eJournals körper tanz bewegung 12/4

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2024.art24d
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2024
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Forum: Rudolf Labans Wirken zur Zeit des Nationalsozialismus

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Antja Kennedy
Viele pädagogische und therapeutische Ansätze im Bereich Körper, Tanz und Bewegung berufen sich auf die Arbeit von Laban, weil sie u. a. die Betrachtung der Einzigartigkeit jedes Individuums ermöglicht. Da Laban zu seinem Wirken in der NS-Zeit keine Stellung genommen hat, lässt es Raum für Spekulationen. Dieser Artikel möchte die Datenlage erweitern, um zur weiteren Diskussion beizutragen. Labans Lebenssituation wird aus unterschiedlichen Quellen veranschaulicht. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach seinen Motiven.
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159 Forum: Zur Diskussion körper-- tanz-- bewegung 12. Jg., S. 159-172 (2024) DOI 10.2378 / ktb2024.art24d © Ernst Reinhardt Verlag Rudolf Labans Wirken zur Zeit des Nationalsozialismus Ein geschichtlicher Abriss Antja Kennedy Viele pädagogische und therapeutische Ansätze im Bereich Körper, Tanz und Bewegung berufen sich auf die Arbeit von Laban, weil sie u. a. die Betrachtung der Einzigartigkeit jedes Individuums ermöglicht. Da Laban zu seinem Wirken in der NS-Zeit keine Stellung genommen hat, lässt es Raum für Spekulationen. Dieser Artikel möchte die Datenlage erweitern, um zur weiteren Diskussion beizutragen. Labans Lebenssituation wird aus unterschiedlichen Quellen veranschaulicht. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach seinen Motiven. Schlüsselbegriffe Rudolf Laban, Tanz, Nationalsozialismus Rudolf Laban’s Work during the National Socialist Era. A Historical Outline Many pedagogical and therapeutic approaches in the field of body, dance and movement refer to Laban’s work because, among other things, it allows the uniqueness of each individual to be considered. As Laban did not comment on his work during the Nazi era, this leaves room for speculation. This article aims to broaden the available data in order to contribute to further discussion. Laban’s life is illustrated from various sources. Questions about his motives are raised in this context. Key words Rudolf Laban, dance, national-socialism I rmgard Bartenieff (1900-1981) schrieb über Rudolf Laban (1879-1958): „He was in Germany during the Bauhaus and Expressionist periods, initiating and developing theatrical and recreational dance programs, school and publications. In 1936, the Nazis forced him to stop, and he went to England.“ (Bartenieff/ Lewis 1980, ix) Das war die Kurzfassung, wie sie 1984 in meinem Zertifikatsprogramm der Laban / Bartenieff Bewegungsstudien (LBBS) in den USA dargestellt wurde. Seitdem erforsche ich in der Praxis und mit der mir zur Verfügung stehenden (Sekundär-)Literatur den Bewegungschor und Labans Biographie in der NS- Zeit. Über die Jahre wurden immer mehr Biographien zu Laban publiziert. Ich habe mich stets gefragt: Warum ist Laban nicht früher aus Deutschland weggegangen, als einige seiner Mitstreiter es taten? Es passte für mich nicht in seine sonstige Biographie und die Grundsätze der LBBS-Arbeit, die ich durch Peggy Hackney (und ihr Team) kennengelernt habe. Die LBBS 160 4 | 2024 Antja Kennedy weisen für mich nichts Faschistisches auf, sondern im Gegenteil: Individualismus und Offenheit für Vielfalt-- um nur einige Aspekte zu nennen. Labans Lebenswerk Labans Vision war es, den Tanz auf die gleiche Stufe zu stellen wie die anderen Künste. Durch eine praktische Theorie (wie die Farblehre in der visuellen Kunst), die das flüchtige Bewegungsgeschehen (be-)greifbar macht, und durch eine Notation, die jenseits von Sprache Bewegung festhält (wie in der Musik), verwirklichte er diese Vision in seinem Leben und legte ein Fundament für Weiterentwicklungen. Wenn man nur die fünf Jahre der NS-Zeit innerhalb eines Lebens von 79 Jahren betrachtet, dann bekommt man ggf. ein schiefes Bild von Labans Lebenswerk. Im Vergleich eines seiner letzten Bücher „Mastery of Movement on the Stage“ (1950) mit seinem ersten Buch „Die Welt des Tänzers“ (1920) wird Labans Entwicklung sowohl im Schreiben als auch im Klären und Darstellen seiner Inhalte offensichtlich. Im April 1955 (drei Jahre vor seinem Tod) schrieb er in dem Vorwort von „Laban’s Principles of Dance and Movement Notation“: „I am grateful to not only our friends, but also to our enemies, who have involuntarily helped to overcome the initial weakness of the great vision of a literature of movement and dance.