eJournals körper tanz bewegung 12/4

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2024.art25d
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Aktuelle Studien zu Clinical Reasoning für TT-Interventionen, Laban-Bewegungsanalyse zum Verstehen von Emotionsausdruck und Kinesphäre

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Iris Bräuninger
Der Beitrag beschäftigt sich mit Grundlagen des tanztherapeutischen Handels: Können Intuition oder Evidenz als Grundlage beim Entscheidungsprozess bei der Suche nach geeigneten tanz-, bewegungstherapeutischen Interventionen herangezogen werden (Saftig / Till 2024)? Kann die Anwendung der Laban-Bewegungsanalyse als Möglichkeit der Erkennung von Emotionen genutzt werden (Wu et. al. 2023)? Kann das Konzept der Kinesphäre psychologisch interpretiert und klinisch angewandt werden (Boix / Panhofer 2024)?
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174 körper-- tanz-- bewegung 12. Jg., S. 174-177 (2024) DOI 10.2378 / ktb2024.art25d © Ernst Reinhardt Verlag Aktuelles aus der Forschung Aktuelle Studien zu Clinical Reasoning für TT-Interventionen, Laban-Bewegungsanalyse zum Verstehen von Emotionsausdruck und Kinesphäre Iris Bräuninger D er Beitrag beschäftigt sich mit Grundlagen des tanztherapeutischen Handels: Können Intuition oder Evidenz als Grundlage beim Entscheidungsprozess bei der Suche nach geeigneten tanz-, bewegungstherapeutischen Interventionen herangezogen werden (Saftig / Till 2024)? Kann die Anwendung der Laban-Bewegungsanalyse als Möglichkeit der Erkennung von Emotionen genutzt werden (Wu et. al. 2023)? Kann das Konzept der Kinesphäre psychologisch interpretiert und klinisch angewandt werden (Boix / Panhofer 2024)? Clinical Reasoning für die Auswahl von TT-Interventionen im rehabilitativen Setting Saftig und Till (2024) gehen in ihrer Qualitativen Studie unter Einbezug der Evidenzbasierten Praxis (EBP) und des theoretischen Ansatzes des Clinical Reasoning (CR) der Frage nach, welche relevanten Einflussfaktoren und Strategien bei den Entscheidungsprozessen von Tanz- und Bewegungstherapeut: innen in rehabilitativen Settings zum Einsatz kommen, um geeignete Interventionen auszuwählen. Die beiden Forschungsfragen wurden anhand von Leitfragen-gestützten Interviews mit Expert: innen (N=5, mit zwischen 5 und 30 Jahren klinischer Erfahrung) untersucht: „1. Welche Faktoren beeinflussen die Auswahl bestimmter Interventionen durch die Tanz- und Bewegungstherapeut: innen? 2. Wie können diese hinsichtlich der Elemente des CR und der EBP eingeordnet werden? “ (Saftig / Till 2024, 45) Die Interviews fanden online (Zoom) oder per Telefon statt. Die Datenanalyse wurde anhand der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2022) durchgeführt, und die Kategorienbildungen wurden in MAXQDA codiert und anhand eines kombinierten deduktiv-induktiven Ansatzes gebildet. Die Ergebnisse zeigen eine hohe klinische Expertise und Kompetenz der Selbstreflexion der Therapeut: innen, welche sich als entscheidender Einflussfaktor auf die Entscheidungsprozesse der Interventionen auswirkt und sich im ganzheitlichen und individuumszentrierten großen Repertoire an Interventionen, im Selbstvertrauen und in der Fähigkeit der Therapeut: innen widerspiegelt, die Lebensrealität der Patient: innen zu verstehen und einzubeziehen. Des Weiteren zeigte sich, dass die Expert: innen Entscheidungen für spezifische Interventionen evidenzbasiert zu treffen scheinen, intuitive Entscheidungen hingegen auf Basis der eigenen Vorerfahrun- Aktuelles aus der Forschung 4 | 2024 175 gen und Reflexionen gefällt werden. Die Verwendung von Beobachtung und / oder verbale Interaktion zur Abschätzung der Wirkung von TT-Interventionen ist ein wichtiger Aspekt, der aus den Interviews hervorgeht. Ebenso spielen non-verbale und verbale Kommunikation eine zentrale Rolle, um die Lebensrealität der Patient: innen besser verstehen und reflektieren zu können. Laban-Bewegungsanalyse zum Verstehen körperlich ausgedrückter Emotionen Die Studie von Wu und Kolleg: innen (2024) entwickelte-- auf Basis der Laban-Bewegungsanalyse (LMA)- - einen hochwertigen Datensatz menschlicher motorischer Elemente und nutzt