eJournals körper tanz bewegung 13/1

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2025.art02d
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2025
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Fachbeitrag: Bedeutung und therapeutischer Nutzen von Berührung in der Körperpsychotherapie

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2025
Frank Röhricht
Ausgehend von der zentralen Bedeutung von Berührung für das Selbsterleben beschäftigt sich dieser Beitrag mit wissenschaftlichen Grundlagen zur Anwendung von Berührung in der Körperpsychotherapie. Dies beinhaltet philosophisch-phänomenologische Perspektiven, eine kurze Zusammenfassung zum Tastsinn als organisch-physiologische Dimension der Berührung und deren brückenbildende relationale Funktion in der therapeutischen Beziehung vor dem Hintergrund einer psychosomatischen Entwicklungspsychologie. Der zweite Teil fasst die Literatur als Antwort auf zentrale Fragen zusammen: Warum, wie und wann berühren in der Psychotherapie? Schließlich werden kurz störungsspezifische Indikationen, behandlungstechnische Probleme und die aktuelle Evidenz für den Einsatz und die Wirksamkeit psychotherapeutischer Berührung referiert.
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Fachbeitrag 2 körper-- tanz-- bewegung 13. Jg., S. 2-15 (2025) DOI 10.2378/ ktb2025.art02d © Ernst Reinhardt Verlag Bedeutung und therapeutischer Nutzen von Berührung in der Körperpsychotherapie Frank Röhricht Ausgehend von der zentralen Bedeutung von Berührung für das Selbsterleben beschäftigt sich dieser Beitrag mit wissenschaftlichen Grundlagen zur Anwendung von Berührung in der Körperpsychotherapie. Dies beinhaltet philosophisch-phänomenologische Perspektiven, eine kurze Zusammenfassung zum Tastsinn als organisch-physiologische Dimension der Berührung und deren brückenbildende relationale Funktion in der therapeutischen Beziehung vor dem Hintergrund einer psychosomatischen Entwicklungspsychologie. Der zweite Teil fasst die Literatur als Antwort auf zentrale Fragen zusammen: Warum, wie und wann berühren in der Psychotherapie? Schließlich werden kurz störungsspezifische Indikationen, behandlungstechnische Probleme und die aktuelle Evidenz für den Einsatz und die Wirksamkeit psychotherapeutischer Berührung referiert. Schlüsselbegriffe Berührung, Körperpsychotherapie, Evidenz der Effektivität Significance and Therapeutic Benefits of Touch in Body Psychotherapy Based on the central importance of touch for self-experience, this article deals with the scientific basis for the use of touch in body psychotherapy. This includes philosophical-phenomenological perspectives, a brief summary of the organic-physiological, somatosensory dimension of touch and its bridging relational function in the therapeutic relationship against the background of psychosomatic developmental psychology. The second part summarizes the literature in response to key questions: Why, how and when to touch in psychotherapy? Finally, disorder-specific indications, treatment-related problems and the current evidence for the use and effectiveness of psychotherapeutic touch are briefly summarised. Key words touch, body psychotherapy, evidence of efficacy B erührung begleitet uns durch das Leben: Schon vor dem ersten und bis zum letzten Atemzug ist Berührung Sinn-stiftend, Halt/ Orientierung-gebend, Verbindung-schaffend. Wir sprechen davon, dass uns etwas „berührt“, wenn wir nachhaltig emotional betroffen sind, und Berührung hat weitreichende Konsequenzen für das allgemeine Wohlbefinden. Mit Bedeutung von Berührung in der Körperpsychotherapie 3 1 | 2025 Berührung wird der Tastsinn stimuliert. Dieser Sinn ist einer der phylo- und ontogenetisch bedeutsamsten Sinne im Verbund der somatosensorischen Systeme; zudem