“ (Laban 1956, xi) Eine seiner anfänglichen Schwächen waren wohl seine vagen, mystischen und philosophischen Aussagen in der Weimarer Zeit, die viel Raum für Interpretation ließen. In den Jahren in England wurden seine Werke immer sachlicher, analytischer und konkreter. Nicht die Mehrdeutigkeit seiner Handlungen während der Jahren 1933 bis 1937, sondern die Grundannahmen aus der Weimarer Republik und die Weiterentwicklung seiner Arbeit in England sind die Grundlagen der heutigen LBBS. Das Handwerkzeug der LBBS (Büche / Kennedy 2017) ist eindeutig frei von NS-Ideologie (wie „Blut und Boden“) und ist auf die individuelle Entfaltung ausgerichtet. Drei Beispiele seien kurz genannt (weitere würden den Rahmen dieses Artikels sprengen): 1. Die Raumharmonie von Laban hat gar nichts mit der NS-Ideologie des Kampfes um den Lebensraum zu tun. Die Orientierung in der individuellen Bewegungssphäre (die Kinesphäre) steht im Vordergrund. Labans Grundhaltung war, dass wir uns im Leben in den meisten Fällen verteidigen und nicht angreifen wollen. Daher ist die Verteidigungsskala die Grundskala, von der sich eine ganze Reihe anderer Skalen ableiten lässt (Kennedy 2010). 2. Auch wenn einige Schriftzeichen von Laban (Kennedy 2013) an Runen erinnern, waren sie keineswegs daraus entstanden. Laban studierte im 1. Weltkrieg ausführlich die Feuillet-Notation und erarbeitete mehrere komplette Schriftversuche (Laban 1926), bis er 1928 auf dem Tänzerkongress die heute noch verwendete Notation vorstellte. 3. Laut Bienz unterrichtete Laban schon im 1. Weltkrieg „the development of an individualistic personality“ (Foster 1977, 163). Heutzutage findet man diesen Ansatz u. a. bei den Bartenieff Fundamentals, in denen „personal uniqueness“ zum Prinzip erhoben wird (Kennedy 2010). Seitdem ich die LBBS, vor allem die Beobachtung, im Zertifikatsprogramm unterrichte, sehe ich, dass Historie nicht nur „more than one story“ (Imus et al. 2022, Titel) ist, sondern dass eine Geschichte immer aus der Perspektive des Betrachters erzählt wird. Meine Sicht ist die einer Europäerin (Deutsch / Irisch), die drei Generationen nach Laban lebt. Die NS- Zeit ist und wird ein sensibles Thema in Deutschland bleiben. Viele, die in der NS-Zeit wirkten, haben sich danach über diese Zeit ausgeschwiegen, so auch Laban- - was viel Raum für Spekulation offen lässt. Weil die Situation, in der sich Laban befand, recht kom- Rudolf Labans Wirken zur Zeit des Nationalsozialismus 4 | 2024 161 plex war und sich einer einfachen Wertung entzieht, werde ich in diesem Artikel die Datenlage erweitern, um zur weiteren Diskussion beizutragen. Meine These: Je mehr Daten wir haben, desto mehr können wir versuchen, in „seinen Schuhen zu gehen“, und es ist dann jedem selber überlassen, eine moralische Einschätzung seines Handelns vorzunehmen. In Ermangelung weiterer (primärer) Quellen zu Labans Beweggründen bleiben hier Fragen zu seiner inneren Haltung und Motivationen offen. War Laban ein Nazi? Ein Mitgestalter? Ein Mitläufer? Marion Kant, die viele Dokumente von Labans Korrespondenz mit dem NS-Ministerium publiziert und interpretiert hat, ist überzeugt, dass Laban antisemitisch war und „einen extremen Führungsanspruch für sich verlangte“ (Kant 1996, 140). „Er reihte sich ein“ und hat „den Tanz nationalsozialistisch gestaltet“ (Kant 1996, 176). Evelyn Dörr, die ihre Doktorarbeit über Labans Choreographien (bis 1936) verfasste und seine Biographie in verschiedenen Büchern publizierte, beschreibt Laban als einen „politisch unreflektierten Idealisten“ (Dörr 2005, 309), der das NS-„System als Ganzes in seinen politischen Zusammenhängen nicht durchschaute“ (Dörr 2005, 308). Karen K. Bradley, eine Schülerin von Bartenieff, die viele Jahre das Laban / Bartenieff Institute of Movement Studies in New York leitete, ist überzeugt: „He [Laban] thought he could influence the Nazis and show them his way was best.“ (Bradley 2009, 29). Valerie Preston-Dunlop, Schülerin von Laban (in England) und über Jahrzehnte Lehrerin am Laban Center / Trinity Laban meint, dass Laban ein Optimist war und an seine eigene Mission / Vision glaubte (Preston-Dunlop 1998, 183). Er tat unter dem NS-Regime alles, um zu überleben; er war bereit, Kompromisse einzugehen und eine Fassade aufzubauen (Preston-Dunlop 1998, 184). Felicia Sachs, jüdische Freundin von Laban in der NS-Zeit, meint: „Laban was a weak character (…) he did not face up to reality. (…) he was in a terrible position, many, many times in his life: sheer survival, not a cent in his pocket.“ (McCaw 2024, 259) Meines Erachtens ist an jeder dieser Interpretationen etwas dran. Aber ich frage mich, wie diese unterschiedlichen Beurteilungen alle zum selben Mann gehören können. Eine Antwort fand ich bei Warren Lamb (1923-2014). Lamb, der einige Jahre mit Laban in England gearbeitet hatte, sprach über ihn auf der DVD „Laban’s Legacy“ (Reisel 2006) im Rahmen seiner Movement Pattern Analysis (MPA). MPA ist ein Profil der Entscheidungs- und Handlungsmotivation (Kennedy 2010, 357-364) und verändert sich nicht innerhalb des Lebens. Das MPA-Profil, welches Lamb über Laban aus der Erinnerung erstellt hatte, „könnte etwas Licht auf die Art und Weise werfen, wie Laban gehandelt hat, insbesondere in den 1930er Jahren Abb. 1: Die Körperteilsymbole von Laban © Antja Kennedy, Bewegtes Wissen, Logos Verlag 162 4 | 2024 Antja Kennedy während des Naziregimes. (…) Ich glaube, es gab tatsächlich eine Menge Mystik in der Art und Weise, wie er über Bewegung und insbesondere über seine Bewegungsphilosophie sprach. (…) Das kam eher daher, dass er seinen Ideen keine Schwarz-Weiß-Klarheit geben wollte. (…) Es ist also dieser Mangel an (…) dem, was ich die evaluierende Initiative nenne, der Laban, meiner Meinung nach, mehr in die Mystik führte.