körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2025
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Forum: Zwischen Nähe, Vertrauen und Autonomie
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Peter Geißler
Eine körperpsychotherapeutische Selbsterfahrungsgruppe bietet verschiedene Vorteile gegenüber dem einzeltherapeutischen Setting, was den Einsatz konkreter körperlicher Berührung betrifft. Dies wird am Beispiel einer Teilnehmerin mit symbiotischen Persönlichkeitsanteilen demonstriert. Die unterstützende Atmosphäre und die körperliche Nähe helfen ihr dabei, Vertrauen zu fassen, sich zu öffnen und Konflikte zwischen Nähe und Autonomie zu bearbeiten. Der emotionale, aber auch der konkret körperliche Halt durch die Gruppe war diesbezüglich ein Entwicklungsmotor und mündete in eine heilsame Katharsis.
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Forum: Aus der Praxis 35 körper-- tanz-- bewegung 13. Jg., S. 35-40 (2025) DOI 10.2378/ ktb2025.art05d © Ernst Reinhardt Verlag Zwischen Nähe, Vertrauen und Autonomie Ein Fallbeispiel zur Berührung in einer Selbsterfahrungsgruppe Peter Geißler Eine körperpsychotherapeutische Selbsterfahrungsgruppe bietet verschiedene Vorteile gegenüber dem einzeltherapeutischen Setting, was den Einsatz konkreter körperlicher Berührung betrifft. Dies wird am Beispiel einer Teilnehmerin mit symbiotischen Persönlichkeitsanteilen demonstriert. Die unterstützende Atmosphäre und die körperliche Nähe helfen ihr dabei, Vertrauen zu fassen, sich zu öffnen und Konflikte zwischen Nähe und Autonomie zu bearbeiten. Der emotionale, aber auch der konkret körperliche Halt durch die Gruppe war diesbezüglich ein Entwicklungsmotor und mündete in eine heilsame Katharsis. Schlüsselbegriffe Autonomie, Berührung, Gruppensetting, Körperwissen, Schrei Between Closeness, Trust and Autonomy. A Case Study on Touch in a Self-Experience Group A body psychotherapy self-awareness group offers various advantages over the individual therapy setting as far as the use of concrete physical touch is concerned. This is demonstrated using the example of a participant with symbiotic personality traits. The supportive atmosphere and physical closeness help her to gain trust, open up and work through conflicts between closeness and autonomy. The emotional but also the concrete physical support provided by the group was a motor for development in this respect and led to a healing catharsis. Key words autonomy, touch, group setting, body knowledge, scream I n den Zeiten des Booms der Körperpsychotherapie seit den 1970er Jahren galt körperliche Berührung in jedwedem Setting als selbstverständlich und wurde als therapeutischer Zugang nicht hinterfragt. Mittlerweile kann sie eine heikle Angelegenheit sein. Zum einen wurde wiederholt von Fällen berichtet, in denen körperliche Berührung vom Therapeuten (meist männlich) missbraucht wurde, mit all den schädigenden Folgen für die Patient: innen. Zum anderen hat sich der Zeitgeist so geändert, dass das Bewusstsein auch für subtile Grenzverletzungen gewachsen ist. Diversität und kulturelle Unterschiede kommen hinzu. Subjektive Wahrnehmungen seitens der Patient: innen können zusätzlich dazu führen, dass 36 1 | 2025 Peter Geißler körperliche Berührungen anders interpretiert werden, als sie womöglich gemeint waren. Was für einen Patienten als unterstützend und tröstend empfunden wird, kann von einem anderen als unangenehm oder