eJournals körper tanz bewegung 12/1

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2024.art05d
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2024
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Forum: Berührungen und Trauma

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2024
Hanna Kysely
Der Artikel behandelt die Problematik und das Potential von Berührung in der Arbeit mit traumatisierten Menschen. Der Wunsch nach Berührung ist ein tiefes menschliches Bedürfnis. In der Therapie mit traumatisierten Menschen stoßen wir jedoch immer wieder auf Schwierigkeiten, eben diese zuzulassen. Anhand von Praxisbeispielen werden die Formen von Berührung in der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie (IBT) im therapeutischen Kontext aufgezeigt und ggf. mit theoretischem Hintergrundverständnis untermauert. Die Autorin greift dabei vor allem auf ihre praktischen Erfahrungen als IBT-Therapeutin in einer psychosomatischen Klinik zurück.
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Forum: Aus der Praxis 28 körper-- tanz-- bewegung 12. Jg., S. 28-35 (2024) DOI 10.2378/ ktb2024.art05d © Ernst Reinhardt Verlag Berührungen und Trauma Fallbeispiele aus der Praxis Hanna Kysely Der Artikel behandelt die Problematik und das Potential von Berührung in der Arbeit mit traumatisierten Menschen. Der Wunsch nach Berührung ist ein tiefes menschliches Bedürfnis. In der Therapie mit traumatisierten Menschen stoßen wir jedoch immer wieder auf Schwierigkeiten, eben diese zuzulassen. Anhand von Praxisbeispielen werden die Formen von Berührung in der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie (IBT) im therapeutischen Kontext aufgezeigt und ggf. mit theoretischem Hintergrundverständnis untermauert. Die Autorin greift dabei vor allem auf ihre praktischen Erfahrungen als IBT-Therapeutin in einer psychosomatischen Klinik zurück. Schlüsselbegriffe Berührung, Trauma, Leib, Körper Touch and Trauma. Case Studies from Practice The article discusses the problems and the potential of using touch in working with traumatized individuals. The desire for touch is a deep human need. However, in therapy with traumatized persons, we are confronted time and again with the difficulty of engaging in touch. Based on practical examples, the forms of touch in Integrative Body and Movement Therapy (IBT) in a therapeutic context are shown and underpinned with IBT’s theoretical background understanding. The author draws mainly on her practical experience as an IBT therapist in a psychosomatic clinic. Key words touch, trauma, body Berührung im Kontext der Corona-Pandemie D ie Auswirkungen der Coronapandemie betraf die gesamte Bevölkerung, besonders Ängste nahmen zu. Eine der im Jahr 2020 neu eingeführten Corona-Hygieneregeln war, dass man sich nicht mehr ins Gesicht fassen sollte, um der Ausbreitung des Coronavirus entgegenzuwirken. Im gleichen Jahr veröffentlichte der Haptikforscher Grunwald und sein Team die folgenden Studienerkenntnisse: So fasst sich der Mensch ca. 300 bis 400mal am Tag unbewusst ins Gesicht, unter anderem, um erlebten Stress zu bewältigen und zu reduzieren (Grunwald 2020). Bereits im Uterus fasst sich der Embryo ständig im Gesicht an. Auch konnte nachweislich gezeigt werden, dass die geforderte Isolierung, in Kombination mit dem Gebot, auf das Händeschütteln in der Corona Zeit zu verzichten, den Stress für