“ (Reisel 2006, Transkript und Übersetzung durch die Autorin). Das heißt, Laban war schon von seinem Charakter her nicht motiviert, Sachen zu bewerten und realistisch Situationen einzuschätzen. Außerdem war er kaum in der Lage, seine Meinung gegen Widerstand durchzuhalten, sondern suchte lieber nach alternativen Wegen, die in seine allgemeine Vision passten (Kennedy 2023). Man könnte negativ sagen: Er war ein Opportunist. Positiv ausgedrückt war er ein Mann voller Tatendrang, der seine explorierende Vision zügig umsetzen wollte. Somit hat er jedes Angebot angenommen, welches in seine Vision passte, um es in die Tat umzusetzen, ohne groß abzuwägen. Claude Perrottet meint, Laban hatte „eine persönliche Begabung, Vision und Tat miteinander in Einklang zu bringen“ (Laban 1935, Ausgabe 1989, V). Diesen Charakterzug kann ich in seiner gesamten Biographie erkennen, aber sie wurde ihm in der NS-Zeit zum Verhängnis. 1929: Labans 50. Geburtstag Am 15. Dezember 1929 feierte Rudolf Laban seinen 50. Geburtstag als Tanztheoretiker, Choreograph und Wegbereiter für eine Bewegungsanalyse und Tanznotation, die heute seinen Namen trägt. Er wurde in der Presse gelobt und gefeiert für das, was er in der Weimarer Republik erschaffen hatte. Allerdings hatte der New Yorker Börsenkrach auch Auswirkungen auf Laban und seine Mitstreiter. Er musste sein „Choreographisches Institut“ aus ökonomischen Gründen mit der Laban Zentralschule (Folkwang, Essen) fusionieren und vier Arbeitsstellen zu einer reduzieren (Preston-Dunlop 1989, 12). 1930-1932: Arbeit trotz Krise Während dieser Zeit waren viele Tänzer arbeitslos. Laban bekam den renommierten Posten als „Choreographischer Oberleiter“ vom Berliner Staatstheater für ein Jahr angeboten. Er nahm ihn im September 1930 an. 1931 wurde sein Vertrag bis 1934 verlängert. Damit hatte Laban nach vielen Jahren der Selbstständigkeit und vielen Ortswechseln zum ersten Mal eine feste Anstellung (Kennedy 2010, 389-394). In der Weimarer Zeit erlebte er eine kreative Schaffenszeit mit vielen Auftritten, Choreographien und Publikationen, trotzdem lebte er am Rande des Existenzminimums. Oscar Bienz schrieb in einem Brief an John Foster, dass Laban über 65.000 Schweizer Franken Schulden aus der Zeit vom Ersten Weltkrieg hatte (Foster 1977, 164). Laut Bienz hat Laban nie alle Schulden zurückbezahlen können (Foster 1977, 164). In den Jahren 1930 bis 1934 war Laban damit beschäftigt, sich bei der Oper zu beweisen. Schon 1931 kündigte er Balletttänzern der Oper, weil sie resistent gegenüber seinen innovativen Ideen waren (Preston-Dunlop 1989, 13). Es waren vor allem die Solisten, denen gekündigt wurde (McCaw 2024, 255). Nebenbei choreografierte und publizierte er und war Teil einer Jury für den Internationalen Tanzwettbewerb, den Kurt Jooss mit dem „Grünen Tisch“ gewann. Die finanzielle Situation in Deutschland wurde immer schwieriger, sogar der Haushalt der Staatsoper wurde 1932 gekürzt, und die „Schrifttanz“, eine Laban-orientierte Fachzeitschrift, musste mit „Tanz“ fusionieren (Preston-Dunlop 1989, 13). In diesen Jahren wurden die Revuen geschlossen, und es gab keine Tänzerkongresse mehr. Der Höhepunkt des Ausdruckstanzes schien vorbei zu sein, und Rudolf Labans Wirken zur Zeit des Nationalsozialismus 4 | 2024 163 es gab Unmengen an Tänzern aus dieser Blütezeit, die arbeitslos wurden. 1933: Veränderungen nach der NS-Machtergreifung Bei der Machtergreifung im Januar 1933 war Laban mitten in seinem Vertrag an der Staatsoper, und sein Arbeitgeber wechselte die politische Richtung. Laban behielt jedenfalls seine Arbeit an der Staatsoper. Hatte er zu diesem Zeitpunkt gehofft, wie viele Intellektuelle mit den Erfahrungen aus der Weimarer Republik, dass auch diese Regierung von der Nächsten abgelöst werden wird? Die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in Berlin, bei der das NS-Regime die Universitäten auf ihre „Blut-und-Boden“-Ideologie einschwören wollte, war auf dem Opernplatz. Hatte Laban die Asche auf seinem Weg zur Arbeit gesehen? Oder schaute er, wie viele andere Deutsche, bei Gewaltakten, die die Nationalsozialisten in Berlin veranstaltet hatten, weg? Viele Kommunisten und Juden waren in direkter Gefahr- - aber Laban nicht. Seine Bücher wurden nicht verbrannt, da sie dem Anschein nach nicht mit der herrschenden politischen Ideologie kollidierten. Ab 1933 wurden die reformerischen Ansätze der Weimarer Zeit- - die Gemeinschaft, das Naturverbundene, die Freikörperkultur und der „Festgedanke“- - für nationalsozialistische Zwecke neu definiert, teilweise sehr klar abgegrenzt und teilweise geschickt verwoben oder verändert (Müller / Stöckemann 1993). Ein prägnantes Abb. 2: Rudolf von Laban mit Tänzern während der Probe, 1930 © SZ Photo / Scherl / Bridgeman Images 164 4 | 2024 Antja Kennedy Beispiel sei genannt: Laban meinte, dass man durch die Freude am Tanz neue Kraft schöpft, und die NSDAP taufte ihre Bewegungsabteilung „Kraft durch Freude“. Viele Tänzer hatten die neuen Richtlinien, wie z. B. „Die geistige Grundlage für Tanz im Nationalsozialistischen Staat“ oder vergleichbare Appelle entweder „nicht zur Kenntnis genommen oder sie als konsequente und begrüßenswerte Fortführung der Tanzideologie der späten Zwanziger Jahre gedeutet“ (Müller / Stöckemann, 1993, 152). Marion Kant schreibt: „Wenn das Propagandaministerium Herrschaftsansprüche auf alle Bereiche des Tänzers erhob, so hatte es in Laban einen Künstler und Theoretiker gefunden, der ebenso ehrgeizige Pläne für den gesamten Tanz nicht etwa nur ausgedacht und aufgestellt, sondern auch praktische Versuche zur Umsetzung seiner Ideen unternommen hatte und über enorme Erfahrungen verfügte.