitsbelastung und Personalknappheit unvermeidbar ist. Hier gilt es, einerseits die eigene Position zu verteidigen und andererseits die Position und Bedürfnisse der PatientInnen nicht aus dem Auge zu verlieren. Als Modell für solche Konfliktsituationen dient uns beispielsweise eine Schlagreihenfolge mit Kurzstäben aus dem Escrima (Abb. 2). Die TeilnehmerInnen werden in dieser Übung dafür sensibilisiert, ihren Standpunkt zu verteidigen und gleichzeitig das Gegenüber nicht zu schädigen. Nachdem die Technik ausreichend beherrscht wird, ermutigen wir die TeilnehmerInnen dazu, sich beispielsweise eine Situation vorzustellen, in der man unbedingt etwas durchsetzen wollte und in der man für die eigenen Bedürfnisse auch gegen Widerstände gekämpft hat. Das erfordert komplexe Achtsamkeit (für mich selbst, mein Gegenüber und die gesamte Situation) (Petzold et al. 2012a / b) insbesondere dann, wenn die Schlagintensität oder das Tempo höher werden. Auf diese Weise wird nicht nur ein Bewusstsein für die wechselseitige „Verletzungsmacht“ und „Verletzungsoffenheit“ (Popitz 1992) geschaffen, sondern sie wird auf der leiblichen Ebene erlebbar gemacht. Mitgehen Neben der Sensibilisierung für Verletzungsmacht und -offenheit ist es auch wichtig, dass Pflegende in ihrer professionellen Rolle den PatientInnen und ihren Bedürfnissen mit „einfühlendem Verstehen“ (Petzold et al. 2016) begegnen. Wegen der immensen Arbeitsbelastung und dem daraus resultierenden Stresserleben ist dies im Alltag oft nur schwer möglich, was zur weiteren Eskalation von Konflikten und zusätzlichem Stresserleben führen kann. Zur frühzeitigen Deeskalation solcher Situationen ziehen wir ein wesentliches Prinzip des Aikido heran. Im Aikido wird das Ideal der Deeskalation betont (Dioszeghy-Krauß 2014, 307). Das heißt, Abb. 1: Verneigung (Alle Abb.: Hermann Ludwig / Frank Siegele) Abb. 2: Übung aus dem Escrima Integrative Budōōtherapie zur Deeskalation 7 1 | 2024 die meisten Techniken zielen nicht mehr darauf ab, die AngreiferIn zu vernichten, sondern die Bewegungsenergie des Angriffs wird genutzt, um sie kontrolliert in einen Wurf oder Haltegriff umzuleiten und nicht zu kontern oder Schmerz zuzufügen (Rebholz 2014, 43). Dies bedeutet, dass wir Schwierigkeiten oder Forderungen nicht ausweichen, sondern sie bejahen, uns ihnen stellen und gemeinsam einen Umgang mit ihnen finden. Hierzu bieten wir beispielsweise folgende Übung an: TeilnehmerIn A greift TeilnehmerIn B mit einer Hand am Handgelenk und führt B durch den Raum. B hat die Aufgabe, sich hieraus sanft zu befreien. Dies gelingt in der Regel am besten, indem B eine Weile mit A mitgeht, um eine Position zu erlangen, in der sie / er sich durch eine Drehbewegung der eigenen Hand sanft aus dem Griff lösen kann (Abb. 3). Begleitet werden kann die körperliche Aktivität durch Forderungen, wie sie im Pflegealltag nicht selten auftreten (Griff des Handgelenkes entspricht z. B. der Forderung: „Ich möchte jetzt sofort einen Arzt sprechen“). Das Mitgehen durch den Raum wird verbal von einem „Ja“ begleitet (z. B. „Ja, ich erkenne, dass Ihnen ein Gespräch mit dem Arzt jetzt wichtig ist! “). Das Lösen aus dem Griff wird verbal unterstützt z. B. durch Worte wie: „Zunächst werde ich mich aber um PatientIn XY kümmern, dann um Ihr Anliegen.