körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2024.art18d
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Stichwort: Optimale Reizstärke
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Marianne Eberhard-Kaechele
Für die Gestaltung von körper- und bewegungstherapeutischen Sitzungen, die möglichst effektiv und gleichzeitig schonend für schwer belastete PatientInnen verlaufen, hat sich das Prinzip der optimalen Reizstärke bewährt. Dieses allgemeine Prinzip findet sich in diversen Kontexten wieder, wo es zu spezifischen Konzepten und Methoden weiterentwickelt wurde.
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113 Forum: Stichwort körper-- tanz-- bewegung 12. Jg., S. 113-123 (2024) DOI 10.2378 / ktb2024.art18d © Ernst Reinhardt Verlag Stichwort: Optimale Reizstärke Ein Prinzip mit vielen Gesichtern Marianne Eberhard-Kaechele F ür die Gestaltung von körper- und bewegungstherapeutischen Sitzungen, die möglichst effektiv und gleichzeitig schonend für schwer belastete PatientInnen verlaufen, hat sich das Prinzip der optimalen Reizstärke bewährt. Dieses allgemeine Prinzip findet sich in diversen Kontexten wieder, wo es zu spezifischen Konzepten und Methoden weiterentwickelt wurde. Das Prinzip der optimalen Reizstärke Im Jahr 1908 testeten die Psychologen Robert Yerkes und John Dodson die Lernfähigkeit von Mäusen unter der Einwirkung von Elektroschocks bei fehlerhaftem Verhalten und entdeckten, dass die kognitive Leistungsfähigkeit in einem umgekehrt U-förmigen Zusammenhang zu dem durch Reize ausgelösten nervösen Erregungs- oder motorischen Aktionsniveau steht. Dieses Phänomen beschrieben sie mit dem „Yerkes-Dodson-Gesetz“ der optimalen Reizstärke (Yerkes / Dodson 1908). Das Gesetz, das später auf Menschen übertragen wurde, besagt, dass eine optimale Lern- oder Leistungserfahrung im Bereich einer mittleren Reizstärke stattfindet. Reize beeinflussen die emotionale Erregung (z. B. Freude, Wut, Angst), die physiologische Anspannung und die motorische Aktivierung. Wirken zu schwache Reize auf das Subjekt ein, findet wenig bis kein Lern- Abb. 1: Das Yerkes- Dodson-Gesetz (eigene Darstellung nach Yerkes / Dodson 1908 und Ogden / Fisher 2015) 114 3 | 2024 Marianne Eberhard-Kaechele effekt statt. Sind die Reize wiederum zu stark, nimmt die Effektivität der Lern- oder Leistungssituation ebenfalls ab. Abb. 1 veranschaulicht diese Wechselwirkung. Das Yerkes-Dodson-Gesetz zeigte sich nützlich in den Bereichen Wirtschaft, Soziologie, Pädagogik, Entwicklungspsychologie, Leistungs- und Gesundheitssport, Körper- und Bewegungstherapie sowie in der Psychotherapie, insbesondere bei Psychotrauma. In den verschiedenen Disziplinen wurde die Wirkung der optimalen Reizstärke über die von Yerkes und Dodson untersuchten kognitiven Lernprozesse hinaus auf emotionales, soziales und motorisches Lernen und Leisten beobachtet. Während Studien an Menschen zwischen 1950 und 1980 den Zusammenhang zwischen Stressniveau und Motivation / Leistung bestätigten, konnte eine Studie im Jahr 2007 Hinweise für die Rolle von Stresshormonen bei der Entstehung des Yerkes-Dodson-Effekts finden (Lupien et al. 2007). Allerdings ist die obenstehende, symmetrische Kurve eine idealtypische Konstruktion. Die Kurven haben z. B. bei Experten versus Novizen unterschiedliche mittlere (optimale) Werte. Bei einem Anfänger ist das optimale Erregungsniveau wesentlich niedriger als das eines Erfahrenen, der die gleiche Aufgabe erfüllt (Abb. 2). Der Schweregrad der Aufgabenstellung beeinflusst ebenfalls die Form