körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2024.art09d
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Fachbeitrag: Das Haus Tanztherapie: Abriss und Erhalt, Reparatur und Anbau
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Nicole Hartmann
Die kritische Auseinandersetzung sowohl mit dem Ausdruckstanz als Tanzstil als auch mit dessen berühmtesten VertreterInnen Mary Wigman und Rudolf von Laban, die in den Tanzwissenschaften geführt wurde, scheint in tanztherapeutischen Diskursen noch wenig angekommen zu sein. Der Artikel untersucht, inwiefern Konzepte des Ausdruckstanzes noch heute Einfluss auf den Tanz in der Tanztherapie nehmen und ob eine Auseinandersetzung mit diesen den Diskurs zu kritischen Konzepten in Bezug auf Themen der Authentizität, Diversität und konstruktivistischen Körperkonzepten fördern würde. Es wird dafür plädiert, überholte Annahmen zu Körper und Bewegung zu verwerfen und sich vermehrt zeitgenössischen Tanzformen zuzuwenden. Bewegungsbeobachtungssysteme sollten andere kulturelle Bewegungspraxen und eine machtkritische Perspektive mit einbeziehen, um sich den Fragen von Diversität (noch) mehr zu öffnen.
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Fachbeitrag 46 körper-- tanz-- bewegung 11. Jg., S. 46-58 (2024) DOI 10.2378/ ktb2024.art09d © Ernst Reinhardt Verlag Das Haus Tanztherapie: Abriss und Erhalt, Reparatur und Anbau Eine kritische Auseinandersetzung mit den tänzerischen Wurzeln der Tanztherapie Nicole Hartmann Die kritische Auseinandersetzung sowohl mit dem Ausdruckstanz als Tanzstil als auch mit dessen berühmtesten VertreterInnen Mary Wigman und Rudolf von Laban, die in den Tanzwissenschaften geführt wurde, scheint in tanztherapeutischen Diskursen noch wenig angekommen zu sein. Der Artikel untersucht, inwiefern Konzepte des Ausdruckstanzes noch heute Einfluss auf den Tanz in der Tanztherapie nehmen und ob eine Auseinandersetzung mit diesen den Diskurs zu kritischen Konzepten in Bezug auf Themen der Authentizität, Diversität und konstruktivistischen Körperkonzepten fördern würde. Es wird dafür plädiert, überholte Annahmen zu Körper und Bewegung zu verwerfen und sich vermehrt zeitgenössischen Tanzformen zuzuwenden. Bewegungsbeobachtungssysteme sollten andere kulturelle Bewegungspraxen und eine machtkritische Perspektive mit einbeziehen, um sich den Fragen von Diversität (noch) mehr zu öffnen. Schlüsselbegriffe Laban, Wigman, Bewegungsanalyse, NS-Regime, Authentizität, „natürlicher“ Körper, Ausdruckstanz, Bewegungschor, Diversität, machtkritische Perspektive, Körperkonzept, Phänomenologie, ADTA, Tanz, Therapie, Tanztherapie The Dance Therapy House: Demolition and Preservation, Repair and Extension. A Critical Examination of the Dance Roots of Dance Therapy The critical examination of expressive dance as a dance style as well as its most famous representatives Mary Wigman and Rudolf von Laban, which has been conducted in dance studies, seems to have received little attention in dance therapy discourses. The article examines the extent to which concepts of German expressionist dance still influence dance in dance therapy today and whether an examination of these can change the discourse on critical concepts in relation to themes of authenticity, diversity and constructivist concepts of the body. It is argued that outdated assumptions about the body and movement should be rejected and that we should increasingly turn to contemporary dance forms. Movement observation systems should include other cultural movement practices and a power-critical perspective to open up (even) more to the questions of diversity. Key words Laban, Wigman, movement analysis, Nazi regime, authenticity, “natural” body, expressive dance, movement choir, diversity, power-critical perspective, body concept, phenomenology, self, dance, therapy, dance therapy Die tänzerischen Wurzeln der Tanztherapie 47 2 | 2024 W ährend in der Tanzwissenschaft eine intensive und kritische Auseinandersetzung mit dem Ausdruckstanz und seinen Körperkonzepten, der Anschlussfähigkeit des Ausdruckstanzes an die NS-Ideologie und über seine Ikonen Laban und Wigman geführt wurde (Kant 2002, 2016, 2020; Müller / Stöckemann 1993; Dörr 2003, 2005; Klein 1992; Hardt 2004), sind mir diese Fragen im tanztherapeutischen Diskurs eher selten begegnet. Eine Ausnahme bildet Elke Willke (2007), die sich für die Integrative Tanztherapie vom Körperkonzept des natürlichen Körpers des Ausdruckstanzes abgrenzt. Die, wie es mir scheint, ansonsten mangelnde Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ausdruckstanzes erstaunt mich umso mehr, als sich die Tanztherapie in ihrem künstlerischen Medium auf den Ausdruckstanz als eine ihrer Wurzeln beruft: „Die deutsche Ausdruckstanzbewegung und der Modern Dance setzen die Reaktion gegen die Tradition des Balletts fort und entwickeln ein Tanzverständnis, das für die Tanztherapie bis heute mitbestimmend ist.