“ Durch das „Mitgehen“ und das „Ja“ wird das Anliegen der PatientIn wahrgenommen und akzeptiert, auch wenn es nicht sofort erfüllt werden kann. Derartige „Techniken der Anerkennung“ können regulierend auf die Stressphysiologie aller Beteiligten und damit in einem sehr frühen Stadium deeskalierend wirken: auf Seiten der Pflegenden, indem über Abb. 3: Lösen aus einem Griff 8 Ludwig, Siegele 1 | 2024 Akzeptanz ein Aufschaukeln negativer Gefühle verlangsamt oder verhindert wird (Harrer / Weiss 2016, 126), bei den PatientInnen, indem die wohlwollende Haltung eine Oxytocinausschüttung anregt, die das „interne Beruhigungssystem“ beeinflusst (Roth / Strüber 2014, 357). Embodied-- Embedded-- Enacted-- Extended In allen drei Übungsbeispielen wird deutlich, dass Lernen hier verkörpert (embodied) stattfindet. Die wertschätzende Haltung für das Gegenüber, die komplexe Achtsamkeit wie auch deeskalierende Handlungsstrategien werden nicht nur theoretisch vermittelt, sondern leiblich erfahrbar. Gleichzeitig werden die Lerninhalte in einem wertschätzenden, von Wohlwollen geprägten Kontext (embedded) vermittelt. Über Bewegungssequenzen und eigenes Experimentieren kann außerdem Neugier geweckt werden. Solche affektiven Qualitäten haben „Operatorwirkung“ in dem Sinne, dass sie auf Denk- und Lernprozesse einwirken (Ciompi 2003, 65). Sie sind mitentscheidend für den Lernerfolg, weil sie zusammen mit dem Wissensinhalt abgespeichert werden (Roth 2003; siehe hierzu auch Sieper / Petzold 2011 zum Thema „komplexes Lernen“). Deutlich ist auch, dass durch den leib- und bewegungsorientierten Ansatz neues Wissen und neue Kompetenzen durch aktives Handeln (enacted) erschlossen werden. Das gemeinsame Üben und Ausprobieren von beispielsweise unterschiedlichen Deeskalationsstrategien, die konkrete Übertragung in den Pflegealltag sowie der anschließende Austausch darüber beinhalten eine aktive Auseinandersetzung mit der gegebenen Umwelt. Gerade im Austausch über die unterschiedlichen Erfahrungen kommt die Erweiterung (extendedness) mentaler Prozesse zum Ausdruck. Die unterschiedlichen Perspektiven, die die Teilnehmenden mitbringen und zur Verfügung stellen, können dazu anregen, Neues auszuprobieren oder auch veränderte Sichtweisen und Einstellungen zu übernehmen. Literatur Baltes, P. B. (1990): Entwicklungspsychologie der Lebensspanne: Theoretische Leitsätze. Psychologische Rundschau 41, 1-24 Bloem, J., Moget, P. C., Petzold, H. G. (2004): Budo, Aggressionsreduktion und psychosoziale Effekte: Faktum oder Fiktion? Forschung, Aggressionspsychologie, Neurobiologie. Integrative Therapie 1 / 2 (30), 101-149 Ciompi, L. (2003): Affektlogik, affektive Kommunikation und Pädagogik. Eine wissenschaftliche Neuorientierung. Report. Literatur und Forschungsreport Weiterbildung 26 (3), 62-70 Clark, A., Chalmers, D. (1998): The extended mind. Analysis 58 (1), 7-19, https: / / doi. org/ 10.1093/ analys/ 58.1.7 Dioszeghy-Krauß, V. (2014): Aikido-- die liebevolle Kampfkunst-- üben und lehren. Kristkeitz, Heidelberg Harrer, M., Weiss, H. (2016): Wirkfaktoren der Achtsamkeit-- wie sie die Psychotherapien verändern und bereichern. Schattauer, Stuttgart Hickmann, H., Koneberg, F. (2022): Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken. IW-Kurzbericht Nr. 67, Institut der Deutschen Wirtschaft, Köln. In: www.iwkoeln.de/ studien/ helen-hickmann-filiz-koneberg-die-berufe-mit-den-aktuellgroessten-fachkraefteluecken.html, 24.5.2023 Höhmann-Kost, A., Siegele, F. (2004): Arbeit