der Kurve. Schwierige Aufgaben können nur bei geringeren Erregungsniveaus bewältigt werden, während einfache Aufgaben noch bei hohen Erregungsniveaus gelingen (Kent 2006). Pathogene und gesunde Reizstärken Das Prinzip der optimalen Reizstärke beschreibt Bedingungen für Lernen und Leistung auch in der Ontogenese und in Therapien (Siegel 2020; Lichtenberg 1990). In der Säuglingsforschung wurde das gleiche wie bei den Mäusen von Yerkes und Dodson festgestellt: dass ein Kind neue Informationen am besten in Zuständen mäßiger Erregung verarbeiten kann. Der Fokus von Yerkes und Dodson lag auf Leistung, welche sie als hohe oder niedrige Leistung in der vertikalen Achse des Diagramms darstellten. Im Kontext von Entwicklungspsychologie und Psychotherapie liegt der Fokus auf Emotionen und Stress, weshalb die Kurve meist mit der Erregungsachse in der Vertikalen statt in der Abb. 2: Sonderfälle des Yerkes-Dodson- Gesetzes (eigene Darstellung nach Kent 2006) Stichwort: Optimale Reizstärke 3 | 2024 115 Horizontalen gezeigt wird. Wie Abb. 3 verdeutlicht, entspricht dies unserem verkörperten Verständnis von hoher Intensität als oben und niedrige Intensität als unten, um pathogene von gesunden Reizstärken zu differenzieren. Mit der emotionalen Erregung geht die motorische Aktivierung einher. Zustände extrem hoher Erregung führen eher zu automatisierten Schutzreaktionen, während Zustände sehr geringer Erregung frustrieren und ggf. an Vernachlässigungserfahrungen anknüpfen. Beide Extreme tragen daher kaum zur produktiven Entwicklung neuer Kompetenzen bei, sondern können zu Störungen führen, wie in Abb. 3 dargestellt. Solche Phänomene werden in der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) in Achse IV (Struktur) unter der Fähigkeit zur Selbststeuerung beschrieben. Darin werden die Konzepte der Übersteuerung und Untersteuerung von Emotionen und Impulsen differenziert (Arbeitskreis OPD 2023). Lichtenberg merkt an, dass die Erregungs- und die motorische Aktivierungskurve bei Säuglingen und Kleinkindern parallel verlaufen, während die Kurven bei Erwachsenen antizyklisch verlaufen können. Diese antizyklischen Kurven können außerhalb oder innerhalb des Fensters der optimalen / gesunden Funktionen liegen. „Dort kann ein paranoider Patient einen niedrigen Aktivitätsgrad bei einem Zustand hoher Spannung aufweisen; oder ein Athlet kann sich in einem Zustand gesteigerter motorischer Aktivität befinden, während er psychisch mäßig oder kaum gespannt ist.“ (Lichtenberg 1990, 878) In Abb. 4 wird eine solche antizyklische Kurve veranschaulicht. Es kann vorkommen, dass sich die antizyklische Koordination von physischer und psychischer Aktivierung gestört entwickelt. Das findet sich häufig bei psychiatrischen und psychosomatischen Störungen: Die Befindlichkeit wird verborgen, auch in Situationen, wo es angemessen wäre, Erregung zu zeigen, oder das Befinden ist übertrieben erregt, bezogen auf im Allgemeinen als mäßig aufregend beurteilte körperliche oder Umweltereig- Abb. 3: Das Fenster der optimalen Reizstärke (modifiziert nach Ogden / Fisher 2015 und Lichtenberg 1990) 116 3 | 2024 Marianne Eberhard-Kaechele Abb. 4: Angemessene antizyklische Koordination von physischer und psychischer Erregung Abb. 5: Gestörte antizyklische Koordination von physischer und psychischer Erregung (eigene Darstellung) Stichwort: Optimale Reizstärke 3 | 2024 117 nisse. Eine solche gestörte Kurve ist in Abb. 5 zu sehen. Im Falle einer solchen Dysregulation können Techniken der Affektregulation oder die psychophysische