“ (Willke 2007, 21) Außerdem arbeitet sie mit der Bewegungsanalyse nach Laban mit einem konkreten Konzept, dessen Urheber einer der wichtigsten Vertreter des Ausdruckstanzes war. Im zeitgenössischen Tanz hingegen wird sich seit vielen Jahren mit den philosophischen und soziologischen Fragen in Bezug auf den Körper beschäftigt, und zwar mit besonderem Blick auf Körperdiskurse, die sich auf den Konstruktivismus beziehen. KünstlerInnen wie Xavier LeRoy oder Esther Salomon setzen sich schon seit Ende der 1990er / Anfang 2000er künstlerisch mit den Ideen des konstruktivistischen oder vordiskursiven Körpers auf Grundlage von Butler und Foucault auseinander. Großes Potential für die Tanztherapie bieten meines Erachtens auch Konzepte beispielsweise aus den Disability Studies, die die scheinbaren Gegensätze von Konstruktivismus und Phänomenologie zusammendenken (Dederich 2007). Gleichzeitig konstatiert Koch, dass die Tanztherapie in Deutschland noch wenig divers ist: „In Germany, there is only a starting awareness of our white, middle class, cisgender, able-bodied domination in dance therapy. While men are slowly moving more into the field (still only at about 5 %), ethnical and ability diversity is quite rare“ (Koch 2023, 4). Viele TanztherapeutInnen, wie ich aus persönlichen Gesprächen, aber auch durch meinen Unterricht erfahren habe, haben jedoch ein großes Interesse an dem Thema Diversität, obwohl, oder vielleicht gerade, weil in der Realität das Feld noch wenig divers ist. Es stellt sich mir die Frage, ob diese fehlende Diversität auch damit zu tun haben könnte, dass Konzeptionen des Ausdruckstanzes in der Tanztherapie unterschwellig weitergetragen werden, weil oftmals nicht klar ist, was Ausdruckstanz ist und welche Konzepte mit diesem zusammenhängen. Ähnlich dachten womöglich Tanztherapiestudierende in den USA, die 2020 eine Petition an den ADTA einreichten, der daraufhin eine Arbeitsgruppe einsetzte, die 2022 ihre Ergebnisse veröffentlichte. Die Studierenden äußerten in der Petition „concerns and critical questioning of movement observation frames, including a desire to bring a critical and antioppressive lens to the access of all bodies within larger psychological theories, DMT theories, and movement observation systems. The petition included a request for a ‚true‘ and ‚comprehensive‘ history of Rudolf Laban“ (Imus et al. 2022). Die Arbeitsgruppe kommt u. a. zu dem Ergebnis, dass es keine eine wahre Geschichte Labans gibt, dass seine Verdienste für die Profession gewürdigt werden und man gleichzeitig seine Entscheidungen kritisieren kann. Die Kommission stellt des Weiteren die Frage, ob es überhaupt irgendein „Bewegungsbeobachtungs / -wertungs- / -analysesystem“ (Imus et al. 2022, 181) geben kann, das auf die gesamte Bandbreite menschlichen Bewegens 48 Nicole Hartmann 2 | 2024 mit all seinen kulturellen, ästhetischen und moralischen Aspekten angewandt werden kann. Es sei immer die Frage zu stellen, was ein System einschließt und was es ausschließt (Imus et al. 2022, 181). Beide Bereiche, der Bezug zum Ausdruckstanz mit der Frage danach, ob die Konzeption des natürlichen Körpers im Ausdruckstanz in die heutige Zeit hineinreicht,- sowie die kritische Auseinandersetzung mit den Bewegungsbeobachtungs- / -bewertungs- und -analysesystemen sind für Fragen der Diversität von großer Bedeutung. Mit Davies et al. (2023) stellt sich zudem mit dem Blick auf die geschichtliche Vergangenheit der Tanztherapie die Frage der kulturellen Hegemonie unserer Tanztherapietheorie und -praxis sowie der Bewegungsanalyse. Um diskutieren zu können, worauf wir uns in der Tanztherapie in Bezug auf den Ausdruckstanz beziehen, halte ich es für notwendig, einen kurzen Abriss über die Vielfalt und die geschichtliche Entwicklung des Ausdruckstanzes zu geben. In diesem Rahmen werde ich mich ebenfalls, aus meiner deutschen Perspektive, in der die Historie des Nationalsozialismus Teil meines kulturellen Erbes ist, mit der Geschichte Labans auseinandersetzen, da dieser sowohl für den Ausdruckstanz als auch für die Entwicklung der Bewegungsanalyse von großer Bedeutung ist. Die Fragen der Bewegungsbeobachtungs- / -bewertungs- und -analysesystemen werde ich anreißen und eventuell zu einem späteren Zeitpunkt vertiefen. Historie des Ausdruckstanzes „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde.“ (Zarathustra in Nietzsche 2005, 30) Beginnend ab 1910 liegen die Wurzeln des Ausdruckstanzes in der Rhythmus- und Gymnastikbewegung, dem Expressionismus und der Lebensreformbewegung. Beeinflusst vom Expressionismus ist es die „innere“ Welt der TänzerInnen, die zur Quelle der künstlerischen Gestaltung wird und damit einen Gegenpol zu den Geschichten des Balletts setzt. Der als technisiert empfundenen Bewegungssprache des Balletts setzt man die „freie“ Bewegung entgegen (Klein 1992). Der Industrialisierung, die dem Menschen mit seinen funktionalen Arbeitsabläufen den Arbeitsrhythmus der Maschinen aufzwang, sollte der eigene Rhythmus entgegengesetzt werden (Klein 1992). Nach dem 1. Weltkrieg mit seinen Millionen Toten und den neuen politischen Verhältnissen der Weimarer Republik verleiht der moderne Tanz den Ängsten, Hoffnungen und Sorgen ein Ventil, und das Irrationale wird als zum Menschen zugehörig begriffen (Klein 1992). In ihrer Lust auf Leben und Bewegung strömt die Jugend neben den Sport- und Turnvereinen auch in die Tanz- und