die Menschen erhöhte. Wenn nun durch die Hygieneforderung, Berührungen und Trauma 1 | 2024 29 sich nicht mehr im Gesicht anzufassen, dieser Stress nicht mehr selbstreguliert werden kann und sogar dadurch noch erhöht wird, steht laut Grunwald und seinem Team der Nutzen dieser Maßnahmen nicht mehr im Verhältnis zu den potenziellen Schäden, den diese verursachen. Angenehme Berührungen können die Folgen von traumatischem Stress reduzieren. Klinische Erfahrung bei komplexer Traumatisierung In Körpertherapien mit PatientInnen, die eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) haben, werden Anleitungen, die Selbstberührungen beinhalten, oftmals nicht, ganz kurz oder mit deutlichem Unbehagen durchgeführt. Bei Nachfragen teilen die PatientInnen oft mit, dass sie sich nicht selbst anfassen möchten, da sie Berührungen, ob Fremd- oder Selbstberührungen, als ekelhaft, angstbesetzt oder einfach unnennbar schwierig empfinden. Gerade bei Erfahrungen von körperlicher oder sexueller Gewalt wird die Körpergrenze / Leibgrenze durch Berührung verletzt. Um mit diesen existenziell bedrohlichen Erfahrungen weiterzuleben, wird die Körperwahrnehmung möglichst vermieden. Finden Körper- / Leibwahrnehmungen doch statt, lösen sie nicht selten einen Kontrollverlust über Gefühle und nicht verarbeitete Traumainhalte aus. Dies ist nicht verwunderlich, da die traumatischen Erfahrungen so gut es geht verdrängt wurden, um überleben zu können. Dabei sind alle damit verbundenen Körper- / Leibwahrnehmungen, die Sinneswahrnehmung, die Gefühle, die Gedanken, unverbunden und damit unverarbeitet im Gehirn abgespeichert. Im therapeutischen Verlauf ist es oft ein langer Prozess, sich diesen Erfahrungen zuzuwenden und sie zu integrieren. Dieser Prozess ist die Grundlage, um sich wieder dem Thema Berührung anzunähern und Berührung möglich werden zu lassen. Berührung kann aber auch die Bearbeitung anregen / unterstützen und damit ein wichtiges Gegengewicht zu verletzenden Berührungen bieten. Integrative Leibtherapie Die Integrative Bewegungstherapie benutzt den Begriff „Leib“ in Abgrenzung zum Begriff „Körper“. Der Körper ist der biologische Organismus. Leib umfasst den ganzen Menschen, den Körper mit all seinen Gefühlen, Gedanken, seinem Willen, seinen psychischen und geistigen Prozessen-- seine gesamte Persönlichkeit (Waibel et al. 2009, 8, 27 ff, 273 f ). Folgende Formen der Berührung in der Therapie können unterschieden werden: ● Berührung ohne Körperkontakt: Auch ohne Körperkontakt berühren wir PatientInnen mit unseren Blicken, mit der Stimme, unserer Körperhaltung, der Gestik, Körperhaltung und Raumkonstellation (Non-Touching- Approach). ● Eigenleibliche Berührung: Der/ die PatientIn wird ermutigt, den eigenen Körper zu berühren und zu erkunden (Self-Touching-Approach). Dies kann mit den eigenen Händen oder mit einem Material wie einem Sandsäckchen geschehen. ● Berührung zwischen PatientInnen: Dies kann eine Geste des Trostes, der Zuwendung, Unterstützung oder eine Hilfestellung zur Körperwahrnehmung sein. ● Berührung durch den / die TherapeutIn: Der/ die TherapeutIn (Touching Approach, Waibel et al. 2009, 8) berührt den / die PatientIn in unterschiedlicher Intension und Intensität. Dies könnte eine Berührung des Trostes, des Halts oder Zuwendung oder der Konfrontation sein. Sie könnte auch zur Unterstützung der Aufmerksamkeitslenkung (z. B. der Atmung) dienen (Waibel et al. 2009, 8). Wichtig ist eine gute therapeutische Beziehung und die Achtung von Grenzen. 