an sich selbst-- Der „Weg der Übung“. Kampfkünste in der Integrativen Therapie und Supervision Suchtkranker. Integrative Therapie 1 / 2, 6-23 Institut für Kunst und Kunsttheorie der Universität zu Köln (2018): Embodied learning lab. Extended mind. In: kunst.uni-koeln.de/ embodiedlearninglab/ extended-mind/ , 16.4.2023 Krings, L. (2017): Leibliches Üben als Teil einer philosophischen Lebenskunst. Die Verkörperung von Kata in den japanischen Wegkünsten. European Journal of Japanese Philosophy 2, 179-197 Newen, A., de Bruin, L., Gallagher, S. 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G., Moser, S., Orth, I. (2012b): Euthyme Therapie-- Heilkunst und Gesundheitsförderung in asklepiadischer Tradition. Teil 2. Psychologische Medizin 4, 42-59 Petzold, H. G., Orth, I. (2009): Unterwegs zum Selbst und zur Weltbürgergesellschaft. Wegcharakter und Sinndimension des menschlichen Lebens. Perspektiven Integrativer Kulturarbeit-- Hommage an Kant. Polyloge 9. In: www.fpi-publikation.de/ downloads/ ? doc=polyloge_petzold_orth_unterwegsselbst_2004b_ polyloge_09-2009.pdf, 24.5.2023 Petzold, H. G., Orth, I., Sieper, J. (2016): „14 plus 3“. Einflussfaktoren und Heilprozesse im Entwicklungsgeschehen: Belastungs-, Schutz- und Resilienzfaktoren-- Die 17 Wirk- und Heilfaktoren in den Prozessen der Integrativen Therapie. Polyloge 31. In: www.fpi-publikation.de/ polyloge/ 31-2016-petzold-h-g-orth-i-sieper-j-2014d- 2016n-14-plus-3-einflussfaktoren-und-heilprozesse-im-entwicklungsgeschehen-belastungs-schutz-und-resilienzfaktoren/ , 24.5.2023 Popitz, H. (1992): Phänomene der Macht. 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(2011): „Komplexes Lernen“ in der Integrativen Therapie und Supervision-- seine neurowissenschaftlichen, psychologischen und behavioralen Dimensionen. Supervision 4. In: www.fpi-publikation.de/ downloads/ ? doc=sieper-petzold-komplexes-lernen-integrative-therapie-neurowissenschaftlich-psychologisch-04-2011.pdf, 24.5.2023 Sloterdijk, P. (2012): Du mußt dein Leben ändern. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Stefan, R. (2020): Zukunftsentwürfe des Leibes. Integrative Psychotherapiewissenschaft und kognitive Neurowissenschaften im 21. Jahr- 10 Ludwig, Siegele 1 | 2024 hundert. Springer, Wiesbaden, https: / / doi. org/ 10.1007/ 978-3-658-27924-0 Waibel, M. J., Petzold, H. G., Orth, I., Jakob-Krieger, C. (2009): Grundlegende Konzepte der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie (IBT). In: Waibel, M. J., Jakob-Krieger, C. (Hrsg.): Integrative Bewegungstherapie. Störungsspezifische und ressourcenorientierte Praxis. Schattauer, Stuttgart/ New York, 1-20 Wolters, J. M. (2020): Kampfkunst als Therapie. Die sozialpädagogische Relevanz asiatischer Kampfsportarten. Books on Demand, Norderstedt Frank Siegele Psychotherapeut MSc, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Diplom-Supervisor, Budōtherapeut, Lehrtherapeut an der Europäischen Akademie für bio-psycho-soziale Gesundheit, Naturtherapien und Kreativitätsförderung EAG. Dr. Hermann Ludwig Diplom-Sportlehrer, Integrativer Leib- und Bewegungstherapeut, Budōtherapeut, Lehrtherapeut an der Europäischen Akademie für bio-psycho-soziale Gesundheit, Naturtherapien und Kreativitätsförderung EAG ✉ Dr. Hermann Ludwig / Frank Siegele Institut für Budōtherapie Teichstraße 2 | D-30449 Hannover ludwig.hermann@icloud.com