Gymnastikschulen, und die Laientanzbewegung breitet sich aus (Partsch-Bergsohn 1994). Der Tanz ist Zivilisationskritik, der dem entfremdeten Menschen und seiner Orientierungslosigkeit in der Moderne mit dem Bezug auf die Seele und die Innerlichkeit Halt gibt (Müller / Stöckemann 1993). „Der Körper als Ort eines ursprünglichen Wissens“ wird wiederentdeckt, welcher „durch einen Fokus auf rationales Denken, vor allem durch die Entwicklung der Schriftkultur, verdrängt worden“ sei (Hardt 2015, 31). Mit und durch den Körper soll eine neue Gesellschaft geschaffen werden, die sich von den „Schäden der Technisierung“ (Hardt 2015, 247) befreite, eine Gesellschaftsutopie, die sich durch den tanzenden Körper verwirklichen sollte- - eine neue Form der Kommunikation und Gemeinschaft. Über die Erforschung des eigenen Ichs sollte die „verlorene Verbindung mit der äußeren Natur“ und damit die Verbindung mit dem Kosmos wiederhergestellt werden (Klein 1992, 182). Für den religiös-mystischen Teil des Ausdruckstanzes (Klein 1992) stellte „die tänze- Die tänzerischen Wurzeln der Tanztherapie 49 2 | 2024 rische Form […] lediglich die Basis dar, auf der durch die Kraft der Bewegung ein Ausdruck des Göttlichen entstehen konnte. Damit wird dem Ausdruckstanz eine religiöse Qualität zugesprochen. Jenseits der beschränkenden Grenzen des Selbst wurde im freien Tanz nach einer Einbettung und einem Aufgehen in ein Höheres gesucht“ (Neudorfer 2020, 164). Der Tanz wird so religiös aufgeladen und reicht über das individuelle Erleben hinaus. Wie Klein (1992) schreibt, hatte es „den ‚expressionistischen, ichbetonten‘ Tanz (…) in Reinform jedoch nur bis 1923 / 24 gegeben“ (S. 196). Danach entstehen viele unterschiedliche Ausprägungen, sowohl inhaltlich als auch formal. Neben den solistischen Formen gewinnen Gruppenchoreographien und die Laientanzbewegung mit den Bewegungschören verstärkt an Bedeutung, welche auch von SPD und KPD genutzt wurden (Müller / Stöckemann 1993). Die neue Sachlichkeit, die in den 1920ern entstand, vertrat, im Gegensatz zum Expressionismus, eine sachlich realistische Bildsprache und beeinflusste auch den Ausdruckstanz. Vera Skoronel, eine Schülerin Mary Wigmans, untersuchte beispielsweise abstrakte Tanzformen, die sie als Weiterführung des absoluten Tanzes von Wigman ansah und in der sie die Verbindung mit dem Kosmischen durch die Abstraktheit erreichte: „Dieser Tanz hat weder Zusammenhang mit literarisch-gefühlsmäßigen, mit persönlich-seelischen Elementen, noch vermischt er sich mit theatralischen oder musikalischen Gebieten. Es ist eine Welt der phantastischen und doch klaren Struktur, […] durchglüht [..] von einer Ekstase, deren Ursprung nicht in menschlichen Seelenbezirken von Freud und Leid liegt, sondern tatsächlich im kosmischen Erleben des Unendlichen- - eben in der Abstraktheit“ (Skoronel 1929, zitiert nach Müller/ Stöckemann 1993, 40). Dagegen prangern TänzerInnen wie Hans Weidt oder Jo Mihaly ab Mitte der 1920er die politischen und sozialen Verhältnisse in ihren Stücken an, Valeska Gert bekämpfte den „nationalistischen Kleinbürgergeist“ (Müller / Stöckemann 1993, 46). Kurt Joss, Max Terpis, Yvonne Georgi und Harald Kreutzberg gingen an städtische Theater, etliche SchülerInnen von Laban und Wigman wurden Ballettmeister- Innen (Müller / Stöckemann 1993, 41). 1928 plädierten Terpis und Joos für ein Miteinander von Ausdruckstanz und Ballett-- eine Position, die wohl von Laban geteilt wurde, der aber Mary Wigman entschieden widersprach (Müller / Stöckemann 1993, 74). Unter dem Schirm des Ausdruckstanzes finden sich eine Vielzahl an Konzepten, Aufführungsästhetiken, politischen Überzeugungen und Bewegungsformen. Aufführungskonzeptionen und Arbeitsweisen des Ausdruckstanzes Das Revolutionäre in der Entwicklung von Bewegung im Ausdruckstanz lag darin, dass der Ausdruckstanz keine normierte Tanztechnik gestaltete, in der TänzerInnen eine Form nachahmten, sondern dass sie ihre eigenen Bewegungsformen schufen und sich mit den Inhalten einer Bewegung auseinandersetzen mussten (Lampert 2007). Im tanztherapeutischen Kontext wird Ausdruckstanz daher oftmals mit dem spontanen emotionalen Ausdruck verwechselt. Dies ist jedoch nicht ganz richtig. Für Mary Wigman beispielsweise umfasste der Tanz zwei Stadien: Im ersten stand das „Irrationale, Körperliche, Intuitive, Seelische, Mystische und Unsichtbare“ im Fokus der Improvisation, und im zweiten begann die nüchterne Arbeit der Gestaltung (Klein 1992, 191). Es handelte sich bei den Aufführungen daher nicht um den spontanen emotionalen Ausdruck, sondern um einen Formungsprozess desselben. Die Aufführungsästhetik, die meines Erachtens in der Tanztherapie zu wenig rezipiert wird, war somit sowohl von Individualismus gekennzeichnet als auch durch „systematisierende Zugänge zur Gestaltung“ (Huschka 2002, 154), 50 Nicole Hartmann 2 | 2024 was man per se als sich widerstreitende Elemente betrachten könnte. Auch hier wird deutlich, dass der Ausdruckstanz konzeptuell nicht bei einem spontanen Ausdruck der Gefühle verharrt, sondern gestalterische Elemente eine große Rolle spielen. Bewegungschor Der Bewegungschor nimmt einen besonderen Stellenwert ein und wird