schafft der Tastsinn eine Brückenbildung zwischen der Binnen- und Außenwahrnehmung. Wenige Phänomene menschlichen Erlebens werden zugleich so nachhaltig kontrovers verstanden wie die in hohem Maße sozial, kulturell, inter-individuell erlebte Erfahrung von Berührung und die damit verbundenen Gepflogenheiten. Der zentralen Bedeutung von Berührung für das Selbsterleben, die zwischenmenschlichen Interaktionen und eine Vielzahl alltäglicher Funktionen (Tasten / Erkunden, Halten, Greifen, Fühlen etc.) steht eine systematische Vernachlässigung des Tastsinns in der psychotherapeutischen Praxis gegenüber. Das erklärt sich zum Teil aus dem kognitiven Paradigma einer sich weitgehend auf sprachlichen Austausch beschränkenden Psychotherapie, die sich traditionell schwertut, die Dimension des körperlichen Selbsterlebens explizit in Theorie und Praxis zu integrieren. Zudem ist auch die von Thadden (2018) als „Dilemma des spätmodernen Menschen“ skizzierte Widersprüchlichkeit zwischen dem Wunsch nach Berührung und der Angst vor Verletzung ein wichtiger gesellschaftlicher Hintergrund. Sie stellt in ihrem Buch die Frage: Droht die berührungslose Gesellschaft? Ein kulturell bedingtes Unbehagen zeigt sich insofern auch in der Psychotherapie ob der erotisch-sexualisierten Aspekte körperlicher Berührung, was mit auschlaggebend ist für diese geringe praktische Wertschätzung des therapeutischen Potentials: „Psychotherapists living in touch-averse societies are typically trained to be ‚hands-off‘.“ (Moenter 2020, 2; siehe auch Swade 2020). Zwei Gründe werden hier häufig benannt: 1. Die therapeutische Beziehung geht mit Übertragungsphänomenen einher und bedingt insofern eine hierarchische Dynamik zwischen Klient: in und Therapeut: in. 2. Therapeutische Beziehungen sind anfällig für missbräuchliche Interaktionen (Stichworte „Über-Griffe“ und Manipulation), Berührung kann zudem aggressives Verhalten mit sich führen. Die damit verbundenen ethischen und handlungsbezogenen Herausforderungen einer adäquaten und in vieler Hinsicht wünschenswerten Nutzung therapeutischer Berührung haben ihrer Verbreitung in der Vergangenheit im Weg gestanden. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der grundlegenden Funktion von Berührung, deren Indikation in der Psychotherapie und ihrer in der wissenschaftlichen Literatur beschriebenen Wirksamkeit. Über den konkreten klinischen Umgang mit Berührung ist an anderer Stelle ausführlich geschrieben worden (siehe z. B. Westland 2011 und 2015; Geuter 2019, Kapitel 12 „Berühren und Halten“). Berührung ist Leib-- ein psychosomatisches Phänomen Aus philosophisch-phänomenologischer Perspektive wurde die Einzigartigkeit der Selbst- Berührung als zentrale Ambiguitätserfahrung einer Subjekt-Objekt-Identität beschrieben. Berührung beinhaltet immer ein Berühren und ein Berührt-Werden, d. h. Berührung ist Kontakt, ein relationaler Akt, der sich an der Hautgrenze ereignet (siehe z. B. Fuchs 2023). Damit ist die Haut der Ort von widersprüchlichen Grenzerfahrungen der Einheit und Kohärenz des Selbsterlebens und der Demarkation und damit Abgrenzung (Trennung) zum Anderen (Innen-- Außen, Selbst-- Welt). In organisch-physiologischer Hinsicht ist die mit dem Tastsinn ausgestattete Haut das Berührungsorgan des Individuums; hier sind eine Vielzahl von Funktionen im Schnittfeld organischer und personaler Relevanz angesiedelt: sensomotorische Interaktion, Exterozeption und 4 Frank Röhricht 1 | 2025 Reflexverhalten, affektive Differenzierung sowie die Fähigkeit zum Erkennen von Objekteigenschaften. Der besondere Stellenwert des Tastsinns bezieht sich auf die über den ganzen Körper verteilten Rezeptoren und auf die Tatsache, dass ganz unterschiedliche Stimuli eine Vielzahl an Erlebnisqualitäten ansprechen: Sensibilität, Temperatur, Schmerzreize, propriozeptive Signale zur Position des Körpers im Raum. Damit ist der Informationsgehalt des Tastsinns sehr weitreichend und umfasst Aspekte der Umwelterfahrung (taktile Objekterfassung zur Eigenschaftsbestimmung), Gefahrenabwendung (Nervenfasern, die über die Schmerzerfahrung unmittelbare Handlungsreaktionen hervorrufen), Schutzfunktion (Thermoregulation und Barriere gegen das Eindringen pathogener Keime), Verortung im Raum (Mechano-Rezeptoren) und auch die Regulation emotionaler Primärbedürfnisse. Letzteres umfasst sowohl Berührung als Ausdruck von emotionaler Nähe mittels sogenannter affektivzärtlicher, sanfter Berührung (z. B. Streicheln) durch Stimulation der niedrig-schwelligen C-taktilen Fasern oder auch zur Stimulation sinnlicher Erregung in erotisch-sexueller Interaktion. Bayram-Weston et al. (2023) stellen in ihrer Zusammenfassung zur Physiologie des Tastsinns und der Vielzahl an Rezeptoren zur differenzierten Warnehmung heraus: „While our senses of hearing, vision and smell allow us to monitor the world at a distance, the skin and its associated sense of touch provide us with our most direct and intimate contact with the world around us.“ (S. 2) Berührung hat eine besondere brückenbildende Funktion; sie fördert relationales dyadisches Verhalten wie Helfen und Zusammenarbeit, und in der Begegnung kommt sie synergetisch dem Berührenden und Berührten zugute (Jakubiak/ Feeney 2017). Fuchs (2023) beschreibt den Tastsinn dementsprechend als „primären sozialen Sinn“ und verweist auf besondere Charakteristika und Begleitphänomene wie „Grenzfläche“, „Dialektik der Grenze“, „Widerstand“, „Transparenz“ und „Bipolarität“, er ist insofern „Umschlagstelle zwischen Leib und Körper“ und hat eine „zentrale Funktion für die Konstitution des Eigenleibes“ (S. 157). Berührung in der psychosomatischen Entwicklungspsychologie und Psychopathologie Berührungserfahrungen formen die frühe Eltern- Kind-Beziehung, d. h. sie sind nicht nur takt- und signalgebend für die Bedürfnisregulation, sondern sowohl für die frühe Körper-Ich-Entwicklung als auch für die Ausprägung der Bindungsstile („Attachment“) essentiell und insofern prägend für die allgemeine emotionale und körperliche Entwicklung von Kindern (Montagu 1980; Field 2010). Schon im Mutterleib entstehen die ersten sensorischen Erfahrungen über den eigenen Körper und die umgebende Umwelt mittels interpersonaler affektiver Berührung. Dies ermöglicht, dass sich Körpergrenzen und Handlungsfähigkeit formen. Berührung schafft die Grundlagen für die Etablierung und Entwicklung der Selbstregulation innerhalb der dyadischen Eltern-Kind-Interaktion (Crucianelli/ Filippetti 2020). Mittels Berührung (Tastsinn) und Interozeption werden Lebendigkeit (Vitalitätserfahrung), ein Gefühl von „Präsenz“ in der Welt und das Realitätsempfinden angesprochen und entwickelt. Die affektive Berührung in den frühen Interaktionen mit den Körpern der Eltern fungiert als ein in der unmittelbaren somatischen Erfahrung verankertes Urvertrauen, ein Bindemittel, das das Gefühl des eigenen Körpers von außen mit dem Gefühl des eigenen Körpers von innen verbindet. Der Säugling ist auf sich gestellt lebensunfähig, die „Stillung“ primärer Bedürfnisse schließt die affektive Erfahrung des Säuglings und die Anpassung oder Spiegelung von Aspekten dieser Erfahrung wie Intensität, Timing und Form / Kontur durch die Bezugsperson mit ein (Stern 1998). Verschiedene Formen der Bedeutung von Berührung in der Körperpsychotherapie 5 1 | 2025 Berührung können verwendet werden, um zu beruhigen und zu erforschen, um Grenzen kennenzulernen, um Emotionen wie Wut oder Freude auszudrücken, sich zu engagieren, zu bewegen, neu zu orientieren und auszudrücken sowie um die Selbstregulation zu modellieren. Die