“ (Kant 1996, 139) Laban war ohne Zweifel eine Leitfigur des Ausdruckstanzes geworden und hatte in vielen Werken-- auf der Bühne und in Schriftform- - Ideenreichtum und Können gezeigt. 1933 mit 53 Jahren war er auf dem Höhepunkt seiner Karriere, und es war für niemanden ein Widerspruch, dass er eine leitende Stellung unter dem neuen Regime einnahm. Er sah sich wohl zum ersten Mal in der Lage, seine visionären Pläne mit staatlicher Hilfe umsetzen zu können. Seine Vision war allumfassend: Bewegung, insbesondere der Tanz, stand im Mittelpunkt seiner Betrachtung der Welt. Nach dem Motto: „Bewegung ist alles“ (Dörr 2013, 337) und „Jeder Mensch ist ein Tänzer“ (Laban 1920). Die Vision war so weit gefächert, dass viele verschiedene Handlungen hineinpassten und für spezielle Zwecke umgedeutet werden konnten. Die Nationalsozialisten hatten den „Ausdruckstanz“ zum „deutschen Ausdruckstanz“ umdefiniert und großzügig gefördert. Laban übernahm diese Nomenklatur, besonders weil sich durch die Förderungen die Arbeitschancen für alle Tänzer (von denen viele arbeitslos waren) wesentlich verbesserten. Allerdings kontrollierten die Nationalsozialisten zunehmend die Berufsausübung und die Inhalte. Mittels der „Zuckerbrot und Peitsche“-Methode versuchten sie über die Jahre 1933 bis 1936, die Tänzerschaft schleichend auf ihre Linie zu bekommen (Müller / Stöckemann 1993). Themen, die dem neuen Weltbild des NS-Regimes nicht entsprachen, wurden ausgegrenzt und zensiert, vor allem, was nicht als deutsch und arisch definiert wurde. Im März 1933 versetzte Goebbels im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda den gerade in die NSDAP eingetretenen Otto von Keudell in den Aufgabenbereich „Kunst“. Laut Kant (1996, 138) entwickelte Keudell ein freundschaftliches Verhältnis zu Laban und identifizierte sich mit seiner Tanzauffassung. Am 7. April 1933 wurde ein „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen, um jüdische Menschen und politisch unerwünschte Personen zu entfernen (Sächsische Landeszentrale für politische Bildung o. J.). Es gibt ein von Laban am 7. Juli 1933 unterschriebenes Dokument, mit dem nicht-arische Schüler aus dem Kinderballettkurs der Preußischen Staatstheater „entfernt“ wurden (Karina / Kant 1996, 85). Dies war eindeutig eine antisemitische Handlung. Die letztendlichen schrecklichen Konsequenzen dieses allgemein in Deutschland zu der Zeit verbreiteten Gedankengutes waren im Jahre 1933 allerdings nur für wenige abzusehen. Karina und Kant vermuten, dass Laban diese verwerfliche Handlung billigend in Kauf nahm, um seine „Loyalität dem Dritten Reich und dessen Idealen gegenüber (zu) beweisen“ (Karina / Kant 1996, 84). Schon 1933 waren einige seiner Schüler / Mitstreiter emigriert, vor allem Juden oder diejenigen, die mit ihnen gearbeitet hatten, wie Kurt Jooss (1901-1979). Oder die politisch Engagierten wie Martin Gleisner (1897-1983), der zum Rücktritt aus seinem Amt gezwungen wurde (Müller / Stöckemann 1993, 112). Aller- Rudolf Labans Wirken zur Zeit des Nationalsozialismus 4 | 2024 165 dings waren die meisten 20 bis 30 Jahre jünger als Laban. Laut Ilse Loesch hat Gleisner Laban „1933 dringend geraten, Deutschland zu verlassen, Laban aber habe die politische Situation nicht durchschaut, für den Tanz keine Gefahr vermutet und sei also im Lande geblieben“ (Loesch 1990, 98). Wollte Laban, der schon mehrere Existenzgründungen in verschiedenen Ländern hinter sich hatte (Frankreich, Deutschland, Schweiz), mit Mitte Fünfzig nicht wieder in einem neuen Land „von vorne“ anfangen? Am 9. November 1933 wurde Labans „Die Geschöpfe des Prometheus“ im Schiller Theater Berlin uraufgeführt. Dies war eines der Stücke aus der frühen NS-Zeit, die mit den Mannheimer Bewegungschören choreografiert wurden. Dörr schrieb hierzu: „Interessanterweise vollzog sich in der choreographischen Gestaltung ein Wandel. (…) Das ‚Symmetrische‘ wurde nicht mehr als ein ‚Entwicklungsprinzip‘ bewegter, natürlicher Formen in Szene gesetzt, nicht im ‚Wandel‘, als ineinander drehbare, verschiebbare, verspiegelbare Symmetrien, sondern ihr quasi ‚Starres‘, Ornamental-Abbildhaftes wurde dargestellt.“ (Dörr 2004, 444 f ). Was hatte Laban zu diesen choreographischen Veränderungen veranlasst? 