diesen, um mehr über motorische Elemente und Emotionen zu lernen. Langfristig soll das Wissen aus verschiedenen Disziplinen (Informatik, Psychologie, darstellenden Künsten) zusammenkommen, um ein automatisiertes Verständnis von Körpersprache und eine Analyse von Emotionen und mentalen Zuständen zu entwickeln. Zur Begründung führen die Autor: innen an, dass das Erkennen menschlicher Gefühlsausdrücke anhand von Bild- und Videomaterial ein grundlegender Forschungsbereich in Affective Computing und Computer Vision darstellt. Hierbei biete das Verständnis von körperlich ausgedrückten Emotionen (BEEU) mit der Entwicklung des Body Language Dataset (BoLD) einen Vorteil gegenüber der rein auf Gesichtsausdruckserkennung reduzierten Forschung: BEEU erkenne Emotionsausdrücke automatisch anhand von Körperbewegungen. Drei Schritte wurden für die Studie durchgeführt: 1. Body Motor Elements (BoME) ist ein hochpräziser Datensatz für menschliche Motorelemente, 2. die Anwendung von Basismodellen hilft, um die BoME abzuschätzen (dies weise darauf hin, dass es sich um Deep- Learning-Methoden handele, welche in der Lage seien, wirkungsvolle Darstellungen menschlicher Bewegung zu erlernen), 3. Die Autor: innen schlagen vor, dass das Bodily Expressed Emotion Understanding (BEEU)-Modell um den BoME-Datensatz erweitert werde (der sowohl mit motorischen Elementals auch mit Emotionsbezeichnungen trainiere und gleichzeitig Vorhersagen für beide erstelle). Für die Analyse wurden 1.600 Videoclips mit je 11 LMA-Motorelementen gekennzeichnet, die eng mit Glücks- und Traurigkeitsgefühlen korrelieren. Jedes Element wurde auf einer Skala von null bis vier annotiert (null: Abwesenheit des Elements, bis vier: maximale Präsenz). Die Statistische Analyse bestätigt die Wirksamkeit der Motorelemente der Laban- Bewegugnsanalyse und die Korrelation zwischen den ausgewählten LMA-Elementen und den Emotionen Glück und Traurigkeit (Wu et al. 2024, 4): ● Emotion Glück: LMA-Elemente (LMA-Kategorie in Klammern) jump rhythmicity (body phrasing), spread (shape), free flow (effort), light weight (effort) ● Emotion Traurigkeit: LMA-Elemente (LMA-Kategorie in Klammern): passive weight (effort), arms-to-upper-body (body), sink (shape), head-drop (body) Der Nutzen des Body Language Data Set (BoLD) liegt laut den Autor: innen darin, dass menschliche motorische Elemente zum Verständnis von Emotionen und zur Analyse der psychischen Gesundheit genutzt werden können. Systematischer Review zu Kinesphäre Boix und Panhofer (2024) sammelten anhand eines Systematischen Reviews Literatur zum Begriff Kinesphäre, um Informationen zu dessen psychologischer Interpretation und klinischen Auswirkungen zu erfahren. Der Begriff Kinesphäre bezeichnet „(…) die Sphäre um den Körper, deren Peripherie mit leicht ausgestreck- 176 4 | 2024 Iris Bräuninger ten Gliedmaßen erreicht werden kann, ohne von dem Punkt wegzutreten, der den Stützpunkt beim Stehen auf einem Bein darstellt“ (Laban 1966, 1, diese und weitere Übersetzungen durch die Autorin). Unterschieden werden drei Bereiche (Laban 1948 / 1975): ● kleine Kinesphäre, nah oder eng, eingeschränkter Bewegungsbereich, „Gelenke nah am Körper, etwa 25-30 cm; kurze oder geschrumpfte Bewegungen, wie Nägelkauen, Achselzucken, Telefonieren oder Selbstberührung. Normalerweise persönliche Handlungen, die eine gewisse Intimität implizieren.“ (Boix / Panhofer 2024, 2) ● mittlere (durchschnittliche) Kinesphäre: „Ausdehnung bis etwa 60 cm vom Körper, mit Ellbogen nah am Körper und bis zu den Fingern oder anderen gebeugten Gelenken reichend. Umfasst alltägliche Aktivitäten wie Gestikulieren, Kochen, Schreiben usw.“ (Boix / Panhofer 2024, 2) ● große Kinesphäre: „ausgedehnt oder weit. Lange oder weite Bewegungen mit gestreckten Gliedmaßen und Gelenken; erfordert Platz. Normalerweise für dramatische oder extreme Bewegungen wie Winken aus der Ferne oder das Greifen nach etwas von einem hohen Regal.