insbesondere im Hinblick auf die Anschlussfähigkeit an den Nationalsozialismus kontrovers diskutiert. Während Marion Kant den Fokus auf einen durch den Bewegungschor erzeugten „organic communal body“ legt, der die Massen erreichen sollte (Kant 2002, 54) und der sich damit in ihren Augen der nationalsozialistischen Ideologie andient, differenziert Yvonne Hardt (2004) das bewegungschorische Geschehen in ihrem Buch „Politische Körper“. Interpretationen von Gemeinschaft im religiösen, völkischen und sozialistischen Sinn hätten sich gegenseitig nicht unbedingt ausgeschlossen, und „Begriffe wie Rhythmus, das Anti-Rationale und Gemeinschaft“ (Hardt 2004, 43) seien von vielen politischen Richtungen genutzt worden. So waren die Chöre auch in der Arbeiterkulturbewegung populär (Müller/ Stöckemann 1993; Hardt 2004). Was aber ist ein Bewegungschor? Die Größe des Chores bewegte sich zwischen 20 und 100 und bis zu 1000 TänzerInnen. Die Gruppe der Tanzenden folgte einer führenden TänzerIn, es konnten sich aber auch mehrere Gruppen aufeinander beziehen. Ein Chor konnte sich in mehrere aufspalten, wobei sich spontan neue führende Personen ergaben. Der Chorführer musste dabei Bewegungsideen im Hinblick auf die Gruppe entwickeln (Dörr 2005; Müller / Stöckemann 1993). Hardt (2004) hebt hervor, dass die Gemeinschaft des Bewegungschores egalitär gedacht wurde, indem durch das gemeinsame Bewegen Toleranz auch gegenüber Schwächeren gefördert wurde, und dass TänzerInnen berichteten, dass das Gemeinschaftsgefühl, im Gegensatz zu Kants (2016) Ausführungen, nicht die Aufgabe der eigenen Kreativität bedeutete. Gleichzeitig verfolgte Laban in den Bewegungschören aber auch die Idee des Dionysischen Fests, in dem Zuschauende und Tanzende gemeinsam ein Fest feiern sollten und sich in der Kultur des Festes der kosmische Rhythmus erfahren ließe. „Laban’s emphasis on mysticism, his neo-Romantic celebration of nature and cosmic rhythms, his appeal to a Volk heritage of Ancient Greece all combined to create his radical mission of cultural and individual regeneration through a communal Dionysiac Festkultur“ (Kew 1999, 83). Obwohl der Bewegungschor in der Tanztherapie keine große Rolle spielt, ist er in Bezug auf die Frage, inwiefern der Ausdruckstanz an den Nationalsozialismus anschlussfähig war, umstritten. Für Kew (1999) ist es beispielsweise der völkische Grundgedanke der Bewegungschöre, der den Zusammenschluss mit den Nationalsozialisten erklärt und gleichzeitig ihren Niedergang bewirkte, da mit der Vorbereitung auf den Krieg ab 1937 mystische und kultische Ideen zunehmend verpönt waren. Körperkonzept im Ausdruckstanz In der Vielfalt des Ausdruckstanzes gibt es eine Idee, die immer wieder auftaucht, und zwar die des „freien“ und „natürlichen“ Körpers (Müller / Stöckemann 1993; Huschka 2002; Hardt 2004; Lampert 2007; Klein 1992). Natürlicher Körper Während vielfach in der Literatur von einer Aufhebung der Hierarchie von Körper, Geist und Seele im Ausdruckstanz ausgegangen wird, gibt es nach Klein (1992) eine neue Hierarchie der Seele über den Geist, wobei dem Körper, als dem Ausdrucksmedium der Seele, ein „Objektstatus“ zukommt (Klein 1992, 184). Ich benutze die Begriffe Seele und Geist, weil sie so in der Literatur verwendet werden Die tänzerischen Wurzeln der Tanztherapie 51 2 | 2024 und weil sie die schon erwähnte Religiosität, die sich in Teilen des Ausdruckstanzes findet, widerspiegeln. Geist kann hier mit Kognition und Seele mit der Psyche übersetzt werden. Die „soziale und kulturelle Prägung des Körpers [wird] negiert“ (Klein 1992, 184) und eine essentialistische Idee vom Körper vertreten. Hinter den Verwerfungen der Zivilisation soll der natürliche und harmonische Rhythmus gefunden werden, der Rhythmus, der „allen Menschen ähnlich sei“ (Hardt 2004, 40). Hardt (2004) hebt hervor, dass die Schulung, in der der Körper durch die Systematisierung von Bewegung herausgefordert wird, weder „körperlich ganzheitlich noch anti-intellektuell“ (S. 49) war. Das eigentlich Interessante in meinen Augen ist, dass diese Systematisierung zwar eine intellektuelle Leistung war, sie aber dazu diente, den natürlichen Körper und Rhythmus und das ursprüngliche Wissen, das der Körper in sich tragen sollte, freizusetzen. Die kosmischen Rhythmen zeigten sich im Mikrokosmos des Einzelnen (Dörr 2005), mussten aber durch körperdisziplinierende Maßnahmen, die nach Hardt (2004) keineswegs negativ zu bewerten sind, freigesetzt werden. Dies bedeutete Arbeit und Anstrengung. Aus heutiger Sicht ist zu sagen, dass der freie Körper des Ausdruckstanzes ein geformter Körper war, der frei erscheinen sollte und seine „jeweils eigenen disziplinierenden Strategien, Codierungssysteme und theatrale Darstellungsgebote“ (Huschka 2002, 14) entwarf. Aus konstruktivistischer Sicht kann es diesen natürlichen Körper nicht geben, einen Körper jenseits von kulturellen und sozialen Prägungen, weil diese uns immanent sind. Es gibt aus dieser Sicht keinen Körper hinter dem gezeigten Körper, der der eigentlich wahre Körper ist und so die Verbindung zum Kosmischen herstellt. Mit der Idee des natürlichen Körpers sind zudem oftmals binäre Vorstellungen des