Regulation wieder einen ausgeglichenen Zustand (siehe weiter unten) herstellen. Das Lernzonen-Modell In der Erlebnispädagogik entwickelte Rohnke (2009; Rohnke / Butler 1995; deutsch: Senninger 2004) ein Modell der optimalen Reizstärke, formuliert als anschauliche, meist in Ampelfarben dargestellte „Lernzonen“. Diese Zonen reichen von der Komfortzone über die Lernzone bis zur Panikzone. Das Modell eignet sich, um die Selbstwahrnehmung der Erregung („In welcher Zone befinden Sie sich gerade? “) und die Selbsteinschätzung von geeigneten Zielen (Komfortzone verankern, Lernzone erforschen, Panikzone ausloten) anzuregen. Das therapeutische Vorgehen wird auf die individuell empfundenen Lernzonen der PatientInnen abgestimmt. Zuerst wird die Komfortzone hergestellt durch ein gutes Beziehungsklima und die Beschäftigung mit einfachen Aufgaben, die den Stärken der PatientInnen entsprechen. Daraufhin wird die persönliche Notwendigkeit für Veränderung geklärt. Das Lernziel wird vereinbart und eine angemessene Herausforderung gewählt. Im nächsten Schritt sollen PatientInnen motiviert werden, ihre Komfortzone zu verlassen, bei einem „Durchbruch“ die Hemmschwelle der Angst zu überwinden und sich in die Lernzone zu wagen, ohne sich jedoch der Panikzone auszusetzen. Nach einer Reflexionsphase beginnt der erfahrungsbasierte Lernzyklus von neuem (Senninger 2004). Mit der Zeit dehnt sich die Komfortzone immer weiter aus, wenn Erfahrungen in der Lernzone vertraut werden und im Erleben somit zur Komfortzone umgewandelt werden. Das Toleranzfenster und seine Erweiterung Im Bereich der Psychotherapie wurde ein ähnliches Konzept zur Ausdehnung der Komfort- und Lernzone entwickelt. Siegel (2020) prägte erstmals 1999 den Terminus „Toleranzfenster“, um die individuelle Bandbreite der Toleranz für hohe und niedrige Erregungs-, Aktivierungs- und Spannungsniveaus zu bezeichnen. Bei PatientInnen, bei denen das Toleranzfenster relativ zur Norm klein ist, z. B. solche mit einer (k)PTBS, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Angststörung oder Psychose, kann ein wesentliches Therapieziel sein, das Fenster weiter auszudehnen, um eine größere Toleranz für Spannungs- und Erregungszustände, Abb. 6: Das Lernzonen- Modell (eigene Darstellung nach Rohnke 2009; Rohnke / Butler 1995; Senninger 2004) 118 3 | 2024 Marianne Eberhard-Kaechele die im Alltag vorkommen oder im therapeutischen Prozess bevorstehen, zu erreichen (Ogden / Fisher 2015; Siegel 2020). Der Prozess der Erweiterung des Toleranzfensters erfolgt in mehreren Schritten: 1. Stabilisierung und Ressourcenförderung durch Einhaltung des aktuellen Toleranzfensters 2. Klärung des Ziels der Patientin / des Patienten, das Fenster zu erweitern 3. Erwerb der Kompetenz der Erregungs- oder Affektregulation, um die Folgen der Erweiterung des Fensters verarbeiten zu können 4. Schrittweise das Toleranzfenster in beiden Richtungen durch entsprechende Angebote der Ruhe / Unterforderung und der relevanten Herausforderung ausweiten Das Prinzip der Balance zwischen hohen und niedrigen Reizniveaus Bisher wurden Ansätze vorgestellt, die bestrebt waren, a) das optimale Reizniveau- - die goldene Mitte-- einzuhalten und b) die Bandbreite der Reiztoleranz zu erweitern. Nun wenden wir uns verwandten Konzepten zu, die, bezogen auf menschliche Entwicklung und darauf modellierte pädagogische oder therapeutische Prozesse, den Schwerpunkt ihrer Betrachtung auf c) eine Balance in der Alternierung zwischen niedrigen und hohen Reizniveaus legen. Psychophysische Regulation