angeborene Sensibilität von Säuglingen, auf affektive Berührungen zu reagieren, zusammen mit der Fähigkeit der Bezugspersonen, schnell und angemessen auf die Signale des Säuglings zu reagieren, bilden den Kern dieses allmählichen Prozesses der minimalen Selbstwahrnehmung. Kontaktlosigkeit (Mangel an Berührung) und traumatische Berührungen sind insofern fundamental relevant für die Entwicklung psychischer und somatischer Erkrankungen (z. B. Montagu 1980, 142 ff; Field 2010; Beckett et al. 2006). Historisches-- Elimination von Berührung in der Psychotherapie Das sicher nachhaltigste Beispiel der Elimination durch Unterlassung von Berührung ist das in der Psychoanalyse definierte Paradigma der Abstinenzregel; sie bedingt eine behandlungstechnische Realität, die sich verkürzt als „Berührung ist die Ausnahme, Sprechen ist die Norm“ darstellt. Die Abstinenzregel beschreibt den behandlungstechnischen Grundsatz eines Berührungsverbotes sowie eine Enthaltungsverpflichtung. Zudem sollte die Regel auch verhindern, dass Therapeut: innen ihre eigenen Gegenübertragungen „ausagieren“ bzw. die (infantilen) Bedürfnisse der Patient: innen „befriedigen“, was als kontraproduktiv für den psychoanalytischen Prozess erachtet wurde und zugleich mit der Gefahr der Entstehung von emotionalen Abhängigkeiten begründet wurde. D.h. um die Übertragung zu fördern, wurde von den Therapeut: innen erwartet, dass sie neutral wie ein Spiegel und undurchsichtig waren (Freud 1912, 117). Erst in den 1960er / 1970er Jahren mit dem Aufkommen der Human Potential Bewegung bzw. der Humanistischen Psychologie sowie der Wiederannäherung an Vertreter einer kritischen Psychoanalyse (insbesondere Wilhelm Reich und Sandor Ferenczi, die schon zu Freuds Lebzeiten mit Berührungsinterventionen in der Psychoanalyse gearbeitet hatten) wurde die Wahrnehmung und Bewertung von Berührung in der Psychotherapie neu überdacht, bis sie dann im Rahmen der Körperpsychotherapie (KPT) weite Verbreitung fand. Dies zunächst nicht ohne die besagten Herausforderungen eines potentiellen Missbrauchs und hinsichtlich der Diskussionen zu einer notwendigen Berührungsethik in der Psychotherapie (siehe Bonitz 2008). Der Diskurs in der psychoanalytisch-psychodynamischen Literatur ist weiterhin lebhaft; Fosshage (2000) z. B. meint, dass Berührung das Potenzial habe, „das heilende Ziel der rationalen Einsicht“ (S. 23) zu gefährden. Dem nachgeordnet, aber in der Konsequenz kaum weniger berührungsaversiv, gibt das kognitive Paradigma in der Psychologie vor, dass hauptsächlich Informationsverarbeitungsprozesse im Sinne sprachlicher Kodierungen im Gedächtnis in den sogenannten „talking therapies“ kognitiv-verhaltenstherapeutischer Orientierung therapeutisch zum Einsatz kommen. Diese im Gespräch vermittelten Psychotherapien sind auf Bewusstmachung und Überprüfung von Kognitionen und deren Schlussfolgerungen zwecks Umstrukturierung als Basis zur Verhaltensänderung ausgerichtet. Im Unterschied dazu ist ein erfahrungszentriertes, erlebnisorientiertes Paradigma der körperorientierten Psychotherapien theoretisch-konzeptionell eingebettet in das sogenannte 4E-Konzept: „Embodied, Enacted, Extended, Embedded“ (z. B. Gallagher/ Hutto 2024). 6 Frank Röhricht 1 | 2025 Warum berühren in der Psychotherapie? Berührung in der Psychotherapie- - insbesondere alle Formen empathischer Berührungsinteraktion-- ist mittlerweile auch eine empirisch fundierte Intervention mit weitreichendem transformativem Potential. Analog dazu wird mittlerweile von einer eigenständigen „Berührungsmedizin“ gesprochen (McGlone et al. 2024), die in Prävention, Therapie, Rehabilitation und Palliativversorgung für ein breites Spektrum psychischer und physischer Störungen eingesetzt werden kann. Aus der Sicht der Körperpsychotherapie (KPT) hat Gill Westland die verschiedenen Leitmotive und therapeutischen Zielsetzungen zusammengefasst. Ergänzend dazu finden sich bei Ulfried Geuter im „Stichwort Berührung“ dieser Zeitschrift (2015) in seiner Auflistung von Themen aus der Literatur und bei Werner Eberwein (2024) folgende Indikationen für Berührungsinterventionen bzw. Beschreibungen der Funktionen in der Psychotherapie: ● Mit den Händen Veränderungen und Spannungen beim Patienten bemerken ● Das Gefühl eines Verbundenseins mit einem anderen Menschen nähren ● Patient: innen angesichts eines Affektsturms halten und beruhigen (z. B. bei Borderline- Patient: innen) ● Aktivieren, Verstärken / Betonen, Ausgleichen ● Halt und Sicherheit geben, Fürsorge ausdrücken ● Grenzen aufspüren und artikulieren (somatopsychisch) ● Erlebnisinhalte jenseits des kognitiv-sprachlich Zugänglichen ansprechen ● Förderung der Körper-Selbstwahrnehmung ● Kontakt zu / Gewahrsein für eigene Gefühle verbessern Berührung als Mittel der (non-verbalen) Kommunikation und Förderung somatischer Resonanz Berührung, um innere Zustände an Gewahrsein zu schaffen (nonverbal), im Hier und Jetzt sein zur Vertiefung der Wahrnehmung Berührung als Mittel zur Regulation des autonomen NS, der Tiefe der Atmung (Erregungsniveau) und der Emotionen / Affekte Berührung als Brücke zu positiven Gefühlen (Freude, Lebendigkeit, „Fluss“ etc.) und als haltgebende „Container“- Funktion Diagnostik: Berührung zur Differenzierung von affektiven Zuständen, z. B. Aggressivität versus Durchsetzungskraft Berührung als Mittel zur Förderung des Realitätsempfinden, zur Betonung von Haut-Grenzen und als Containment Exploration: Berührung z. B. als Mittel zur Klärung verbaler Inhalte und zur Differenzierung (Konfusion) von sexueller und sensueller taktiler Stimulationen Berührung als Mittel zum Ansprechen biographisch-emotionaler Erlebnisinhalte und für emotional korrigierende Erfahrungen Warum berühren in der Psychotherapie? Abb. 1: Warum berühren in der Psychotherapie? (in Anlehnung an Westland 2011, 2015) Bedeutung von Berührung in der Körperpsychotherapie 7 1 | 2025 ● Symbolische Berührung (z. B. im improvisierten Rollenspiel) ● Allgemeine Stressreduktion Wie berühren in der (Körper-) Psychotherapie? Unabhängig von der Frage der intendierten therapeutischen Effekte sind unterschiedliche Formen von Berührung in der Literatur systematisch beschrieben. Kinnunen et al. (2023) gehen ausführlich auf ethische Aspekte der professionell genutzten Berührung ein-- insbesondere hinsichtlich der in der Medizin notwendigen prozeduralen Formen. Sie unterscheiden dabei sieben Kategorien professioneller Berührung wie folgt: verbindend, prozedural, unterstützend und steuernd, explorativ, versorgend und beruhigend, protektiv und- - als weitere eigenständige Kategorie-- therapeutisch. Letztere scheint jedoch aus KPT-Sicht als Oberbegriff all die anderen Kategorien mit zu beinhalten. In ihrer Zusammenfassung anderer Unterscheidungsansätze betonen die Autorinnen, dass grundsätzlich alle Systeme zwischen den prozeduralen Formen der Berührung (instrumental-funktional), und den nicht-prozeduralen Formen (expressiv, therapeutisch, emotional) unterscheiden. Dementsprechend differenziert Westland (2015) Körper-Interventionen mit spezifisch technischen Zielen von kommunikativen, relationalen Berührungen und den in der KPT zum Einsatz kommenden psychotherapeutischen Berührungen. Sie listet eine Vielfalt an Berührungstypen auf (übersetzt aus dem Englischen Originaltext, Westland 2025, 497): „Berührungen umfassen Händeschütteln und Umarmungen, aber die Körperpsychotherapie hat eine breite Palette von Berührungskommunikationen entwickelt, die über diese sozialen Formen der Berührung hinausgehen. Berühren Rücken an Rücken, Fuß an Fuß, Hand auf Rücken, die Füße des Klienten auf dem Bauch der Psychotherapeut: innen, der Rücken des Klienten lehnt sich an die Vorderseite des Psychotherapeuten, die / der Psychotherapeut/ in hält den Kopf des Klienten und so weiter.