30 1 | 2024 Hanna Kysely Fallbeispiel Patientin A: Selbstberührung Therapiemotivation Frau A, 58 Jahre, kam in die stationäre Einzel- IBT mit dem Wunsch, ihren Körper / Leib zu akzeptieren, und dem Bedürfnis, sich abzugrenzen, im Besonderen von Männern. Gleichzeitig bestand das Bedürfnis nach Kuscheln mit einem noch imaginären Mann. Im Verlauf berichtete die Patientin über verschiedene früh erfahrene Traumata. Ihre Mutter schlug immer unberechenbar zu, zum Beispiel ihren Mund blutig vor dem Gang zur Grundschule. In ihrer Pubertät wurde sie von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht. Ihre Beziehungen zu Männern waren geprägt von großen Hoffnungen auf Liebe, Wiederholung von Erfahrungen von körperlicher Gewalt und Enttäuschungen. Berührungen in den Partnerschaften blieben für die Patientin sehr schwierig, sie hielt sie eher aus. Sie gebar zwei Söhne. Als diese noch Säuglinge und Kleinkinder waren, waren das Pflegen, die Berührungen mit diesen nicht nur möglich, sondern sehr liebevoll. Therapieverlauf Nachdem Frau A ihr großes Mitteilungsbedürfnis gestillt hatte, ließ sie sich auf erste Angebote der IBT zur Körperwahrnehmung ein. Zunächst begann die Arbeit an der konkreten Abgrenzung im Raum: Wieviel Platz braucht sie, wie nah kann die Therapeutin ihr kommen, um sich selbst noch gut zu spüren? Wie gut ist der Kontakt zum Boden, wie kann sie sich selbst durch ihre Atmung beruhigen? Bei den Angeboten zur Selbstberührung tauchten Schwierigkeiten auf. Die Berührung von ihrem Bauch und Unterleib führte sie nur ganz schnell und kurz durch, sie empfand sie ekelhaft. Deswegen richtete sich das Angebot zunächst auf die Berührung von Armen und Füßen wie Eincremen und sich selbst mit dem Igelball abzurollen. Zur Vertiefung der Wahrnehmung ihrer Atembewegungen konnte die Patientin ihre Hände auf die unteren Rippenbögen und in einem weiteren Schritt auf den Bauch legen. Auf die Frage der Therapeutin, woran sie bei der Berührung denke, berichtete die Patientin über Ängste, ungewohnte Empfindungen und selbstabwertende Gedanken. Auf die Frage, wo sie am liebsten berührt werden möchte, berührt wurde oder selbst berührt habe, konnte die Patientin die Intention entwickeln, sich zart und liebevoll zu berühren. Bilder wie „den Schmetterling behutsam tragen“, Erinnerungen, wie sie ihre Kinder als Säuglinge berührt und gehalten habe, unterstützten sie darin, Berührungen mit dieser Intention außerhalb der Therapieeinheiten durchzuführen. Sie besprach dieses Erleben sowohl mit der IBT-Therapeutin als auch mit der behandelnden Psychotherapeutin. Krise in der Therapie Frau A hatte weiter den verständlichen Wunsch nach Nähe zu einem Mann. Die IBT-Therapeutin bot an, sie an den Füßen zu berühren. Die therapeutische Beziehung war vertrauensvoll und schien gefestigt. Die Patientin legte sich mit dem Rücken auf den Boden, ließ die Augen offen und nahm das Angebot an, eine Decke zum Schutz um den Körper zu legen. Die Therapeutin fasste nach Absprache beide Füße an. Nach ein paar Sekunden erschien die Patientin der Therapeutin wie erstarrt. Diese fragte die Patientin, wie es ihr geht. Die Patientin antwortete, dass sie das Gefühl habe, nicht wegrennen zu können, dass sie gefesselt sei. Daraufhin nahm die Therapeutin ihre Hände