Psychophysische Regulation (PPR) ist zunächst die allgemeine Bezeichnung für die positive Beeinflussung der eigenen sozialen, mentalen und körperlichen Zustände zur Stressregulation, Bedürfnisbefriedigung und zur effektiven Lebensbewältigung durch Lernen und Leisten (van der Schoot 1990). Aus der Sportpraxis hat sich PPR als Methode zur Optimierung der Leistungs-, Lern- und Anpassungsfähigkeit jeder Zielgruppe entwickelt, auch für Gesunde (Chermette 2021). Entsprechend dem Yerkes-Dodson-Gesetz soll eine Hypo- oder Hyperaktivierung bzw. -erregung hin zum optimalen Niveau ausgeglichen werden. Dieser Ausgleich erfolgt zu Beginn einer jeden therapeutischen Einheit auf der aktuellen Ebene, und als übergreifendes Therapieziel adressiert es die habituelle Ebene einer Person. Abb. 7: Erweiterung des Fensters der Erregungstoleranz (eigene Darstellung nach Ogden / Fisher 2015) Stichwort: Optimale Reizstärke 3 | 2024 119 Die Technik der PPR beinhaltet eine Aktivierungsphase, die von einer Deaktivierungsphase gefolgt wird, um TeilnehmerInnen in den Zustand einer optimalen Aufnahmebereitschaft zu versetzen (Chermette 2021). Deimel (2012) hat die Parameter für die Gestaltung von Interventionen zur PPR wie folgt empfohlen: Die Aktivierungsphase wird unterstützt durch: 1. Geringen bis mittleren Neuigkeitsgrad der Aktivität 2. Geringe bis mittlere motorische und kognitive Komplexität / Schwierigkeitsgrad 3. Hohe Intensität Die Deaktivierungsphase wird unterstützt durch: 1. Angemessene Dauer (z. B. erst mit kurzen Phasen beginnen und dann erweitern, oder umgekehrt mit längere Phasen beginnen und diese verkürzen, je nachdem, ob die TeilnehmerInnen von ihrer Grundtendenz eher hypo- oder hyperaktiviert sind) 2. Angemessenen Grad der Ruhe (z. B. aktivere oder völlig passive Formen der Entspannung) 3. Wahrnehmungslenkung durch Sinnesaufgaben, Phantasiereisen, angeleitete Übungen (Yoga, Atmung, Dehnübungen etc.), wenn das Klientel aufgrund aufkommender Grübeleien oder Missempfindungen Ruhepausen ohne Lenkung nicht ertragen kann. PPR ermöglicht: 1. Gezielte Aktivierung, Konzentration und Steuerung der Energie des Organismus und damit bessere Leistungsfähigkeit 2. Verbesserung der Wahrnehmung und Einordnung von Wohlbefinden und Missempfindungen als Voraussetzung für Selbstfürsorge 3. Reduktion der Stressanfälligkeit durch bessere Bewältigung von Belastungen und schnellere Erholung nach Belastungen. Psychophysische Regulation kann zu einer gesunden Gewohnheit werden und wirkt sich auf diverse Ebenen des Organismus aus, wie Abb. 8 zeigt. Abb. 8: Einflussebenen der psychophysischen Regulation (in Anlehnung an Meyer 2011) 120 3 | 2024 Marianne Eberhard-Kaechele Haltende Umwelt und die „ausreichend gute“ Bezugsperson Das Konzept der haltenden Umwelt wurde von D. W. Winnicott (2006) genutzt, um das Verhalten von Eltern zu beschreiben, die der Verletzlichkeit und Abhängigkeit ihrer Kinder mit dem Schaffen einer Umwelt begegnen, die sowohl Geborgenheit, Schutz und Halt gibt, als auch Reibung und angemessene Herausforderungen bereithält. Im Vergleich zur PPR wird hier mit dem niedrigen Niveau begonnen. Geborgenheit mit niedriger Erregung wird meist bewusst gestaltet, während die Herausforderungen mit hoher Erregung teils bewusst gestaltet und zum Teil durch natürliche Fehlerquellen der Eltern entstehen. Winnicott brachte diese Tatsache der stimulierenden Wirkung der natürlichen Fehlerquellen in dem Konzept der „good enough mother“ zum Ausdruck. Gute Eltern, die durch kleine Versäumnisse oder eigene Interessen