übergriffig empfunden werden. Körperliche Berührungen können demnach hilfreich sein, und sie können die professionellen Grenzen im Einzelfall verwischen und zu Missverständnissen führen. Mit Berührung lässt sich daher nicht mehr so unbedarft arbeiten wie noch vor 50 Jahren. Als Lektor und Lehranalytiker an der Wiener Sigmund-Freud-Privatuniversität höre ich sogar immer wieder von Studentinnen und Studenten, dass man womöglich mit körperlicher Berührung überhaupt nicht arbeiten sollte. Leichter als im einzeltherapeutischen Setting ist die Arbeit mit körperlicher Berührung im Gruppensetting, und zwar aus folgenden Gründen: ● In einer Gruppe sind mehrere Personen anwesend, was eine Form der sozialen Kontrolle und Überwachung bietet. Dies reduziert das Risiko von unangemessenen Berührungen und Missverständnissen, da die Anwesenheit anderer die Wahrscheinlichkeit von Grenzüberschreitungen verringert. ● Berührungen in Gruppensettings erfolgen oft im Rahmen strukturierter Übungen oder Aktivitäten, bei denen alle Teilnehmer: innen informiert und einverstanden sind. Dies schafft eine klare und transparente Atmosphäre, in der jeder die Regeln und Grenzen kennt. ● In vielen Gruppen ist die Machtverteilung eine andere als in der Einzeltherapie, d. h. der Therapeut hat nicht notwendigerweise den gleichen Einfluss auf einzelne Teilnehmer: innen wie im Einzelsetting. Auch dies hilft dabei, das Risiko von Missbrauch und Manipulation zu minimieren. ● Zusätzlich sind in vielen Gruppentherapie- oder Selbsterfahrungsformaten körperliche Interaktionen Teil eines festgelegten Rahmens, z. B. als Übungen oder als Rollenspiele. Eine entsprechende Festlegung ist hilfreich im Sinne einer klaren Ausgangslage. Ein solches Format soll im Folgenden vorgestellt werden, nämlich wie sich körperliche Berührung in Rahmen einer szenischen Darstellung in einem sechstägigen Gruppengeschehen organisch in das Gesamtgeschehen einfügt. Es wird am Beispiel von Sandra (Name geändert), 28- Jahre alt, gezeigt, einer von insgesamt 11- Teilnehmer: innen eines Fortbildungsseminars. Die Zustimmung der Teilnehmerin zu dieser Falldarstellung liegt vor. Die Szene nahm am vorletzten Gruppentag Gestalt an, hatte jedoch einen mehrtägigen Vorlauf. Sie wurde in den wesentlichen Schritten von Sandra selbst gestaltet, sodass wir beide als Gruppenleiter (meine Frau Christine und ich) eher einen moderierenden Einfluss auf das Geschehen hatten als einen strukturierenden. Der konkrete Einstieg in die körperliche Berührung innerhalb der Szene wurde von einem weiblichen Gruppenmitglied initiiert. Vor der Szene Sandra nahm zwar interessiert an allen Übungen, Aufgabenstellungen und Reflexionen teil, hielt sich jedoch im Hinblick auf verbale Mitteilungen innerhalb der ersten Tage zurück, weil sie nicht zu viel Platz einnehmen wollte, wie sie zu einem späteren Zeitpunkt berichtete. In dieser Zurückhaltung spiegelte sich bereits ein wichtiges Thema: Als älteste von insgesamt drei Schwestern war es ihr seit ihrer Kindheit vertraut, den Jüngeren den Vortritt zu lassen und sich selbst zurückzunehmen. Sie war somit eine vernünftige Person mit einer Betonung des Intellekts auf Kosten der Fähigkeit zur emotionalen Öffnung. D. h. sie ließ eine „Übersteuerung“ des Geschehens im Sinne einer betonten Kontrolltendenz zu, und zwar entgegen ihrer Fähigkeit, Impulsen und Gefühlen nachzugeben. 