weg, und die Patientin wurde zu einem selbstreflektierenden Gespräch eingeladen. Erkenntnis Frau A erkannte durch diese konfrontative Berührung, dass es für die aktive Erfüllung ihres Wunsches nach liebevollem Kuscheln mit einem Mann (keine bestehende Beziehung) zu früh war. Die Patientin fasste daraufhin das Ziel, zunächst ihre Fähigkeit des Abgrenzens Berührungen und Trauma 1 | 2024 31 zu festigen und sich mit liebevollem Selbstberühren zu beschäftigen. In der IBT fand sie dazu die Möglichkeit. Fallbeispiel Patientin B: indirekte Berührung durch Sandsäckchen Therapiemotivation Frau B kam zum vierten Aufenthalt zur Traumatherapie in die Klinik. Ihr Wunsch für die Einzel-IBT war, sich selbst ganz zu spüren. Durch die vorherigen Aufenthalte war bereits eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung zur IBT-Therapeutin entstanden. Im ständigen Dialog wurde Frau B mit unterschiedlich schweren Sandsäckchen beschwert. Sie befand sich in Rückenlage und gab an, wo sie mehr und weniger Gewicht haben wollte. Gegen Ende war ihre gesamte Körpervorderseite, ausschließlich ihrem Kopf, mit Sandsäckchen beschwert worden. Frau B lag längere Zeit in dieser Haltung. Sie spürte sich ganz und genoss diesen Zustand. Für zu Hause entstand die Idee, sich eine Gewichtsdecke zu zulegen. Studien zeigen, dass Gewichte Ängste reduzieren können (Mullen et al. 2008). Berührungen in der Gruppe In einer IBT-Gruppenstunde mit komplex traumatisierten Frauen lag das Hauptaugenmerk darauf, verschiedene Angebote zur Selbst- und Fremdberührung auszuprobieren. Zwei Frauen rollten sich gegenseitig mit dem Igelball den Rücken ab. Frau B wollte sich mit Sandsäckchen beschweren lassen, sie fand eine Partnerin, die dies nach ihrer Anweisung tat. Sie war zuvor sehr unruhig und fand dadurch zur inneren Ruhe. Einige Frauen fanden dies einerseits faszinierend, wollten dies aber nicht selbst ausprobieren, sie meinten, gar keine Luft zu bekommen bei diesem Anblick, sie nannten auch Angst. Angst machte die ausgelieferte Position am Boden, die Säckchen, die in der Vorstellung einengen und am Fortlaufen hindern würden. Die Partnerin von Frau B probierte es auch aus. Ihre Mitpatientinnen waren ganz erstaunt und interessiert daran, wie diese deutlich entspannte. Fallbeispiel Patientin C: Berührung durch die Therapeutin Therapiemotivation Frau C kam zur weiteren Unterstützung in die Einzel-Therapie, da sie in den Gruppensitzungen häufig stark angespannt, unkonzentriert, abwesend war. Neben den früh im Leben erfahrenen Körpergrenzverletzungen machte die Patientin auch die Erfahrung von mangelnder körperlicher Zuwendung und Berührung. Therapieverlauf Die Patientin baute schnell eine vertrauensvolle Beziehung zur Therapeutin auf. Dies war die Voraussetzung dafür, dass sie zulassen konnte, sich direkt von der Therapeutin berühren zu lassen. Im ersten Schritt waren dies die Füße. Die Therapeutin hielt ihre Füße, die Patientin sah, was die Therapeutin tat, die Therapeutin sagte auch immer, bevor sie etwas tat, was sie vorhabe, und fragte, ob dies so in Ordnung sei. Die Patientin wurde auch immer gefragt, ob die Lage, der Druck, die Dauer der Berührung in Ordnung seien. Die Therapeutin meldete der Patientin zurück, was sie eigenleiblich im Kontakt mit der Patientin wahrnahm, z. B. starke Anspannung, Lösen, Härte. Im Dialog wurde der Berührungskontakt immer wieder verändert, bis