das Kind frustrieren und somit in seiner Autonomie anregen, werden im Endergebnis als hilfreicher für die Entwicklung des Kindes angesehen als scheinbar perfekte Eltern. Letztere bieten keine Reibung oder Autonomieanlässe, obwohl das Kind die Kompetenz hätte, Dinge für sich selbst zu tun. Das Konzept der „good enough mother“ wurde von Wöller (2016) in seinem Artikel „Der ausreichend gute Therapeut“ wieder aufgegriffen. Darin betont er anhand von Ergebnissen der Psychotherapieforschung, dass TherapeutInnen häufiger als ihnen bewusst ist Brüche in der Beziehung zu PatientInnen verursachen, z. B. durch unpassende Interventionen oder eigene Fehlleistungen. Wenn die PatientInnen befragt werden, sehen sie den Prozess meist kritischer als der/ die TherapeutIn, würden von sich aus jedoch nichts sagen. Seine Recherche belegt, dass die Reparatur von Beziehungsbrüchen, indem der / die TherapeutIn zu situativen Brüchen steht, mit den PatientInnen bespricht und gemeinsam Lösungen entwickelt, die tatsächliche Reizstärke sichtbar macht. Diese Reizstärke kann dann besser reguliert werden und erzielt größere Therapieeffekte, als wenn die Beziehung scheinbar harmonisch verläuft und alle Herausforderungen in den außertherapeutischen Beziehungen liegen. Die praktische Konsequenz, die Wöller zieht, ist die Antizipation von Brüchen, die regelmäßige Erkundigung nach dem Zufriedenheitsgrad der PatientInnen mit dem Therapieverlauf und die Ermutigung zu Kritik. Sicherheits-Erregungs-Balance Aus der humanistischen Psychotherapie stammt ein ähnliches Prinzip wie die haltende Umwelt, die „Sicherheits-Erregungs-Balance“ (Heinerth 1983). Dieses besagt, dass ein / e PatientIn erst auf der Basis von sozial-emotionaler Sicherheit in der Lage ist, mit beängstigenden Wahrnehmungen und Erlebnissen umzugehen und therapeutisch daran zu arbeiten. Gleichzeitig ist Sicherheit allein keine ausreichende Bedingung für persönliche Veränderung, da die Person sich entweder nicht weiterentwickelt oder unfähig wird, außerhalb der Sicherheit der Therapie zu leben. Heinerth greift den Aspekt der optimalen Reizstärke auf, wenn er vorschlägt: „Hier bedarf es der dosierten Verunsicherung durch Erfahrungen, die für den Klienten bedeutsam sind. […] Diese Konfrontation ist so zu dosieren, daß die induzierte Erregung als Änderungsmotivation genutzt werden kann. Die damit verbundene Verunsicherung ist notwendig und so lange hilfreich für eine Änderung, wie sie die Basis von Sicherheit und Geborgenheit nicht zerstört. Konfrontation mit einer Verunsicherung, die […] ohne Sicherheit und Geborgenheit erlebt wird, vermag nicht zu ändern, sondern fixiert den Klienten in seiner Abwehr.“ (Heinerth 1983, 111) Für die körper- und bewegungstherapeutische Arbeit mit Menschen mit psychischen Störungen hat sich bewährt, die Begegnung mit einem Individuum zu erkundigen oder zu beobachten, welche Übungsformen und Be- Stichwort: Optimale Reizstärke 3 | 2024 121 wegungsparameter für sie oder ihn Sicherheit bzw. Erregung bedeuten. Hilfreich hierfür ist die Kenntnis von Übungsformen und Bewegungsparametern, die für verschiedene Störungsbilder in der Regel Sicherheit bzw. Erregung bedeuten. In Tab. 1 finden sich einige Beispiele, die die Autorin in der Praxis und im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen gesammelt hat. Gestaltungskriterien für die Sicherheits-Erregungs-Balance Über die Art der Aktivität hinaus gibt es Gestaltungskriterien, die die Wirkung einer Intervention beeinflussen können. Diese scheinbar banalen Aspekte werden oft in Supervisionen als reflexionswürdig aufgedeckt. 