37 1 | 2025 Fallbeispiel zur Berührung in einer Selbsterfahrungsgruppe In der ersten Mitteilungsrunde zu Seminarbeginn berichtete sie, dass sie sich unter Stress fühle, diese Anspannung jedoch nichts mit dem bevorstehenden Gruppengeschehen zu tun habe. Weitere Details blieben im Dunkeln. Einen Tag später teilte sie im Zuge einer Rückmeldungsrunde mit, dass das Thema „Männlichkeit- - Weiblichkeit“ für sie derzeit bedeutsam sei und sie sich gern vor anderen von ihrer erotischen Seite zeigen, sie sich z. B. gern sexy kleiden würde. Sie habe sich dann in einem anderen Workshop getraut, sich von dieser Seite zu zeigen; es war eine Art Annehmen ihrer „Kurven“, ihrer Weiblichkeit. Es schien uns so, dass sie sich, gemessen an spontanen Augenkontakten, tendenziell mehr an mich als männlichen Gruppenleiter richtete als an Christine. In einer Passage beobachteten wir Gruppenleiter einen kurz aufblitzenden Augenausdruck bei ihr, der etwas Strenges und Furchterregende an sich hatte, wie in einer Filmszene bei Galadriel, der Elbenkönigin aus dem Film „Herr der Ringe“, als diese mit sich kämpft, den Ring an sich zu nehmen oder nicht und somit ihren Konflikt austrägt zwischen dem Wunsch, der Versuchung der Macht nachzugeben oder ihr zu widerstehen. Schließlich gelingt es ihr, sich zu kontrollieren. In einer Diskussionsrunde fragte sie mich, was an unserem Vorgehen eigentlich psychoanalytisch sei. Ich verstand ihre Frage nur zum Teil auf inhaltlicher Ebene und verwickelte mich in Rechtfertigungen. Erst eine Weile später wurde mir bewusst, dass ich in eine Szene hineingeraten war, ähnlich wie der eben beschriebenen, gekennzeichnet durch ein kämpferisches Geschehen und hinauslaufend auf die Frage, wer die Oberhand behält. Sandra fügte diesbezüglich in einem Austausch nach Ende der Seminarwoche hinzu, dass sie Männer „für gewöhnlich auf Abstand“ halte, „bis geklärt ist, dass Interesse von mir aus nicht besteht“ (ihrem Kontrollbedürfnis entsprechend). In einer Gruppenübung, die jede: r Gruppenteilnehmer: in für sich durchführte, hatten wir das Thema „Berührung“ auf der Ebene von Fantasiebildungen angesprochen: wo man am Körper gern berührt würde, wie sich so etwas anfühlen würde, usw. Es schien, dass diese Fantasieübung Sandra zum Nachdenken anregte und bei ihr einen Assoziationsprozess anstieß, dahingehend, über körperliche Nähe in ihrem familiären Kontext nachzudenken. In einer Rückmeldungsrunde berichtete sie, sie könne sich im Zusammenhang mit ihrer Mutter wenig an stattgefundene körperliche Berührungen erinnern, und ihre Erinnerungen seien diffus. Generell glaube sie, die mütterlichen Berührungen seien von der Qualität her leichte Berührungen gewesen, im Gegensatz zu kräftigeren Berührungen ihres Vaters, der sie beispielsweise an den Schultern massiert hatte, wenn sie sehr verspannt war. Einen Tag später berichtete sie in der Morgenrückmeldungsrunde über Kopfschmerzen, ohne dass nähere Umstände deutlich wurden. Nachträglich berichtete sie, es habe damit zu tun gehabt, sich nicht in die Gruppe eingebracht zu haben, es habe sich alles sehr angestaut in ihrem Körper. Der Kopfschmerz war „ganz oben, wie ein dichter Nebel, Platz einnehmend, leicht drückend“. Sandra war eine aufmerksame Gruppenbeobachterin. Zweimal war sie es, die uns darauf hinwies, dass ein männliches Gruppenmitglied den Raum verlassen hatte und nicht mehr aufgetaucht war. Am Ende des vierten Gruppentages leitete Christine eine Körperspürübung an, darin mündend, sich allfälliger