er für die Patientin ganz stimmig war. Dann entschied sich die Patientin dafür, dass die Therapeutin ihren Kopf halten sollte. Auch bei diesem Halten standen Patientin und Therapeutin im ständigen Dialog. Mit der Zeit konnte die Patientin immer mehr das Gewicht ihres Kopfes abgeben, sie empfand, dass sie umfassend gehalten wurde. Der Wunsch der Patientin war in einer Folgestunde, dass auch ihr Bauch von der Thera- 32 1 | 2024 Hanna Kysely peutin berührt würde. Auch dieses Touching Approach geschah in feiner Abstimmung, in der Patientin entstand das Gefühl von Geschütztwerden. Für zuhause entwickelte die Patientin die Idee, sich dieses Körpergefühl mit einem Bettlaken zu verschaffen. Die Patientin brachte zur Folgestunde ihr Laken mit. Im weiteren Prozess hüllte sie sich ein und erlebte dadurch eine Begrenzung ihres Leibes, eine umfassende Berührung und ein Schutzgefühl. Die Therapeutin war die Zeugin / Begleiterin und Unterstützerin ihres stimmigen Einhüllens. Bei sexueller Gewalt ist die Person meist nackt, Stoffe stellen somit einen Schutz vor physischer und psychischer Entblößung / Preisgabe dar. Das Einhüllen mit dem Laken erinnert auch an die leibliche Erfahrung des Fötus im Mutterleib. Bereits ab der achten Schwangerschaftswoche spürt das Ungeborene, wenn jemand über die Bauchdecke seiner Mutter streicht. Der Tastsinn ist der erste sich vorgeburtlich entwickelnde Sinn (Ott et al. 2019). Dies ist eine mögliche Erklärung, warum Decken, Laken und ähnliche Gegenstände ein Körpergefühl von Geborgenheit entstehen lassen können. Neugeborene suchen oft die Begrenzung. Wenn sie noch nicht krabbeln können, sind sie viel ruhiger, wenn sie ein „Nest“ gebaut bekommen. Später bauen sich Kinder häufig Hüttchen, Höhlen, Verstecke. Sich eine Höhle zu bauen, kann auch in einer Bewegungstherapiestunde geschehen, um sich zu schützen und sich gleichzeitig geborgen zu fühlen. Die Patientin fand durch diese Begrenzung ähnlich wie Neugeborene, die Begrenzung und Halt suchen, einen stimmigen Kontakt zum eigenen Körper. Fallbeispiel Patientin D: Berührung durch die Therapeutin Therapiemotivation Die therapieerfahrene Patientin setzte sich in ihrem Kliniksaufenthalt das Ziel, sich zunächst selbst berühren zu können, um im zweiten Schritt auch Berührungen ihres Ehemannes kontrolliert zuzulassen. Der Patientin war wichtig, dass niemand sonst während der Therapie den Raum betrat. Vereinbart wurde, dass die Patientin sich eine angenehme Creme kauft und sich eine Wohlfühldecke besorgt. Die Patientin wollte sich zunächst ihre Füße berühren lassen, da diese gefühlt weit genug von ihr entfernt wären. Unter Beobachtung der Patientin massierte die Therapeutin die Füße, sie erläuterte vor jedem neuen Handgriff, was sie vorhabe, und hielt permanent Rücksprache, wie Frau D. den Druck von Händen und Fingern empfand. Die Patientin war nervös und angespannt. Gegen Ende der Berührung war die Patientin froh, dass sie diese zulassen konnte. Im nächsten Termin konnte sie die Fußmassage mehr genießen, das Liegen auf der weichen Decke entspannte sie, und sie spürte ein Kribbeln und Wärme in den Beinen, welches sie als ihre Energie bezeichnete. Im drauffolgenden Termin wünschte sie eine Schulter-Nacken-Massage, auch diese konnte sie mit dem Procedere wie in den vorherigen Terminen gut akzeptieren. Die Patientin wollte bei einem weiteren Termin, dass auch der