Weiblichen und Männlichen und den damit verbundenen Rollenvorstellungen oder auch die Idee des „gesunden“ Körpers als des „normalen“ Körpers verknüpft- - alles Konzepte, die in den Diskursen um Diversität widerlegt und neu gedacht werden. Im Ausdruckstanz wird von der Idee eines wahren Selbst ausgegangen, während heutige Konzeptionen die Idee des „Authentischen“ als das eines einzig wahren Selbst in Frage stellen: „Folglich gibt es auch nicht ein ‚authentisches‘ Subjekt, sondern eine Vielzahl von Ichs, die sich- - je nach Zeitpunkt und Situation-- neu erfinden“ (Schilling 2020, 99). Wenn wir uns in der Tanztherapie auf den Ausdruckstanz als unser künstlerisches Medium berufen, so besteht die Gefahr, dass wir auch seine Konzepte weitertragen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Es stellt sich die Frage, ob sich die Tanztherapie tänzerisch auf den Ausdruckstanz berufen und sich dabei von der Idee des natürlichen Körpers distanzieren kann oder ob es nicht interessanter wäre, sich in der Tanzkonzeption auf zeitgenössische Formen des Tanzes zu konzentrieren. Ausdruckstanz im Nationalsozialismus Sprechen wir über den Ausdruckstanz im Nationalsozialismus, ist es nach Kant (2016) notwendig, die Zeit vor 1933 näher zu beleuchten (Kant 2016; Karina / Kant 1996; Dörr 2005; Klein 1992). Ausdruckstanz erschien in einer Vielfalt an Ausprägungen, Konzepten und politischen Haltungen, die nebeneinander existierten, und so erscheint es laut Hardt (2004) problematisch, ihn automatisch mit dem Nationalsozialismus in Verbindung zu bringen. „Auf der einen Seite geht es darum, den Ausdruckstanz von seiner Mystifizierung ins Unpolitische zu befreien und auf der anderen Seite einen automatisierten Assoziationszusammenhang zwischen Körperkultur, Massentanz und Nationalsozialismus aufzubrechen“ (Hardt 2004, 7). Sie verweist auch darauf, dass die Vielfalt der Diskussionen 52 Nicole Hartmann 2 | 2024 in der Weimarer Republik über den Tanz, über Körperdiskurse und Körperpraktiken im Dritten Reich nicht denkbar gewesen wäre. Es bleibt dennoch eine schwierige, komplexe und kontroverse Frage, ob die Ästhetik und die Bewegungsformen des Ausdruckstanzes möglicherweise die nationalsozialistische Ideologie mit vorbereiteten oder ob sie sich lediglich als anschlussfähig erwiesen oder tatsächlich auch widerständig waren. Hier verweise ich auf Autor- Innen wie Kant 2016; Hardt 2004, 2015; Manning 1993; Klein 1992, die sich differenziert und kontrovers mit diesem Themenbereich auseinandersetzen. Nach Kant (2016) manifestieren sich ideologische Überzeugungen auch in Bewegungsformen und können mit diesen sozusagen weiterleben, wenn man sie nicht erkennt, sich mit ihnen auseinandersetzt und sie zurückweist, weil man annimmt, dass die Form unabhängig sei. Und vielleicht ist dies ein entscheidendes Problem, denn Laban verstand seine Kunst nicht als politisch (Dörr 2005). Die Frage nach den möglichen Verbindungen von Ausdruckstanz und Nationalsozialismus beginnt mit diesen Fragen nicht erst mit 1933, sondern schon in den 1920ern (Kant 2016). Ich zähle im Folgenden einige Punkte auf, an denen eine Anschlussfähigkeit des Ausdruckstanzes an die NS-Ideologie diskutiert wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das eine automatisch zum anderen führt, sondern dass sich Überschneidungspunkte finden können. Kant (2020), eine der schärfsten Kritiker- Innen Labans und seiner Arbeit, sieht in Labans Raumharmonielehre, auch wenn dies nicht explizit Ausdruckstanz ist, einen Bezug zur Raumideologie der Nationalsozialisten. Auch die Bewegungschöre mit ihren Fragen von Führung, Gruppe und Hierarchien stehen bei ihr in der Kritik (Kant 2016). Klein (1992) sieht durch die Idee des natürlichen Körpers eine mögliche Nähe zum Nationalsozialismus, Manning (1993) verweist auf das nationale Element: den Tanz, der als deutscher Tanz des deutschen Menschen verstanden wird. Aber auch die Verbindung mit dem Kosmischen und die Idee, dass der Tanz nicht nur, aber auch im Bewegungschor eine Gemeinschaft erschafft, kann auf die Idee der „Volksgemeinschaft“ übertragen werden (Müller/ Stöckemann 1993; Manning 1996). Dafür müssen die TänzerInnen allerdings nicht nur die Idee einer individuellen künstlerischen Sprache, sondern auch das Gebrochene, Uneindeutige radikal zugunsten einer übergreifenden Idee dieser „Volksgemeinschaft“ aufgeben. Klein konstatiert Ende der 1920er Jahre eine zunehmende Tendenz des Eingangs von völkischen Ideen in die Choreographien der AusdruckstänzerInnen als eine Reaktion auf die „politischen Tendenzen der Zeit“ (Klein 1992, 192). Damit stellt sich die übergreifende Frage, welche Ideologien sich in welchen Tanzkonzepten und Tanzformen verbergen und inwiefern diese weitergetragen werden, weil sie nicht identifiziert wurden. Diese Frage lässt sich auch an die Laban / Bartenieff Movement Analysis (LBMA) und die Bewegungslehre Labans stellen. Situation ab 1930 Anfang der 1930er Jahre hat der Ausdruckstanz sowohl ästhetische wie auch praktische Probleme, die im 3. Tänzerkongress 1930 deutlich werden. „Der Münchner Kongress spiegelte die Situation des modernen Tanzes wider, der seinen künstlerischen