weiterführender Impulse bewusst zu werden. Sandra berichtete am Folgetag in der morgendlichen Reflexionsrunde von einem überraschenden Bild, das ihr in diesem Zusammenhang gekommen war: von „blutenden Ohren“. Weitere Assoziationen führten zu folgender Szene in ihrem Elternhaus: Ihr Vater liebte es, Musik zu hören, und zwar laute Musik (die aus Musikboxen ertönte), 38 1 | 2025 Peter Geißler was Sandras Mutter störte und weshalb es zu elterlichen Konflikten kam, deren Zeugin sie wurde. In diesem Zusammenhang tauchte ihr Konflikt, sich einzubringen oder sich zurückzuhalten, neuerlich auf und präzisierte sich: Gesehen werde sie schon (wohl auch aufgrund ihrer körperlichen Größe, sie ist 183 cm groß, wie sie mir später mitteilte), aber eben nicht gehört. Aus all dem Material formierte sich die Idee, dieses im Kontext einer äußerlich dargestellten Szene in der Gruppe weiter zu untersuchen und dadurch besser verstehen zu können, wohin ihre Entwicklung wohl gehen könnte. In theoretischer Hinsicht hatten wir den Gruppenteilnehmer: innen schon zuvor erklärt, dass ein implizites Körperwissen und Körpergedächtnis existiert, von dem derartige Entwicklungsimpulse ausgehen können. Von uns gefragt, was sie denn von den übrigen Teilnehmer: innen brauchen würde, um sich in die Szene gut einlassen zu können, war ihre Antwort, sie brauche Komplimente, jedoch nicht zu ihrem Äußeren, sondern zu ihrer Person. Angesprochen auf ihr aktuelles Gefühl entwickelte Sandra zunächst das Bild einer Schale von einem Ei. Später verwandelte sich dieses Bild in das eines Kokons. Nachträglich erklärte sie mir, all dies habe Ähnlichkeiten mit ihrer Geburt gehabt: „Ich wollte nicht aus dem Bauch-- wie bei meiner Geburt. Später habe ich mich schwergetan, aus dem Nest zu springen.“ Einstieg in die Szene: symbiotischer Halt Sandra wählte eine sitzende Position mitten im Raum. Angeregt, ihren Einfällen zu folgen, wünschte sie, dass sich die Gruppenteilnehmer: innen rund um sie versammeln, und zwar sitzend wie sie. Dies geschah. Ein weibliches Gruppenmitglied schlug ihr eine Berührung am Rücken vor. Sandra stellt jedoch fest, dass sie von allen berührt werden wollte. Es folgte ein schrittweiser Abstimmungsprozess darauf hinauslaufend, dass Sandra von den Armen und Händen der Gruppenteilnehmer gleichsam umhüllt wurde. Dreimal justierte sie nach, um den für sie richtigen Abstand zwischen sich und den anderen herzustellen, mündend darin, dass die Gruppe ihr in Schritten näher rückte, d. h. der Abstand sich verkleinerte. Erst im letzten Schritt kamen die Hände der Gruppenteilnehmer: innen hinzu und berührten sie. Auf diese Weise vermittelte die Gruppe Sandra ein körperliches Anwesendsein. Es herrschte eine dichte und zugleich friedliche Atmosphäre. Sandra schien aufzutanken und Kraft zu sammeln für das, was später folgen sollte. Dann streckte sie die Hände aus und fragte: „Werdet ihr mich noch lieben, wenn ich meinen eigenen Weg gehe? “ Sie weinte. Sie stellte zwischenzeitlich, ihrem inneren Prozess folgend, immer wieder rückversichernde Fragen etwa in folgender Art: „Seid ihr bei mir? “- - „Darf ich mir diesen Raum nehmen? “- - „Ist es in Ordnung so? “ Die Gruppe antwortete auf diese Fragen durchweg positiv bestätigend und mantraartig als Gesamtheit, z. B. so: „Ja, wir sind bei dir! “ Dadurch stellte sich ein Rhythmus von Fragen und Antworten ein, der mich an Gottesdienste aus meiner Jugendzeit und dort stattgefundene