untere schmerzhafte Rücken massiert wird. Obwohl die Therapeutin ständig mit ihr kommunizierte, fing die Patientin stark an zu zittern und zu verkrampfen. Die Therapeutin unterbrach die Berührung und leitete die Patientin an, sich wieder mit Atemübungen und die Anwendungen ihrer Skills zu beruhigen. Sehr belastet berichtete die Patientin von ihrer Erinnerung, als sie im Alter von acht Jahren von hinten vergewaltigt wurde. Man sagte ihr, sie solle loslassen, dann würde es nicht so weh tun, dies war nicht der Fall. Berührungen und Trauma 1 | 2024 33 Nach dem Betrauern konnte die Patientin sehen, dass sie sich dem Schrecken gestellt hatte, der körperliche Schmerz nachließ und sie in ihren Beinen ihre Energie spürte. Die Patientin hatte noch einen langen Weg der Therapie vor sich. Jedoch gelang es ihr, mit ihrem Ehemann über ihre frühen Erlebnisse zu sprechen, und sie erfuhr Mitgefühl von ihm. Fallbeispiel Patient E: Berührung durch die Therapeutin Therapiemotivation Der Patient bekam die Verordnung zur Einzel-IBT, um am Thema Selbstwert zu arbeiten. Trauma-Hintergrund war der frühe Tod des Vaters, von seiner Mutter wurde er als Partnerersatz emotional und sexuell missbraucht. Er litt unter starken Minderwertigkeitsgefühlen. Therapieverlauf In der ersten Stunde arbeitete er an seiner aufrechten Körperhaltung. Er spürte seine Kraft durch die Übungen mit dem Theraband und übte nach den Sitzungen weiter. In den Folgestunden arbeitete er am Thema Abgrenzung: Raum bestimmen, Stopp sagen, Grounding. Dann folgt eine Stunde, wo er nur noch sehr müde war. Den Vorschlag, sich bequem hinzulegen, nahm er an, anschließend ließ er sich auf eine Körperreise der Eutonie ein. In der darauffolgenden Stunde wollte er sich lieber wieder hinlegen, die Therapeutin nahm in der leiblichen Gegenübertragung wahr, dass sein Kopf gehalten werden wollte. Sie bot ihm dies an. Er nahm es an, entspannte und fühlte sich wohl, getragen, geborgen. Fallbeispiel Patientin F: Eigenleibliche Berührung Therapiemotivation Die 61-jährige therapieerfahrene, temperamentvolle, stark übergewichtige Patientin legte sich erst einmal mit ihrer Psychotherapeutin an. Nachdem die Therapeutin ihre Grenzen aufgezeigt hatte, ließ sie sich auf einen sehr intensiven Prozess ein. In der Einzel-IBT mit dem therapeutischen Auftrag der Körperwahrnehmung kam die Patientin zuerst mit ihrer Wut auf ihren Ex-Ehemann. Indem sie auf einen Pezziball einschlug, fühlte sie sich freier im Brustkorb und Bauchbereich, sie berührte sich ohne Schwierigkeiten am Bauch. Obwohl sie erleichtert war, hatte sie ein ihr bereits aus anderen Therapieprozessen bekanntes Nasenbluten. Im Hintergrund hatte sie viele Traumata wie Schläge, sexuelle Gewalt, Vernachlässigung in ihrer frühen Jugend erlebt. Im weiteren Prozess gestaltete sie ihr inneres Thema: den Wunsch nach Leben und ihre Sehnsucht zu sterben. Imponierend war hierbei ein helles gelbes Tuch. Sie bekam die Anregung, mit diesem Tuch eine Verbindung zwischen den beiden Seiten zu gestalten. In der kommenden Stunde brachte sie eine differenzierte Ausarbeitung in Schrift und Zeichnung mit. Sie gestaltete wiederholt ihre vorherige Symbolarbeit und erarbeitete sich im Laufe ihres Prozesses einen inneren Wächter, der ihr mitteilte, dass es in Ordnung sei zu sterben, der aber aufpasse, dass sie zuvor gelebt habe. In der Einzelpsychotherapie besprach sie ihre