1934: Vertragsende und neue Angebote Im Sommer 1934 lief Labans Vertrag an der Staatsoper aus. Am 1. Juli gab es eine Abschieds-Matinee für Laban in der Staatsoper, an der Hitler teilnahm und an der er Gefallen fand (Preston-Dunlop 1989, 13). Was zeigte Laban dort? Hierzu finde ich keine Dokumente. Sonst choreographierte Laban in der Staatsoper vor allem „Tanzeinlagen“ für die verschiedenen Opern (Carmen, La Traviata, Tannhäuser, Dornröschen usw.) und ein paar „Tanzabende“, die eher humorvoll und leichte Kost waren. Es war kaum etwas Experimentelles oder Kritisches dabei, wie z. B. „Die Grünen Clowns“, eine seiner Choreographien aus den 1920er Jahren (Curtis-Jones / Preston-Dunlop 2008), in der er die mechanischen Bewegungen der Arbeiter miteinbezog und zeigte, wie die Tänzer selbst zu Maschinen werden. Laban, der aus Bratislava (damals Teil des Österreich-Ungarischen Reiches) stammte, schrieb im Jahre 1931, dass er sehr gerne Deutscher werden würde, weil er die deutsche Kultur der Weimarer Republik sehr liebgewonnen habe (Preston-Dunlop 1989, 13). Ihm wurde die beantragte deutsche Staatsbürgerschaft erst 1935 erteilt und der Pass erst 1936 ausgehändigt (Preston-Dunlop 1989, 13). Im Februar 1935 schrieb er auf einem Fragebogen vom Reichsverband Deutscher Schriftsteller, dass er Staatsbürger von Ungarn sei (Kant 1996, 236). Das heißt, als sein Vertrag an der Staatsoper am 31. August 1934 endete, war er nicht deutscher Staatsangehöriger. Hatte er als Nicht- Deutscher unter dem NS-Regime Probleme gefürchtet? Hatte er in den Jahren 1931 bis 1936 überhaupt einen gültigen Pass? Ohne Pass hätte er nicht ausreisen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Und Laban war bekannt dafür, dass er seine Papiere nicht so gut in Ordnung hielt (was ihm später vom Ministerium sogar vorgeworfen wurde). Viele prominente Tänzer machten weniger „aus ideologischer Überzeugung mit, sondern um die vom Staat gebotenen Chancen für die Verbesserung der tänzerischen Situation zu nutzen“ (Müller / Stöckemann 1993, 115). Von denen, die noch in Deutschland waren, gab es im Wesentlichen zwei Lager: die einen, die die politische Veränderung mittrugen (meist die Administratoren), und die anderen, die nur überleben wollten (meist die Künstler). Preston-Dunlop ist der Meinung, dass Laban sich in der Mitte befand- - als Kunstadministrator „seeing the regime as a problem to be circumvented“ (Preston-Dunlop 1989, 19). Nach 1934 wurden Laban verschiedene Aufgaben, z. B. die Leitung der Deutschen Tanz- 166 4 | 2024 Antja Kennedy bühne, angeboten. Karina und Kant (1996, 86) betonen, dass es hier um den „deutschen“ Tanz ging. Nach Preston-Dunlop (1989, 19) nahm Laban dieses Angebot an, weil es ihm um die Leitungsposition ging, und außerdem wollte er den Tanz im Allgemeinen fördern. Mc- Caw (2024, 258) meint: „Other than noting that this was for ‚German‘ dancer, there is no indication that he did anything other than continue his work promoting dance as an art form.“ Gertrud Snell, eine Mitarbeiterin von Laban, schrieb, dass die Deutsche Tanzbühne nach 1934 auch dazu diente „arbeitslose(n) Tänzern zu helfen, (…) weil ihn(en) Trainingsmöglichkeiten und künstlerische Anregungen fehlten“ (Loesch 1990, 98). Snell sagte in einem Interview mit McCaw: „For us who were so very much anti-Nazi, it was a just a joke that we were all paid by the propaganda ministry! “ (McCaw 2024, 257) Sie sagte weiter: „And we employed even Jewish people without anybody getting hold of us.“ (McCaw 2024, 257) Sie beschrieb, wie sie eine Jüdin als Schreibkraft eingestellt hatte, weil sie einen Doktortitel hatte. Snell sagte weiter: „Laban was clever enough never to ask me why we (…) had such a very good typewriter who was so educated. (…) one just didn’t touch those things (…) Because to know something was already a danger.“ (McCaw 2024, 257) Laut Kant (1996, 145) genoss Laban in dieser Zeit das volle Vertrauen von Keudell, so dass seine Vorschläge meistens ohne weitere Überprüfung akzeptiert wurden. Laban entging damit nicht nur den zunehmenden Schwierigkeiten, die nicht-arische Tänzer erfuhren, sondern auch der Zensur, der bald alle Tänzer unterlagen. Im Gegenteil, er erhielt sogar Unterstützung für seine Ideen. Kant stellt fest: „Laban konnte in eigener Verantwortung agieren und entscheiden.“ (Kant 1996, 145) Auf der anderen Seite beschrieb Felicita Sachs, die damals eine jüdische Freundin von Laban war, dass er langsam, aber sicher auch desillusioniert wurde. Er versuchte ein Hakenkreuz, welches auf der Bühne stand, wegzubeordern. Sie sagte „Well that was the first time that he realized that he couldn’t do that.“ (Mc- Caw 2024, 258) Es dämmerte ihm langsam, worauf er sich eingelassen hatte, und Sachs sagt, er war „torn apart with conflicts and guilt feelings“ (McCaw 2024, 258). Auf jeden Fall war Laban ganz nah an dem Machtzentrum des NS-Regimes. McCaw zitiert Sachs, dass Laban eines Abends zu ihr kam, nachdem er (wie viele andere) von Hitler zum Essen eingeladen wurde (McCaw 2024, 259). Laban hatte dort gehört, wie über Hinrichtungen gesprochen wurde. Sachs meinte, Laban war bleich im Gesicht und beängstigt gewesen und hatte Folgendes gesagt: „If you don’t see me again, they’ll shoot me.“ (McCaw 2024, 259) Das Terror-NS-Regime wusste, wie es Menschen kontrollieren konnte. Warum war Laban trotz dieser Angst und vielleicht auch Schuldgefühlen noch weiter geblieben? Was war der innere Konflikt? 