“ Des Weiteren beschreibt sie: „Berührungen können Klopfen, Streicheln, Rollen (…) von Gewebe umfassen, Drücken, Gleiten über die Haut, Dehnen, Ziehen, Drücken, zum Beispiel bei Hand-zu-Hand-Widerstandsübungen oder beim Bewegen von Gliedmaßen; oder kaum wahrnehmbar wie bei Spiegelarbeit, mit den Handflächen ‚folgend‘.“ Alle diese Formen kommen in der KPT vor. Insofern benötigen KPT-Therapeut: innen eine besondere Wahrnehmung (und entsprechende Ausbildung), um diesen Zielen entsprechende Techniken differenziert und indiziert einsetzen zu können. Berührung ist eine intime, relationale Aktion, deren Reziprozität (Motive, Intentionen, etc.) besondere Aufmerksamkeit erfordert. Charakteristika einer klinisch wirksamen und ethisch adäquaten psychotherapeutischen Berührung sind: ● Basale Kompetenz erworben in Selbsterfahrung (extensives Training in der Ausbildung) ● Eingebettet in Behandlungsvertrag (explizites Einverständnis) ● Klientenzentriert und adjustiert (vor biographischem, kulturellem und diagnostischem Hintergrund) ● „Timing“ sowie Art und Intensität der Berührung sind prozessgesteuert (felt-sense, Intuition, Beobachtung somatischer Interaktion / Resonanz, Atemmuster, Muskeltonus, etc. werden zugrunde gelegt) mit bestimmen Variationen: mittelbar durch Objekte / Gegenstände, Selbst-Berührung oder Berührung durch Therapeut: in oder andere Gruppenteilnehmer ● Authentizität als persönlicher Indikator (nicht berühren, wenn es sich nicht „stimmig“ anfühlt oder wenn Zweifel ob der situativen Passung bestehen) ● Konstantes „Check-in“ mittels verbaler Rückmeldungen (konkretes Nachfragen zur Erfas- 8 Frank Röhricht 1 | 2025 sung der Veränderung im Körpererleben) und auch Reflektieren der eigenen Reaktionen ● Somatisches „Check-in“ (felt sense und Beobachtungen der körperlichen Reaktionen) ● Begleitet von kompetenter (erfahrener) und regelmäßiger Supervision Kabanov (2023) beschäftigt sich in ihrer Dissertation (hermeneutische Literaturübersicht) mit dem Thema „Berühren oder nicht berühren: Die Frage der körperlichen Berührung in der psychodynamischen Psychotherapie von Erwachsenen“. Sie listet eine Reihe von Faktoren auf, die bezüglich der Frage „Ob und wie berühren? “ in der Literatur als wichtige Bezugsgrößen für die praktische Arbeit herausgestellt werden: Alter (Therapeut: innen und Patient: innen), Geschlecht, berufliche Orientierung und Psychotherapieschule, persönliche Geschichte der Therapeut: innen im Umgang mit Berührung und deren Begegnung mit Berührung in der persönlichen Therapie und die Einstellung der Peer-Gruppe zur Berührungsnutzung. Sie betont, wie wichtig es laut der recherchierten Literatur sei, dass sich Therapeut: innen ihrer persönlichen Vorlieben in Bezug auf Berührungen bewusst sind und offen über das Unbehagen sprechen müssen, das mit der Berührung mit sich selbst und ihren Klient: innen verbunden ist, anstatt diese aus theoretischen Gründen abzulehnen. Die Frage nach dem „Wie berühren“ ist selbstverständlich immer auch eine Frage der motivational-intentionalen Ausrichtung: Was bezweckt die Berührung im konkreten Moment des therapeutischen Prozesses? Welchen Effekt sucht die Berührung zu erzielen? Interessanterweise fanden Packheiser at al. (2024) in ihrer systematischen Metaanalyse von Studien heraus, dass die Art der Berührung und ihre Dauer für die klinische Effektivität keine Rolle spielten, obwohl eine höhere Häufigkeit bei Erwachsenen mit einem größeren Nutzen verbunden war. Darüber hinaus war das Berühren des Kopfes mit größeren gesundheitlichen Vorteilen