Dissoziation in einer Bewegungsgruppe. Auf die Frage, was ihr helfen könne, meinte sie, wenn sie jemand anfassen würde. Und auf die Frage für den extremen Fall, dass niemand da wäre, hatte sie keine Antwort. Die Therapeutin regte an, den inneren Helfer, den Wächter, um Hilfe zu bitten. Sie bat den inneren Wächter, ihr zu helfen. Sie fühlte, wie dieser imaginäre Helfer um sie herumstrich, ihren Kopf anfasste (Patientin klagte zuvor über 34 1 | 2024 Hanna Kysely einen Schmerz), zu ihr sagte, dass er sie beschütze und an ihrer Seite stehe. Der Kopfschmerz war nach der imaginären Berührung weg. Ihren Körper holte der Wächter und nahm sie und ihren Körper in die Arme, als wäre sie ein Kind. Sie fühlte sich geborgen in dieser Imagination und konnte dieses innere Erlebnis auch Wochen danach wiedererleben. Die Patientin fasste sich selbst an, das Erleben stützte sich aber überwiegend auf ihre Imagination. In der Einzel-IBT bearbeitete die Patientin imaginär, ihren abgewerteten Körper / Leib in dieses Bilderleben zu integrieren. Die Patientin schloss mit dem fühlbaren Ziel, gut mit sich umzugehen, ab. Fallbeispiel Patientin G: Berührung durch die Therapeutin Therapiemotivation Frau G kam wiederholt in die Klinik und wünschte sich Einzel-IBT, um an ihrer Körperwahrnehmung weiterzuarbeiten. Trauma-Hintergrund: Die Patientin hatte keine konkreten Erinnerungen an ihre Kindheit, die ersten Erinnerungen seien erst mit 10 Jahren vorhanden. Ihre zwei Brüder seien vor ein paar Jahren zu ihr gekommen und fragten sie, ob sie als Kleinkind Erfahrungen von sexueller Traumatisierung durch den leiblichen Vater gehabt habe, weil sie selbst diese sexuelle Gewalt erlebt hatten. Seitdem wird sie das Gefühl nicht los, dass da etwas vorgefallen war, da der Vater etwas zugab und sagte, daran könnte sie sich aber nicht erinnern, da sie noch zu klein war. In der ersten IBT-Einzelstunde wechselte die Patientin von unsicher, ängstlich bis zu forschem Verhalten. Sie wolle an Berührung arbeiten, weil sie trotz der Angst glaube, dass sie damit weiterkäme. Zur Entspannung ging die Therapeutin mit der Patientin durch den Raum und lud sie ein, sich umzuschauen, und sie entdeckte lustige Pferdchen, sie hatte große Freude daran, diese zu bewegen, und bekam sie ausgeliehen. In der zweiten Stunde wurde besprochen, dass sie sitzt und die Therapeutin nur ihre Fersen hält. Die Patientin spannte sofort an und ihr Körper versteifte. Die Therapeutin gab ihr den Auftrag, die Beine wegzunehmen. Dies gelang ihr nach einer Minute. Diese Berührung dauerte ca. 20 Sekunden, die Patientin empfand diese Berührung als ein Festgehaltenwerden. Die Therapeutin wies auf den Unterschied zu früher hin: Sie könne nun weg. Im Anschluss gingen Patientin und Therapeutin durch den Raum. In der Folgestunde berichtete die Patientin, dass sie von dieser Berührung das Bild habe, wie ein Säugling zu sein, der zum Wickeln festgehalten wird. Die Patientin realisierte, dass sie an ein eigenes frühes Gewickeltwerden keine Erinnerung in diesem Sinne habe könne. Die Patientin brachte auch die Spielzeuge (lustige Pferdchen) aus der ersten Stunde mit. Die Patientin fragte, ob die Therapeutin nicht etwas bei ihr bemerke, sie fühle sich ganz klein und wolle lieber groß sein. Die Patientin zeigte kindliches Verhalten. Die Therapeutin ging mit der Patientin durch den Raum und versuchte mit dieser