1. Intensität: Die Ausprägung der Sicherheit oder der Erregung, die eine Aktivität bietet, beeinflusst deren Effekt. 2. Dauer: Je nachdem, wie lange ein Zustand währt, kann sich der Effekt ändern. Beispielsweise können lange Phasen der Sicherheit langweilig wirken und somit negative Gefühle erzeugen. Erregungsphasen sollten so bemessen sein, dass sie die Bewältigungsreserven der PatientInnen nicht überschreiten. 3. Proportion / Rhythmus: Das Verhältnis von Sicherheit zu Erregung im Gesamtverlauf einer Therapiestunde, die Reihenfolge und die Häufigkeit der Abwechslung sind weitere Stellschrauben der Gestaltung. Während am Anfang einer Therapie möglicherweise viel Sicherheit und wenig Erregung günstig sind, kann gegen Ende der Therapie ein umgekehrtes Verhältnis sinnvoll sein. 4. Dynamik: Die Zuordnung von Aktivitäten zu einem Prädikat „sicher“ oder „erregend“ ist nicht statisch, sondern kann sich dynamisch entsprechend der (positiven) Veränderung der PatientInnen verändern. Dementsprechend müssen Aktivitäten von der TherapeutIn immer wieder neu bewertet und angepasst werden. Was heute erregend war, kann morgen sicher sein und umgekehrt. 5. Berechenbarkeit/ Mitbestimmung: Der Wechsel, besonders von Sicherheit zu Erregung, sollte auf eine berechenbare Weise, möglichst in Abstimmung mit der Patientin oder dem Patienten, stattfinden. Persönlichkeitsfaktoren der TherapeutInnen Jede / r Körper- und BewegungstherapeutIn ist eine individuelle Persönlichkeit, geprägt von genetischen Anlagen und Lebenserfahrungen, die eine Präferenz für hohe oder niedrige Reizstärken bedingen. Professionalität zeigt sich Sicherheit Erregung Vertraute Aktivitäten Struktur Entscheidungsfreiheit Gruppenkohäsion Ressourcenorientierte Aktivitäten Sinneswahrnehmung Funktionale Bewegungsaufgaben Unbekannte Aktivitäten Wettbewerbscharakter im Mittelpunkt stehen Konflikte / Herausforderungen Aggressionsübungen Vertrauensübungen (z. B. Fallen lassen, sich mit geschlossenen Augen bewegen) Tab. 1: Zuordnung von Übungsformen und Bewegungsparametern 122 3 | 2024 Marianne Eberhard-Kaechele darin, authentisch seine Neigung als Stimulus für die Förderung seiner PatientInnen zu nutzen und in der Lage zu sein, die weiteren Modalitäten sachgerecht anzuwenden, wenn es der Prozess der PatientInnen erfordert. Dieses Stichwort zeigte die Allgegenwärtigkeit und Langlebigkeit des Prinzips der optimalen Reizstärke sowie drei Ansätze im Umgang damit: Einhalten, Erweitern oder Alternieren zwischen hoher und niedriger Reizstärke in einem Fließgleichgewicht. Literatur Arbeitskreis OPD (Hrsg.) (2023): OPD-3 Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik. Hogrefe, Bern Chermette, C. (2021): Zum Einsatz von Entspannungsverfahren in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. In: Deimel, H., Thimme, T. (Hrsg.): Bewegungs- und Sporttherapie bei psychischen Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters (Brennpunkte der Sportwissenschaft; Band 38, 2.-Aktualisierte Auflage). Academia Verlag, Baden, 263-285 Deimel, H. (2012): Entspannungsverfahren in der Sport- und Bewegungstherapie. In: Schüle, K., Huber, G. (Hrsg.): Grundlagen der Sport- und Bewegungstherapie. Prävention, ambulante und stationäre Rehabilitation. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln, 271-291, https: / / doi. org/ 10.47420/ 9783769136159-357 Heinerth, K. 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Marianne Eberhard- Kaechele Schwalbenweg 6 | D-51373 Leverkusen