verbunden als das Berühren anderer Körperteile, was sicherlich in weiteren Studien gesondert untersucht werden sollte. Störungsspezifische Indikationen für psychotherapeutische Berührung Die Indikation zur Nutzung von Berührungsinterventionen in der Psychotherapie leitet sich wie bereits beschrieben zentral von prozessorientierten Fragestellungen ab. Darüber hinaus sind jedoch auch die störungsspezifischen psychopathologischen Faktoren zentral zu berücksichtigen. Von unspezifischer körperlicher Aktivierung und Vitalisierung, einer gerichteten Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Körperwahrnehmung sowie einer emphatischen Regulierung der therapeutischen Beziehung bis hin zu störungsspezifischen Indikationen sind Berührungen in den therapeutischen Behandlungsprozess integriert. Dafür hier einige klinisch relevante Beispiele. Psychotherapie der Psychosen Zwei Zitate illustrieren geradezu im Sinne eines Behandlungsauftrages, wie therapeutische Berührung psychotisch erkrankten Menschen helfen kann, das zentrale psychopathologische Phänomen gestörter Realitätsprüfung zu verbessern, und wie diese zugleich ein höchstes Maß therapeutischer Kompetenz und personenzentrierte Sorgfalt nahelegt. Jonas (1973, 213 f, zitiert nach Fuchs 2023, 159) schreibt: „Tasten [ist] die wahre Probe der Realität: Ich kann jeden Verdacht einer Illusion dadurch zerstreuen, dass ich das verdächtige Objekt anfasse und seine Realität an dem Widerstand prüfe, den es meinem Verdrängungsversuch entgegensetzt.“ Im Englischen wird der damit angesprochene Zustand sinngemäß als „being out of touch“ bezeichnet. Fuchs (2023, 159) betont dies in ähnlicher Weise: „Realitätserleben entsteht also durch Widerstand, Hemmung unserer Wirkung durch Gegenwirkung, und an Bedeutung von Berührung in der Körperpsychotherapie 9 1 | 2025 dieser Erfahrung ist der Tastsinn primär beteiligt. Erst Druck und Widerstand erlauben uns, die Dinge in ihrer konkreten Materialität zu spüren, ihre Undurchdringlichkeit buchstäblich zu begreifen.“ Im Leiberleben lassen sich diese Grenzerfahrungen direkt therapeutisch über Berührungsstimulation ansprechen: Patient: innen werden z. B. angeleitet, die Beschaffenheit der eigenen Körperoberfläche (Haut), die gelenkigen Verbindungen und die unterschiedlichen Konsistenzen der Gewebestrukturen (z. B. Muskulatur und Knochen) kontrastierend mit Hilfe unterschiedlicher Objekte und mittels interaktiver Sequenzen wahrzunehmen (Malafouris/ Röhricht 2024). Dabei können sowohl die Objekteigenschaften (z. B. Bälle, Stäbe, Sandsäcke, Tücher etc.) als auch die Druck- und Widerstandsqualitäten sowie die relationalen Intentionen und Themen verändert werden. Die Wahrnehmung kann handlungsbezogen konkretisiert und verbalisiert werden (Realitätsprüfung), und die Patient: innen können auf diese Weise bewusst steuernd in die interaktionellen Bewegungsabläufe eingreifen, was zwei zentral in der Psychose gestörte Aspekte des basalen Selbsterlebens fördert (Eigenmächtigkeit im Handeln, „Agency“ und „Ownership“; siehe Fuchs/ Röhricht 2017). Chronischer Schmerz und funktionale somatische Syndrome Patient: innen mit chronischen Schmerzen haben häufig ein starkes Verlangen, regelmäßig mit manueller Therapie, insbesondere Massagen, behandelt zu werden (z. B. Waibel 2023). Korp (2002) verweist in diesem Zusammenhang auf eine häufig zu verzeichnende Erwartungshaltung von Klient: innen, die sich der KPT zuwenden, um Lösungen für ihre gesundheitlichen Probleme zu finden: „Da wird man berührt, am besten im Liegen, dann kommen Gefühle hoch, diese Gefühle weisen den Weg raus, sie zeigen sich, sie verlangen nach Integration, Veränderung, Heilung ist nahe.