1935: Prä-olympische NS-Zeit und Autobiographie In den prä-olympischen Jahren übernahm Laban folgende Aufgaben, die ihm angeboten wurden: die Leitung und Organisation der Tanzfestspiele von 1934 und 1935, ab 1934 die Konzeption und ab Mai 1936 die Leitung der Deutschen Meisterwerkstätten für Tanz- - eine staatliche Tanzausbildung. Und in den Jahren 1935 und 1936 konzipierte und organisierte er das gesamte tänzerische Begleitprogramm und einen Bewegungschor für das Vorprogramm der Olympischen Spiele 1936. Labans einziges Buch in der NS-Zeit, seine Autobiographie „Ein Leben für den Tanz“ (1935), fällt im Inhalt und Stil sehr aus dem Rahmen seiner sonstigen Publikationen. Seine Autobiographie beinhaltet fantasievolle und träumerische Erzählungen seiner Stücke (1912-1927) und seines persönlichen Lebens (Kindheit bis Rudolf Labans Wirken zur Zeit des Nationalsozialismus 4 | 2024 167 1930). In dem Kapitel „Titan“ (Stück von 1927) beschrieb Laban seine Eindrücke einer viermonatigen USA-Reise im Jahre 1926, bei der er viele Tänze verschiedener Ethnien beobachtete. Die Beschreibungen trugen die Nomenklatur der damaligen Zeit: die „Indianer“ (Native Americans), die „N …“ (People of Color), die „Mischlinge“ und die „weiße Rasse“. Es sind zum größten Teil Beschreibungen, bei denen man davon ausgehen kann, dass er diese Tänze auch wirklich beobachtet hatte. Die Darstellungen der Native American und der chinesischen Tänze wurden recht ausgewogen kommentiert. In demselben Kapitel wurde den People of Color ein „ungeheueres Rhythmusgefühl und eine vererbte Beweglichkeit“ zugeschrieben, aber er „bezweifle, daß N … überhaupt Kunsttänze erfinden können“. In diesem Zusammenhang schrieb er: „Die Gabe zur Tanzerfindung scheint ebenso wie der höhere Ausbau der übrigen Künste und Wissenschaften das Vorrecht anderer Rassen zu sein.“ (Laban 1935, 168) Dies ist offensichtlich eine rassistische Bemerkung. Allerdings sind derartige Äußerungen nur in diesem Werk von Laban zu finden; in keinem anderen seiner neun Bücher-- davor oder danach. Laut Hodgson gingen Jooss und Gleisner davon aus, dass diese Passagen geschrieben wurden „with the Nazis in mind“ (Hodgson 2001, 131). 1936: Bewegungschor und Verbot Im Mai 1936 übernahm Laban die Leitung der Deutschen Meisterwerkstätten für Tanz mit einem Vertrag für 11 Monate. Seine Kollegin und Konkurrentin Mary Wigman schrieb in ihrem Tagebuch: „There hovers the figure of Laban, juggling between his ideals, 3 / 4 of which are already lost, and a wish to survive.“ (Preston-Dunlop 1989, 20) Der Ruf nach einer staatlichen Ausbildung stammte aus dem Ende der 1920er Jahre. Unter dem NS-Regime wurde der „Plan einer zu errichtenden Hochschule für Tanzkunst“ (Loesch 1990, 350) verwirklicht. Darin wurde neben der Tanzpraxis auch das Theoriefach „Allgemeine Bewegungslehre, Harmonielehre der Bewegung“ angegeben-- ganz nach Labans Vision. Für das Sommersemester 1937 gab es eine „Anordnung der Reichskulturkammer“, in der die Vorbedingung zur Teilnahme der „Nachweis der arischen Abstammung“ war. Außerdem wurden auch „Nationaltanz“ und „Rassen- und Tanzlehre“ im Curriculum integriert (Loesch 1990, 356). Welche Ideale, meinte Wigman, hatte Laban hier eingebüßt? Dass der Schwerpunkt der Praxis sich jetzt auf die Verfeinerung der Technik verschob (weil er ein Verfechter der Improvisation war)? Oder dass in der „Tanzgeschichte (mit Stilkunde und Ästhetik)“ jetzt verstärkt die Ästhetik des NS-Regimes integriert werden musste? Im Nationalsozialismus wurde das Thingspiel als eine neue Aufführungsart eingeführt. Dieses zeichnete sich durch kultische sowie emotional aufgeladene Darbietungen und besonders durch Massensprechchöre aus und sollte das Gefühl der Volksgemeinschaft stärken (StudySmarter 2024a). Bei differenzierter Betrachtung wird klar, dass die Thingspiele keine Bewegungschöre waren, da sie sich in der Ästhetik stark unterschieden. Im Thingspiel waren die körperlichen Bewegungen „einfach (Marschier-Schritt, Salut), synchronisiert und unisono“ (Toepfer 2004, 448) mit nach außen gerichteter Darstellung. Im Bewegungschor waren es Bewegungen ohne Synchronität, dafür mit amorphen Strukturen, Heterogenität und einem „Sich-zueinander-ins-Verhältnis-Setzen“ (Hardt 2004, 207). Aber es gab die Überlappung in dem Punkt der Gemeinschaft. Wie ich ausführlich in meinem Artikel „Labans Bewegungschöre im Zeichen der Nationalsozialisten“ erläutere, wurden die Merkmale der Bewegungschöre der 1920er Jahre in der NS-Zeit leicht verändert (Kennedy 2018). Trotzdem wurden die Grundideen weiter beibehalten und mit der Vorbereitung des Bewegungschors für 1936 durch die Notation weiterentwickelt. 168 4 | 2024 Antja Kennedy Labans Bewegungschor „Vom Tauwind und der neuen Freude“ bestand aus vier chorischen Reigen: Kampf, Besinnung, Freude, Weihe. In der NS-Ideologie hatten „besonders Erzählungen, in denen der Krieg glorifiziert wurde, (…) eine große Bedeutung“ (StudySmarter 2024a). Meines Erachtens ist die Reihenfolge der Titel hier entscheidend. Den „Kampf“ an den Anfang zu stellen, danach die „Besinnung“, dann die „Freude“ darüber und am Ende die „Weihe“, zeigt, dass Laban, auch wenn er ähnliche Themen bearbeitete, nicht mit der NS-Ideologie konform ging. Nach der Generalprobe schrieb Goebbels in sein Tagebuch: „Tanzfestspielprobe: (…) Geht in unserem Gewande daher und hat gar nichts mit uns zu tun.