Höhepunkt überschritten hatte und nur noch ein blasser Abgesang seiner selbst war“ (Müller/ Stöckemann 1993, 94). Dieser Abgesang scheint verschiedene Gründe gehabt zu haben. Klein (1992) macht hierfür die Einengung auf das Unbewusste verantwortlich, die dem Ausdruckstanz sein „ursprünglich kritisches Potential“ (S. 195) geraubt habe, denn es verhinderte „die Aufhebung des dualistischen Denkens, einem wesentlichen Produzenten bürgerlicher Machtverhältnisse“ (Klein 1992, 195). Der Rückzug auf das Innere, der ursprünglich mit einem Aufbegehren gegen überholte Strukturen verbunden war, konnte zugleich Die tänzerischen Wurzeln der Tanztherapie 53 2 | 2024 die Flucht aus der sozialpolitischen Realität bedeuten. Zudem sei das Persönliche nicht mehr zeitgemäß gewesen, das Expressionistische war überholt. Auf dem Tänzerkongress selbst wird eine Stagnation der Ideen beklagt. In Bezug auf die Laientanzbewegung ließ sich eine veränderte Stoßrichtung feststellen, diese wurde nun als „Faktor kultureller Volksbildung“ (Müller / Stöckemann 1993, 93) gesehen und nicht mehr, wie in den vorherigen Tänzerkongressen, als Teil eines künstlerischen Prozesses. Gemeinsam mit der Aufführung des Totenmals, des einzigen Stückes Wigmans, das von Manning (1993) aber auch von Müller & Stöckemann (1993) als sich bewegend „zwischen spätexpressionistischem Anspruch und präfaschistischem Gebaren“ (S. 92) bezeichnet wird, zeigen sich hier ästhetische Annäherungen an den Nationalsozialismus. Für die Vielzahl der TänzerInnen, die aus den Tanzschulen auf den Markt strömen, sind nicht genügend Engagements vorhanden und ein „sich verstärkt breit machender Dilettantismus“ (Müller / Stöckemann 1993, 94) wird konstatiert, dem man mit der Forderung nach einer Tanzhochschule entgegentreten will. Der Ausdruckstanz und seine ProtagonistInnen sind 1930 sowohl materiell als auch künstlerisch in einer sehr schwierigen Situation (Müller / Stöckemann 1993; Manning 1993). Es ist also nicht die Machtergreifung der Nationalsozialisten, die zu einem plötzlichen Abbruch der Ausdruckstanzbewegung führt, im Gegenteil erfährt diese 1933 zunächst neuen Schwung und Förderung. Mary Wigman bekommt 1933 die bis dahin größte Förderung einer Tanzkompagnie in Deutschland (Hardt 2004), TänzerInnen profitieren von den Stellen, aus denen ihre jüdischen KollegInnen vertrieben werden, und neue Stellen, u. a. im „Kraft durch Freude“-Programm, werden geschaffen. Der weitverbreitete Mythos, der Ausdruckstanz sei entartete Kunst gewesen, ist leider falsch. Weder vor noch nach 1936 ist dies der Fall (Manning 1993; Karina / Kant 1996). Ganz im Gegenteil wird der Tanz finanziell gefördert und dient der Propaganda des Regimes (Kew 1999). 1937, mit den Kriegsvorbereitungen, ändert sich die Lage für die Künste. Film und Radio sind besser geeignet für Propagandazwecke, da sie kostengünstiger sind, mehr Menschen erreichen und in Kriegszeiten praktischer anwendbar sind (Kew 1999). Laban Labans Nähe zu völkischem Denken in den 1920ern ist gut belegt (Kant 2020; Müller / Stöckemann 1993; Karina / Kant 1996), und ich werde dies im Folgenden mit einigen Beispielen belegen. Labans Proben- / Arbeitsbesuch der völkischen Siedlung Klingenberg in den 1920ern veranlasst Dörr (2005) zu folgender Aussage: „Zwar teilte Laban die weltanschauliche Radikalität der völkisch fanatisierten Lebensreformer praktisch nicht, doch sind seine in dieser Zeit entstandenen Notizen wie ‚Zucht übt Naturgeschehen; Menschenzucht ist Naturgeschehen‘ (Tanzarchiv Leipzig 1919) von der Atmosphäre dieser Siedlungsgemeinschaft angeregt und zeigen, dass Laban- - ohne sich vom internationalistisch und pazifistisch ausgerichteten Konzept der Lebensreform zu distanzieren- - mit dem rechtskonservativen, sozialdarwinistisch-rassehygienischen Flügel der Bewegung sympathisiert, der völkisch und antisemitisch eingestellt war“ (S. 167). Nach Kant (2020) ist seine Notationsschrift auf Grundlage der Runenschrift entstanden. Er glaubte an den Zusammenhang von „formalem Aufbau“ und „symbolischer Bedeutung“ der Runen (Dörr 2005, 111), wie er es 1923 beschreibt: „Es ist anzunehmen, daß bei allem Verfall und gärenden Chaos, das uns umgibt, irgendwelche positiven Ströme durch unsere Rassewelt fluten und daß diese, die einst die Schriftrune formten, heute die Rune in dem lebendigen Leib erstehen lassen, um uns die Möglichkeit zu geben, das ewige Gesetz zu ver- 54 Nicole Hartmann 2 | 2024 dichten und zu verkünden.“ (Laban 1923, zit. nach Müller / Stöckemann 1993) Dies erinnert stark an die damalige Praxis der Runengymnastik. Bernhard Marby, der diese in den 1920ern zusammen mit Adolf Kummer entwickelte, vertrat die Ansicht, dass sich das geheime germanische Wissen und die Heilkraft durch das Nachstellen von Runen auf den Menschen übertrage. Dieses Geheimwissen war jedoch nur Menschen arischer Abstammung zugänglich, bei Nicht-Ariern würde die Runengymnastik sogar zerstörerisch wirken (Schwan 2019). Laban selbst warnt zwar 1928 auf dem 2.