Gebetssequenzen erinnerte (bzw. an den Wechsel zwischen „vorbeten“ und „nachbeten“). Die Gruppenatmosphäre hatte in dieser Phase etwas „Heiliges“ an sich. Im Verlauf des Geschehens kam irgendwann die Idee auf, Musik einzuspielen, gefolgt von der Antwort, man habe hier keine Musikboxen. Christine warf ein, auch wenn man keine Boxen habe, so habe man doch Stimmen, woraus sich der Vorschlag entwickelte, ein Lied anzustimmen. Sandra wünschte sich ein Wiegenlied aus ihrer Kindheit, gesungen von ihrer Mutter, und so geschah es auch. Unterstützt wurde der Gesang durch leichte schaukelnd-wiegende 39 1 | 2025 Fallbeispiel zur Berührung in einer Selbsterfahrungsgruppe Bewegungen. Die Atmosphäre war nun anrührend. Sandra, gleichsam eingebettet in diese Klanghülle des Gesangs und in die sich bewegende Körperhülle, berichtete später, ihr seien zu dieser Zeit Tränen gekommen. Nach einer Weile kam Sandra die Idee, sich aus ihrer sitzenden Position zu erheben. Es war dies der Beginn eines nächsten Schrittes. Körperliches Aufrichten als Impuls für eine Autonomiebewegung Sandra schien nun hin- und hergerissen zwischen dem Impuls, in der symbiotischen Sicherheit der Gruppe zu verweilen, und dem Impuls, sich aufzurichten und sich auf diese Weise mehr Raum zu verschaffen. Es folgten einige Anläufe in diese Richtung und nachfolgende Zurückbewegungen. Sie schrieb später: „Ich bin aufgestanden, die anderen haben mich an den Beinen noch berührt. Ich bin an den Rand gegangen. Rausgehen ging nicht.“ In der Gruppe entwickelte sich das Bild, dass die haltenden Hände der Gruppe so etwas wie die Wurzeln eines Baums sein könnten, der in die Höhe wachsen wolle. Es vermittelte sich uns das Bild, dass Sandra Hilfe brauchte, um die sich andeutende Autonomiebewegung wirklich vollziehen zu können. Christine schlug ihr vor, sich eine helfende Person zu wählen, und sie suchte sich einen Mann, den sie anwies, was er für sie tun möge. Sie spürte, dass sie neuerlich einer körperlichen Berührung bedurfte- - ein zweites Mal, dieses Mal von ihr selbst initiiert. Auf ihre Anweisung hin stellte sich der Mann, größer als sie (was ihr wichtig war), hinter Sandra und umschlang sie zunächst mit seinen Armen, von hinten kommend, was sich für sie aber nicht richtig anfühlte. Sie schrieb später: „Ich wollte eine große Person, die mir Halt gibt- (...) Ich habe mich eng umarmen lassen. Fühlte sich eingesperrt an. Hände an die Hüften. Langsam bin ich allein weitere Schritte gegangen, halte ihn weiter hinten an den Händen.“ Dann bemerkten wir neuerlich dieses wütende Aufblitzen in ihren Augen. Sandra war nun bereit, den nächsten Schritt zu gehen. Sie fragte uns, ob sie schreien dürfe. Und das tat sie dann auch. Es war ein lauter, hoher, schriller Schrei. Im Zuge des Schreis entfernte sie sich aus dem symbiotischen Kreis der Gruppe, sprang richtiggehend heraus aus ihm. Die Gruppe ermutigte Sandra, der im Schrei gehaltenen Wut motorisch Ausdruck zu verleihen. Fiktiv entwarf die Gruppe einen Boxring und feuerte sie lebhaft an. Nun trat Sandra endgültig aus dem Umfeld der Gruppe heraus, stellte Abstand her und wendete sich der Gruppe zu. Ihr Selbstbewusstsein schien von Minute zu Minute zu wachsen. Ihr Körper begann, sich erotisch aufreizend zu bewegen, und sie genoss diese Veränderung sichtlich, lachte gelöst. Eine völlig andere Sandra schien von ihr Besitz ergriffen zu haben, eine selbstbewusste Frau, die weiß, dass sie eine Wirkung