“ (Preston- Dunlop 1988, 12). Die Aufführung wurde von Goebbels verboten. Offensichtlich hatte Laban nicht das choreographiert, was Goebbels erwartet hatte-- bewusst oder unbewusst. Müller und Stöckemann schreiben dazu: „Goebbels hatte sehr genau durchschaut, dass Labans Tanzphilosophie mit der nationalsozialistischen Weltanschauung nicht in Einklang zu bringen war, obwohl es gemeinsame Thematiken, wie z. B. Gemeinschaftsdenken, gab. Der metaphysische und sozial-religiöse Anspruch Labans, sein Verständnis vom Tanz als Abbild kosmischer Eurythmie und einer alle Menschen umfassenden Tänzergemeinschaft widersprach aber letztlich der ‚Blut-und-Boden‘-Ideologie der Nationalsozialisten.“ (Müller / Stöckemann 1993, 167) Preston-Dunlop (1989, 20) ist der Meinung, dass die Fassade, die Laban bis dahin aufgebaut hatte, jetzt von Goebbels durchschaut wurde. Vom 15. bis zum 31. Juli 1936 führte Laban trotzdem die Organisation der geplanten Tanzwettbewerbe im Rahmen der Olympischen Spiele zu Ende. Die Tanzwettbewerbe waren recht unbedeutend, da Graham aus den USA wegen der Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten abgesagt hatte. Preston-Dunlop (1989, 29) meint, Laban bekam die Anweisung, dass eine deutsche Gruppe gewinnen sollte. Dies umging er jedoch, indem er allen Gruppen einen Preis gab. Hier wird deutlich, dass Laban sich auch durchaus mal der Weisung des NS-Regimes widersetzte. Im Juli 1936, fast gleichzeitig, wurde Keudell, Labans einflussreicher Gönner im Ministerium, laut Kant (1996, 167) versetzt und durch einen anderen aktiven Nationalsozialisten, Rolf Cunz, ersetzt. Cunz stand selbst unter Druck und kontrollierte Laban. Er stellte Unregelmäßigkeiten bei den Finanzen fest. Er war mit Labans Plänen für die Meisterwerkstätten nicht einverstanden und ließ das Angestelltenverhältnis vom Ministerium überprüfen (Kant 1996, 169). Laban schien davon nicht viel mitbekommen zu haben und war zu einem Kuraufenthalt gefahren. Er litt schon seit längerem an Darmgeschwüren (Kant 1996, 169). Im Sommer 1936 war er so krank, dass er den Aufenthalt verlängerte, und es blieb ungewiss, ob er die Meisterwerkstätten weiter würde leiten können. Dies war wiederum ein willkommener Anlass für Cunz, Laban noch mehr einzuschränken. Schließlich wurde nur ein Vertrag über eine beratende Tätigkeit unterschrieben, den Laban im Herbst 1936 für 500 Reichsmark im Monat antrat (Kant 1996, 172). Aus welchem Grunde war Laban nach dem Verbot seiner choreographischen Arbeit weiter bereit, für das NS-Regime zu arbeiten? War es wegen seines schwachen gesundheitlichen Zustands? Sah er keine andere Möglichkeit, seine Schulden abzubezahlen? Hatte er immer noch keinen Reisepass? 1937: Absetzung und Ausreise Im Sommer 1937 hatte Laban Ärger mit dem Ministerium, da er ohne Genehmigung einen Sommerkurs veranstalten wollte. Das war laut Kant (1996, 179) zu viel für Cunz, und er stellte die Schüler von Laban vor die Alternative, zu Laban zu stehen und gegen die Reformen von Cunz oder dem Kurs fern zu bleiben und sich Rudolf Labans Wirken zur Zeit des Nationalsozialismus 4 | 2024 169 dem „Protest“ gegen Laban anzuschließen. Die Schüler blieben dem Kurs fern. Laut Kant (1996, 170) wurden im Ministerium weitere Vorwürfe gesucht, um Laban abzusetzen. Der Vorwurf, dass Laban nicht mit Geld umgehen konnte, wurde wiederholt (Kant 1996, 180). Schließlich wurde seine Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer in Frage gestellt (Kant 1996, 181). Die Antwort der Kammer war, Laban würde nicht mehr als Künstler, Pädagoge, Choreograph oder Berater gebraucht, und er könne sich auf seinen früheren Beruf als bildender Künstler besinnen (Kant 1996, 181). Somit konnte Laban nicht mehr im Tanzbereich arbeiten. Dann kamen weitere Vorwürfe: Laban sei homosexuell. Dies wies Laban von sich. Laban hatte 1935 schon erklärt, dass er sieben Kinder hat (Kant 1996, 236). Laban verstand die plötzliche Ablehnung seiner Arbeit nicht und witterte eine Intrige gegen sich (Dörr 2005, 308). Schon im August 1935 ordnete das Reichsinnenministerium das Verbot der Freimaurer in Deutschland an (Fritz-Friedmann 2017), da ihre Grundideen im Gegensatz zur NS-Ideologie standen. Dass Laban 1917 bis 1918 dem geheimen Bund O.T.O. (Ordo Templi Orientis) als ein ranghohes Mitglied angehörte, welcher mit den Freimaurern in Verbindung gebracht wurde, hatte er laut Kant (1996, 182) den Behörden bekanntgegeben. Diese Mitgliedschaft war im Jahre 1937 gefährlich, da die O.T.O. explizit verboten wurde (Preston-Dunlop 1989, 199). Verschiedene Mitglieder der Freimaurer, auch Schriftsteller, landeten im KZ (Serup-Bilfeldt 2023). Zu meinem Erstaunen schrieb Bienz, ein bekennender Freimaurer, in einem Brief an Foster: „He (Laban) later switched over to a Jewish lodge in Berlin“ (Foster 1977, 164). Wann war das genau? Wohl in der Zeit, in der er „as Ballet Instructor at the Opera House“ (Foster 1977, 164) arbeitete. Wenn diese Behauptung stimmt, dann bekommt die Hypothese von Preston-Dunlop, dass Laban eine Fassade aufgebaut hatte, eine neue Dimension. Auf jeden Fall war Laban nicht der NSDAP beigetreten, im Gegensatz zu Rudolf Bode (1881-1970), sein Konkurrent aus der Gymnastik, „der bereits 1922 in die NSDAP eintrat“ (Hardt 2003, 40). Das war als Angestellter des NS-Regimes 1936 schon gewagt. Es bleibt unklar, was der