-Tänzerkongress davor, den Bewegungschor weltanschaulich zu nutzen-- eben weil seine SchülerInnen dies im linken Kontext tun- - stuft ihn aber als „Volkstanzbewegung der weißen Rasse“ ein und grenzt ihn von Modetänzen ab, in denen sich der Einbruch „fremdrassiger Bewegungsgewohnheiten ausdrücke“(Laban1928,zit.nachMüller / Stöckemann 1993, 93). So verwundert es nicht, dass Laban wenig Mühe hatte, seine Bewegungschöre und seine Idee vom Tanz an die nationalsozialistischen Ideen anzugleichen, vielmehr begrüßte er (wie auch viele andere AusdruckstänzerInnen) die neuen Machthaber (Dickson 2016). Mit der Machtergreifung 1933 wird Laban die führende Persönlichkeit des Tanzes in Deutschland. Bis 1934 ist er Ballettmeister an der Oper Berlin und organisiert die Tanzfestspiele 1934 und 1935. Im Auftrag des Propagandaministeriums leitet er zudem die Deutsche Tanzbühne, aus der die Meisterwerkstätten hervorgehen, ein erster Schritt hin zu der auf den Tänzerkongressen geforderten Tanzhochschule (Müller / Stöckemann 1993). Nicht nur bestimmt Laban so maßgeblich den Tanz in Deutschland, er ist damit auch ein Vorbild für die AusdruckstänzerInnen (Dickson 2016). Sein Einfluss wird im englischen Dance Observer deutlich: „All German dancer’s followed Laban’s lead.“ (Partsch- Bergsohn 1994, 215) Als Laban 1936 im Rahmen der Olympischen Spiele das chorische Weihespiel „Vom Tauwind und der neuen Freude“ für die Dietrich-Eckhart-Bühne choreographiert, wird dieses jedoch von Goebbels verboten. Warum, bleibt unklar: Ist es eine nicht erklärbare Ablehnung Goebbels, Goebbels Vorliebe für das Ballett, Machtkonflikte im Propagandaministerium (Karina / Kant 1996), oder widersprach die Form tatsächlich der NS-Ideologie (Dörr 2005)? Welcher Erklärung man auch zuneigt oder ob die Wahrheit in einer Mischung von allem liegt: Dieses Verbot ist weder ein Beleg für die antifaschistische Haltung Labans noch dafür, dass sich der Ausdruckstanz in seinen Konzeptionen und Formen der NS-Ideologie per se widersetzte. Obwohl Laban mit diesem Verbot in Ungnade fällt, bedingte dies nicht seine sofortige Ausweisung aus Deutschland, und er erhält noch bis März 1937 500 RM (das Gehalt eines Solotänzers) für eine beratende Tätigkeit. Laban selbst versteht die Ablehnung seiner Tanzauffassung durch das Dritte Reich nicht und schreibt in einem Brief, dass man Goebbels darüber aufklären müsse, dass es hier um ein Komplott gegen ihn und den Tanz gehe (Karina / Kant 1996; Dörr 2005). Ich halte es für höchst fragwürdig, Laban freundlicherweise zu unterstellen, dass er „künstlerisch verblendet für die politische Bedeutung der Olympischen Spiele“ (Bender 2020, 62) war. Wie dargelegt, profitierte er zunächst in großem Maße vom NS-Regime, festigte seine Position als die leitende Kraft des Tanzes, sympathisierte mit dem Regime und unterstützte es mit seiner Kunst. Laban arbeitete freiwillig mit dem NS-Regime zusammen, nicht aus irgendeiner Art der Verblendung, sondern sehenden Auges. Es gab KollegInnen wie Kurt Jooss, Valeska Gert, Jean Weidt oder Gertrud Bodenwieser, die emigrierten. Er hätte sich fragen können, warum. Und spätestens Martha Grahams Brief, mit dem sie eine Einladung zu den von Laban im Rahmen der olympi- Die tänzerischen Wurzeln der Tanztherapie 55 2 | 2024 schen Spiele organisierten Tanzwettspiele ablehnte, hätte ihn wachrütteln können: „Es ist mir nicht möglich, zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Deutschland zu tanzen. So viele Künstler, die ich respektiere und bewundere, sind verfolgt worden, sind aus nichtigem und nicht gerechtfertigtem Grund mit Arbeitsverbot belegt worden, so daß ich nicht in der Lage bin, mich durch die Annahme der Einladung mit einem Regime zu identifizieren, das derlei Dinge ermöglicht. Hinzu kommt, daß einige meiner Ensemblemitglieder in Deutschland nicht willkommen sind. Sie sind Juden“ (Graham 1963, zitiert nach Müller / Stöckemann 1993, 168). Auch Elsa Gindler verweigerte die Zusammenarbeit mit der Regierung, lehnte Preise ab und half ihren verfolgten SchülerInnen (Oberem 2016). Während des Krieges, als bekannt wurde, dass Neuankömmlinge in den KZs lange Stehappelle zu bewältigen hatten, übte sie in ihren Klassen das anstrengungslose Stehen (Loukes 2006). Ein Gedenkstein in Yad Vachem würdigt ihr Engagement (Exhibition 2015, HJEGF, Berlin, zitiert nach Oberem 2016). Wigman Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit Mary Wigman verweise ich auf Mannings Buch „Ecstasy and the demon“ (1993), denn auch ihre Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Regime ist gut belegt. Sie profitiert zunächst vom neuen Regime und choreographiert schließlich für die Olympischen Spiele 1936. Wigman „unternahm bis 1942 zweimal im Jahr ausgedehnte Gastspielreisen“ (Müller / Stöckemann 1993, 191), ebenso wie u. a. Harald Kreutzberg und Gret Palucca, die bis 1944 im Fronttheater auftraten. 1942 muss Wigman auf Druck der Behörden ihre Dresdner Schule verkaufen und wird danach unter der Protektion von Niedecken-Gebhard als Lehrbeauftragte der Musikhochschule Leipzig eingestellt. Der Ruf zur Professorin wird vom Propagandaministerium abgelehnt. 1943 choreographiert sie am Leipziger Opernhaus (Müller / Stöckemann 1993, 197). Im März 1943 verbietet Goebbels alle Kurse in Volks-, Step- und Gesellschaftstanz, um die Tanzlehrer in die Wehrmacht einzuziehen (Müller / Stöckemann 1993, 197). 