auf Männer und Frauen haben kann. Es war ein unglaublicher Wechsel. Stellenwert der Berührung in der Gesamtszene Die körperliche Berührung war ein wesentliches Begleitmoment in der Gesamterfahrung. Im Zuge der ersten Berührung fungierte die Gruppe gleichsam als konkret spürbarer halt- und kraftgebender Elternkörper, der es Sandra ermöglichte, gemeinsam mit den verbal vermittelten Rückversicherungen, ihren Weg in die Autonomie zu gehen. Dazu bedurfte es allerdings einer neuerlichen Berührung durch ein größeres (in diesem Fall männliches) Gruppenmitglied. Von dieser zweiten Berührung, die sie zunächst als einschränkend empfunden hatte, musste sie sich erst lösen, um mit einem Sprung den Schritt aus dem symbiotischen Kreis herausfinden, nachgefolgt von dem Schrei. 40 1 | 2025 Peter Geißler Abschließende Überlegungen Sandra war zu Beginn des Workshops zurückhaltend und sprach wenig über sich, obwohl sie interessiert an den Übungen teilnahm. Diese Zurückhaltung spiegelte ein Kindheitsmuster wider, als älteste Schwester den Jüngeren den Vortritt zu lassen. Die hier beschriebene Szene brachte bedeutsame Erinnerungen hervor und damit einhergehende Konflikte zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und Autonomie. In der körpertherapeutischen Szene fand sie durch die unterstützende Berührung der Gruppe und eines männlichen Gruppenmitglieds den Mut, aus ihrer „symbiotischen Sicherheit“ auszubrechen und ihre eigene Stärke und Selbstbewusstsein zu zeigen. Das Thematisieren von Sandras Problematik im Gruppensetting bot mehrere Vorteile: ● Sandra erhielt durch die Gruppe direkte Unterstützung und Bestätigung, was ihr half, Vertrauen zu fassen und sich emotional zu öffnen. Die positive Rückmeldung der Gruppe stärkte ihr Selbstwertgefühl. ● Die Gruppe fungierte als Spiegel, in dem Sandra ihre Verhaltensmuster und Reaktionen klarer erkennen konnte. Das Feedback der Gruppenmitglieder ermöglichte ihr, neue Perspektiven auf ihre Problematik zu gewinnen. Die unterschiedlichen Erfahrungen und Ressourcen der Gruppenmitglieder bereicherten Sandras Prozess. Sie konnte von den Geschichten und Strategien anderer lernen und so neue Wege zur Bewältigung ihrer eigenen Herausforderungen entdecken. Die Gruppe bot einen sicheren Raum, in dem Sandra neue Verhaltensweisen ausprobieren konnte, wie z. B. das Ausdrücken ihrer Gefühle und Bedürfnisse, ohne Angst vor negativen Konsequenzen haben zu müssen. Dies half ihr, sich in einem geschützten Umfeld weiterzuentwickeln. Insgesamt bot das Gruppensetting eine reichhaltige und unterstützende Umgebung, die Sandra half, ihre Problematik zu thematisieren und Schritte in Richtung persönlicher Entwicklung und emotionaler Öffnung zu gehen. Im Gruppensetting war der Zugang über körperliche Berührung u. a. wohl deswegen unproblematisch, weil er klar strukturiert und von allen Teilnehmer: innen einvernehmlich geteilt wurde. Die kollektive Zustimmung und die unterstützende Atmosphäre der Gruppe sorgten dafür, dass sich alle Beteiligten sowie Sandra sicher und respektiert fühlten. Dr. med. Dr. phil. Peter Geißler Körperpsychotherapeut, Psychoanalytiker, Lehranalytiker an der Sigmund Freud Privat- Universität Wien. Publikationen zur analytischen (psychodynamischen) Körperpsychotherapie, z. B. „Körperarbeit in der Psychotherapie. Erste Schritte zur Öffnung des Settings“. ✉ Peter Geißler Dr. Paul Fuchsiggasse 12 | A-2301 Neu-Oberhausen peter@geissler-info.at