herauszufinden, was das Kind brauche, die Erwachsene wollte die Kontrolle. Die Patientin sagte, sie wolle Geborgenheit, Liebe und Fürsorge. Kurz nachdem sie dies erkannte, wünschte sie sich Berührung. Gleichzeitig verspürte sie sexuelle Impulse, die sie mit ihrem Bedürfnis nach Berührung für nicht vereinbar hielt. Dies stresste die Patientin sehr. Mit Gehen durch den Raum, Blick aus dem Fenster, Betrachten von Gegenständen gelang es ihr, ihre Gefühle zu sortieren. Sie bekam ein Gefühl von Kontrolle und fühlte sich damit auch wieder groß. Frühe Traumatisierungen führen nicht selten zu Verknüpfungen von natürlichen sexuellen Erregungen und normalen kindlichen Bedürfnissen. Für die Betroffenen ist es schwer, damit umzugehen. Berührungen und Trauma 1 | 2024 35 Ausblick Auch wenn es für Betroffene oft ein langer Weg ist, Berührungen positiv zu erleben, lohnt sich dieser. Voraussetzung dafür ist die Stärkung von inneren und äußeren Grenzen. Dabei ist eine angemessen dosierte Berührung ein Mittel, um das Gespür für die eigene Grenze wiederzuerlangen. Das bewusste und sichere Erspüren der eigenen Körpergrenze ist auch die Voraussetzung, um Berührungen angenehm erleben zu können. Mit der Entfaltung des Potentials von Berührung erhöht sich gleichzeitig die Möglichkeit zur Körperakzeptanz (Kysely 2019, 84). Es bedarf weiter der Entwicklung von Fähigkeiten wie Kontrolle, Loslassen und Vertrauen auf der Basis einer guten therapeutischen Beziehung. Literatur Grunwald, M. (2020): Haptik-Forschung in Coronazeiten. In: www.mdr.de/ wissen/ coronaberuehrung-gesicht-finger-weg-bekommenobwohl-wir-es-wollen, 21.3.2023 Jakob-Krieger, C. (2009): Supervision. In: Waibel, M., Jakob-Krieger, C. (Hrsg.): Integrative Bewegungstherapie. Störungsspezifische und ressourcenorientierte Praxis. Schattauer, Stuttgart/ New York, 273-284 Kysely, H. (2019): Kraft der Berührung. Traumaerfahrung und Berührung. Der Schmerzpatient 2 (2), 84-87 Mullen, B., Champagne, T., Krishnamurty, S., Dickson, D., Gao, R. X. (2008): Exploring the safety and therapeutic effects of deep pressure stimulation using a weighted blanket. Occupational Therapy in Mental Health 24 (1), 65-89 Ott, M., Singer, M., Brisch, K. H., Schubert, C. (2019): Kraft der Berührung. Körperlich-seelische Berührungen im Fokus der Psychoneuroimmunologie. Der Schmerzpatient 2 (2), 66-75 Petzold, H. G. (2009): Der „informierte Leib“. In: Waibel, M., Jakob-Krieger, C. (Hrsg.): Integrative Bewegungstherapie. Störungsspezifische und ressourcenorientierte Praxis. Schattauer, Stuttgart/ New York, 27-44 Waibel, Martin J., (2023): Körperpsychotherapie bei chronischen Schmerzen. Integrative Leib- und Bewegungstherapie (IBT). Schattauer, Stuttgart/ New York Waibel, M., Petzold, H. G., Orth, I., Jakob-Krieger, C. (2009): Grundlegende Konzepte der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie (IBT). In: Waibel, M., Jakob-Krieger, C. (Hrsg.): Integrative Bewegungstherapie. Störungsspezifische und ressourcenorientierte Praxis. Schattauer, Stuttgart/ New York, 1-20 Hannelore (Hanna) Kysely Integrative Bewegungstherapeutin IBT (FPI), Physiotherapeutin, Psychotraumatologie und Traumatherapie, Essstörung und Adipositas, Tanztherapie (U. Bureck), HP Psychotherapie, Mitherausgeberin der Zeitschrift „Schmerzpatient“, Referentin IGPS, Autorin. ✉ Hanna Kysely Parkland-Klinik Im Kreuzfeld 6 | D-34537 Bad Wildungen kysely@gmx.de