1944 wurden die letzten noch am Theater tätigen Männer zur Wehrmacht eingezogen, die Frauen zur Rüstungsproduktion. Letztere erhielten in Leipzig zweimal die Woche ein Pflichttraining, das von Mary Wigman geleitet wurde (Müller / Stöckemann 1993). Der Mythos, sie habe ein Arbeitsverbot erhalten, stimmt also nicht. Fazit Wenn wir uns in der Tanztherapie auf die Prämissen des Ausdruckstanzes beziehen, so ist in seinen vielfachen Ausprägungen unklar, worauf wir uns tatsächlich beziehen: auf den expressionistischen, ichbezogenen Tanz, den politischen Tanz, die Gruppenchoreographien, die bewegungschorische Idee oder den Ausdruckstanz in der NS-Zeit? Auf Improvisation oder Formung der Bewegung? Auf Emotionsausdruck und Ergründung des Inneren oder die Abstraktheit der Bewegung? Auf die mystischen, religiösen Züge oder auf die politischen? Macht es überhaupt weiterhin Sinn, das Tanzverständnis in der Tanztherapie mit dem Ausdruckstanz zu verknüpfen? Ich würde mir wünschen, dass die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit der Ausdruckstanzikonen Laban und Wigman zu einem Betrauern darüber führen könnte, dass beide keine WiderstandskämpferInnen waren und sie mit der NS-Ideologie sympathisierten. Ausdruckstanz ist eine Tanzform, die den Tanz entscheidend und tiefgreifend geprägt hat, aber aus seiner Zeit heraus zu verstehen ist. Viele Prämissen sind heute überholt. Der natürliche Körper jenseits von sozialen und kulturellen Prägungen existiert aus konstruktivistischer Sicht ebenso wenig wie das wahre, echte authentische Selbst. Großes Potential 56 Nicole Hartmann 2 | 2024 für die Tanztherapie bieten Konzepte aus den Disability Studies oder der Soziologie, die die scheinbaren Gegensätze von Konstruktivismus und Phänomenologie zusammendenken (Dederich 2007; Gugutzer 2004) und Fragen hinsichtlich Gender, Körper, Gesellschaft und Diskurs aufwerfen. Ich arbeite selbst mit Teilen der LBMA und finde, dass es ein gutes Mittel der Beobachtung ist, und es dient mir oftmals als Ausgangsbasis von Interventionen. Es ist jedoch nur eine Möglichkeit, Bewegung zu beobachten, und sie ist kulturspezifisch in einer bestimmten Zeit mit bestimmten Ideen entstanden und später überarbeitet worden. Das bedeutet, dass wir die kulturelle Gegebenheit anerkennen und uns mit der Arbeitsgruppe des ADTA fragen sollten, ob sie ein Instrument für alle Bewegungsarten und Tanzformen sein kann. Mein Appell ist daher: Lasst uns die Bewegungsanalysesysteme für andere kulturelle Bewegungspraxen öffnen, sie erweitern, neue Kategorien finden und wissenschaftlich weiter erforschen, wie es die interessanten Arbeiten von Manavi (2020) zu Kestenberg und die Forschungsarbeit von Bernardet et al. (2019) zu LBMA zeigen. Vielmehr, als dass man sich von meinen Aussagen angegriffen fühlen könnte, ist dies in meinen Augen ein Aufruf zu spielen, neu zu entdecken und weiter zu forschen. In jedem Fall möchte ich mich der Petition der amerikanischen Studierenden anschließen, dass die Geschichte Labans (und ich würde hier ergänzen auch des Ausdruckstanzes) ebenso wie Bewegungsbeobachtungssysteme in all ihren Widersprüchen in den Ausbildungen kritisch unterrichtet werden sollten, um sowohl dem Tanz, den Systemen als auch der therapeutischen Situation, in der die Beobachtung stattfindet, Rechnung zu tragen. Gut getrennt werden sollte zwischen Beobachten und Interpretieren, oder, wie ich meine: Die Deutungshoheit hat die KlientIn. Nach Willke (2007) ist zu konstatieren, dass die Entwicklungen des Tanzes seit der Entstehung des Ausdruckstanzes von der Tanztherapie zu wenig rezipiert worden sind, mit Ausnahme von Willke selbst. Der Ausdruckstanz ist über 100 Jahre alt, die Welt und der Tanz haben sich in diesen 100 Jahren verändert. Wir sollten daher unser Augenmerk im Tänzerischen auf zeitgenössische westliche und internationale Tanzkonzeptionen richten und mit diesen arbeiten. Hier sind Umformungen, Konzeptänderungen, neue Diskurse schon längst angekommen-- sie erscheinen mir wesentlich interessanter als die Idee des Unbewussten, Freien und Authentischen (von der Tanz- und Theaterwissenschaft längst in Frage gestellt). Ich könnte mir vorstellen, dass die Auseinandersetzung mit den Konzepten des Ausdruckstanzes einen genaueren Blick darauf erlaubt, wo die Tanztherapie sich heute noch auf dessen Konzepte bezieht und wo nicht. Welche Möglichkeiten liegen darin, wenn wir das Nicht-Authentische umarmen und uns von der Idee der „freien“ Bewegung und des „natürlichen“ Körpers lösen würden? Vielleicht gewinnen wir eine neue Freiheit, um über konstruktivistische Körperkonzepte generell und im Hinblick auf die Tanztherapie zu diskutieren. Der Artikel basiert auf dem Vortrag „Tanztherapie im Wandel der Zeit - vom Ausdruckstanz bis zur Gegenwart“, gehalten auf dem Forschungstag Tanztherapie 2023. Literatur Bender, S. (2020): Grundlagen der Tanztherapie. Geschichte, Menschenbild, Methoden. Psychosozial-Verlag, Gießen, https: / / doi. org/ 10.30820/ 9783837927658 Bernardet, U., Fdili Alaoui, S., Studd, K., Bradley, K., Pasquier P., Schiphorst T. 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