ausschlaggebende Punkt war, aber Goebbels und Cunz hatten wohl schon längst entschieden, dass Laban kein Träger der „nationalen Erhebung“ war, „sondern nur deren künstlerischer Mitläufer“ (Kant 1996, 183). Im März 1937 gelang es Cunz schließlich, Labans Vertrag bei den Meisterwerkstätten zu beenden. Preston-Dunlop (1989, 200) schreibt, dass Laban die nächste Zeit im Kloster Banz nahe Lichtenfels verbrachte. Aber ohne Arbeitsmöglichkeiten hielt Laban wohl nichts mehr in Deutschland. Am 4. August 1937 reiste er auf Einladung zu einem Kongress nach Paris. Er blieb dort und wurde schwer krank. Am 4. November 1937 beantragte er einen französischen Pass (Dörr 2005, 317). Jooss entdeckte ihn Anfang 1938 in Paris und brachte ihn nach Dartington Hall in England. Dort probierte Laban, seine ungarische Staatsbürgerschaft zurückzubekommen. Zu diesem Zeitpunkt war er „beschämt, Deutscher zu sein“ (Preston-Dunlop 1998, 193). Auf jeden Fall hatte er in England nicht mehr darüber gesprochen oder geschrieben. John Hodgson meint: „The dance in Germany he preferred to forget. (…) It all remained too painful for him to want to relive his disappointment with what he had, and what he had not quite, achieved for the art of dance.“ (Hodgson 2001, 44) 1939: Laban blickt zurück In einem Brief an den Mäzen von Dartington Hall, Mr. Elmhirst, im März 1939 übermittelt Laban ihm „an extract from my address on the occasion of the last Bewegungschor“ (Laban 1939, 1). Meines Erachtens baute Laban in dieser langen Rede von 1936 einen Gegensatz 170 4 | 2024 Antja Kennedy zwischen der NS-Ideologie, die „das bäuerliche Landleben sowie die Rückkehr zur Natur“ (StudySmarter 2024a) verherrlichte, und seinem Motto auf. Er sagte: „Our motto is: go ahead towards oneness with nature.“ (Laban 1939, 6) Außerdem sagte Laban am Ende der Rede etwas zur Teilnahme an Bewegungschören: „As living examples of human happiness and freedom, we will be of more value than all codifications, songs of hatred and prohibitions.“ (Laban 1939, 7) Allein diese Bezugnahme auf „Hasslieder“ und „Verbote“ hätte jedes NS-Parteimitglied, welches es sicher unter den 1000 Teilnehmern gab, aufhorchen lassen müssen. Zusammenfassung der Chronologie Die Nationalsozialisten boten Laban leitende Stellungen an, weil sie zuerst vermuteten, dass er auf ihrer Wellenlänge war. Diese Angebote nahm Laban an, wahrscheinlich ohne eine realistische Einschätzung, in welche Konflikte ihn das bringen könnte. Außerdem brauchte er Geld, auch, um seine Schulden abzubezahlen, und es ist unklar, ob er bis 1936 überhaupt einen gültigen Pass hatte. In dieser Zeit hatte Laban mehr Freiheiten als die anderen Tänzer und konnte durch seine führende Rolle gestaltend auf Programme und Ausbildung wirken. Labans Handlungen nach außen gingen in beide Richtungen: meistens konform, jedoch und auch mal nach seiner Façon. Durch seine sehr breite Vision für den Tanz, in die so vieles rein passte, und seinen Charakterzug, dass er immer wieder nach einem alternativen Weg suchte, um weiterzumachen, war er in Deutschland geblieben. Er trug selbst zu seiner Absetzung bei, indem er, wahrscheinlich ohne die Konsequenzen realistisch zu bewerten, beim Bewegungschor 1936 in seiner Rede und Choreographie nicht konform mit der NS-Ideologie ging. Eine Intrige witternd, kämpfte er für seine Rehabilitierung, bis in Deutschland nichts mehr ging, und reiste 1937 über Frankreich nach England aus. Fazit Labans Lebensabschnitt in der NS-Zeit kann auch als eine Lektion darin gesehen werden, welche Mechanismen in einem diktatorischen Regime herrschen und vor welche persönlich schwierigen Entscheidungen jeder in einem solchen Rahmen gestellt wird. Auch mit der Fülle an Informationen, die hier präsentiert wurden, ist es wichtig zu erkennen, dass wir wahrscheinlich nie ganz verstehen werden, aus welchen inneren Motiven Laban seine Entscheidungen über sein Wirken in der NS-Zeit getroffen hat. Nach Reflexion über die vorherigen Recherchen schließe ich mich der Meinung meiner amerikanischen Kolleg: innen an: Die Rechenschaftspflicht für seine Entscheidungen und die Anerkennung von Labans Lebenswerk, die in die LBBS mündete, können nebeneinander koexistieren (Imus et al. 2022). Literatur Bartenieff, I., Lewis, D. (1980): Body movement. Coping with the Environment. Gorden and Breach, New York Bradley, K. K. (2009): Rudolf Laban. 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In: www.studysmarter.de/ schule/ 172 4 | 2024 Antja Kennedy Antja Kennedy B.A. Tanz, Certified Movement Analyst, MPA Practitioner, Systemischer Coach. Freischaffende Tanzpädagogin, Tänzerin, Choreographin. Mitbegründerin EUROLAB (Europäischer Verband für Laban / Bartenieff Bewegungsstudien), Direktorin der EUROLAB Zertifikatsprogramme. ✉ Antja Kennedy info@antjakennedy.de deutsch/ literaturepochen/ literatur-im-natio nalsozialismus, 29.5.2024 StudySmarter (2024b): NS Ideologie. In: www. studysmarter.de/ schule/ geschichte/ natio nalsozialismus/ ns-ideologie/ #: ~: text=Blutund-Boden-Ideologie, 31.5.2024 Töpfer, K. (1997): Empire of ecstasy. Nudity and movement in German body culture 1910-1935. University of California Press, Los Angeles, https: / / doi.org/ 10.1525/ 9780520918276