“ (Boix/ Panhofer 2024, 2) Die Literaturrecherche wurde in den Datenbanken Dialnet, Ebsco, Emerald, Project Muse, ProQuest (Central und Dissertations & Theses), Science Direct, Scopus, SpringerLink, Web of Science, Wiley und Taylor & Francis-Publikationsplattform mit den Searchterms „kinesphere“ und „kinesfera“ (Spanisch) durchgeführt, zusätzlich zur Handsuche in mehreren Fachzeitschrifen. Von 1459 Treffern wurden 532 ausgeschlossen und weitere 424 als Duplikate entfernt. In den Review gingen 499 Arbeiten ein, welche nach Themen geordnet wurden. Nachfolgend werden die am häufigsten zitierten genannt: 1. 42 % „Verbesserung der Effizienz“: die Publikationen fokussieren auf den Körper mit dem Ziel der Bewegungsanalyse oder Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit (Physiotherapie, Sportunterricht, Kampfsport, Theater, Tanz, Musik, Technik und Robotik) 2. 37 % psychotherapeutischer Gebrauch: Fokus auf Verbesserung des Wohlbefindens, der Beziehungen oder der Körper-Geist-Verbindung (Psychologie, Psychotherapie (Tanzbewegungstherapie, Tanztherapie, Body-Mind- Ansatz, Creative Movement), Bewegungsanalyse, Yoga, Authentic Movement) 3. 18 % Physischer Raum: Fokus auf räumlichen, technischen Aspekt (Architektur, Pädagogik, Bildende Kunst, künstlerisches Schaffen, Choreographie) 4. 3 % andere Bereiche. Die Ergebnisse belegen, dass Kinesphäre als Konzept in verschiedenen Bereichen Einzug erhalten hat und durch neue Konzepte bereichert und interpretiert wurde. Laut den Autorinnen drückt die Kinesphäre zwar einen psychophysischen Prozess dar, der innere Einstellungen wie Persönlichkeit und Stimmung ausdrückt. Einvernehmen in der Literatur besteht darüber, dass die Kinesphäre den persönlichen Raum offenbart, der Sicherheit und Vertrauen vermittelt. Wenig Einigkeit hingegen belegt die Literaturanalyse, wie Kinesphäre psychologisch interpretiert werden kann. Die Autorinnen bieten abschließend literaturbasierte Interpretationsmöglichkeiten an, wie unterschiedliche Kinesphären und innere Haltungen zusammenhängen könnten (z. B. Gefühl der Zugehörigkeit), und schlagen klinische Implikationen vor. Literatur Boix, R. Y., Panhofer, H. (2024): The kinesphere: a systematised literature review. Body, Movement and Dance in Psychotherapy (online), https: / / doi.org/ 10.1080/ 17432979.2024.2355133 Aktuelles aus der Forschung 4 | 2024 177 Laban, R. (1975): Modern educational dance (ed. by L. Ullmann). 3. Ausg. MacDonald & Evans, London Laban, R. (1966): Choreutics (ed. by L. Ullmann). MacDonald & Evans, London Mayring, P. (2022): Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken. 13. Neuausg. Beltz, Weinheim, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658- 37985-8_43 Saftig, J., Till, M. (2024): Intuition oder Evidenz? Die Arbeit von Tanz- und Bewegungstherapeut*innen in rehabilitativen Settings und ihr Clinical Reasoning für geeignete Interventionen. Bewegungstherapie und Gesundheitssport 40 (2), 43-49, https: / / doi.org/ 10.1055/ a-2253-3006 Wu, C., Davaasuren, D., Shafir, T., Tsachor, R., Wang, J. Z. (2023): Bodily expressed emotion understanding through integrating Laban movement analysis. Patterns, 4 (10), https: / / doi.org/ 10.1016/ j.patter.2023.100816 Dr. Iris Bräuninger Senior Researcher (Hochschule für Heilpädagogik Zürich IVE), Dozentin MA Tanztherapie UAB Barcelona, BTD-Supervisorin / Ausbilderin / Lehrtherapeutin, KMP-Notatorin, Praxis Tanztherapie Supervision Bodensee. ✉ Dr. Iris Bräuninger dancetherapy@mac.com oder iris.braeuninger@hfh.ch Liebe Abonnentinnen und Abonnenten, wir haben eine erfreuliche Nachricht für unsere privaten Direktkunden: Der Bezugspreis der Zeitschrift körper - tanz - bewegung bleibt auch im kommenden Jahr weiterhin bei € 55,-. Nicht- Private / Institutionen zahlen ab 2025 für das Jahres-Einzelabonnement € 75,-, jeweils zuzüglich Versandkosten. Wenn Universitäten mit bisherigem Einzelabo auf eine Campuslizenz aufstocken wollen, bitten wir um Nachricht an vertrieb@reinhardt-verlag.de. Als besonderen Service bieten wir eine kostenlose Online-Recherche in den Volltexten aller Fachbeiträge der körper - tanz - bewegung an, die seit Heft 1 / 2013 erschienen sind. Abonnent: innen können diese Beiträge darüber hinaus als zitierfähige PDF-Datei ohne Zusatzkosten aufrufen und herunterladen (im Abo-Preis inbegriffen). Als Einzel-Abonnent: in nutzen Sie unser Online-Angebot unter www.reinhardt-journals.de. Ihr Ernst Reinhardt Verlag