“ (S. 6) Die Berührung kann als lindernde empathische Intervention mit Verschiebung des Aufmerksamkeitsniveaus und der negativen Antizipation (Schmerzschwellen-Adjustierung) verstanden werden. Zugleich finden in der psychosomatischen Psychotherapie auch biographisch relevante Aufarbeitungen traumatisierender Erfahrungen statt (Stichwort: „die Finger auf die Wunde legen“). Im Anschluss an ein explizite Stabilisierungsphase, in der Patient: innen lernen, ihre körperlichen Potentiale zur Selbstabgrenzung und zur Vorbereitung auf eine Arbeit mit traumatischen Erinnerungen zu nutzen, können Berührungserfahrungen helfen, innerhalb des „window of tolerance“ Traumata zu bearbeiten. Hier ereignet sich auch eine „Wiederaneignung“ bzw. „Wieder-Einverleibung“ dissoziierter Körperareale. Müller-Oerlinghausen et al. (2022) fassen Studienergebnisse zur wissenschaftlich belegten Wirksamkeit professioneller Berührung unter dem Stichwort einer „Berührungsmedizin“ zusammen. Für die Fachgebiete der psychosomatsichen Schmerztherapie und Rheumatologie sei diese wirksam wie folgt: zur Reduzierung des subakuten und chronischen Lumbalsyndroms, zur Verbesserung der Funktionsfähigkeit, zur Reduzierung von Nacken- und Schulterschmerzen sowie zur Verbesserung von Spannungskopfschmerz, Migränebeschwerden und auch spezifisch bei Fibromyalgie zur Verbesserung von Schmerzen, Angst und Depression und einer gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Für den Sonderfall der Funktionellen Neurologischen Störung hat Moenter (2020) dargestellt, wie „attuned touch“ diesen Patient: innen hilft, da sie häufig unter somatopsychischen Depersonalisationen und Dissoziationen leiden. Depression und Angst In der Psychotherapie der Depression werden sowohl physiologische als auch psychische Prozesse durch Berührung therapeutisch angestoßen. Therapeutische Prozesse beinhalten 10 Frank Röhricht 1 | 2025 das Ansprechen impliziter Gedächtnisinhalte, d. h. das Auslösen von Erinnerungen, insbesondere defizitärer Erfahrungen, aber auch z. B. ein Erkennen eines „Zuviel“ an erdrückender Zuwendung in frühen Entwicklungsjahren. Emotional korrigierende Erfahrungen (siehe auch die 1961 von Sechehaye beschriebene symbolische Wunscherfüllung) schaffen Wendepunkte im Selbsterleben der Patient: innen. Das somatopsychische Syndrom ist mit Fuchs & Schlimme (2009) als Verkörperungsstörung definiert; Röhricht (2011) beschreibt die Depression als ein „Hyper-Embodiment“: Der Körper tritt als lastender Leib in Erscheinung, ist besetzt mit negativen Konnotationen. Schweregefühle und Schmerzen sowie eine Reduzierung der Psychomotorik bestimmen häufig das Erleben der Patient: innen. Berührung kann in der Behandlung der depressiven Beschwerden aktivieren, das Aufmerksamkeitsniveau anheben („arousal“) und ein der Schwerkraft entgegenwirkendes Moment in der Selbsterfahrung schaffen. Müller-Oerlinghausen et al. (2022, e35) betonen das psychophysiologische therapeutische Potential der Berührung zur Verbesserung der Anhedonie, „d.h. das Nicht-mehr-lustvoll-spüren-Können, keine positiven Stimuli als solche mehr Perzipieren-Können“, und zur Lösung chronischer Kontraktionsmuster in der Muskulatur. Bei Angststörungen ist zunächst die regulative Funktion der Berührung auf das autonome Nervensystem wichtig (sowohl eigenleiblich als auch durch die Hand der Therapeut: innen). Berührung kann Schutz signalisieren, aber auch- - wie bei vielen anderen traumatischen Erlebnissen-- den körperlichen Gefahrenort zu lokalisieren helfen. Eine ältere systematische Übersichtsarbeit (Cochrane) zur Effektivität von Berührung in der Therapie von Angststörungen (Robinson et al. 2007) kam zu dem Ergebnis, dass zu dem Zeitpunkt keine kontrollierten klinischen Studien hierzu vorlagen. Mittlerweile sind auch dazu erste vielversprechende Studien publiziert, z. B. zur mechanisch-affektiven Berührung bei generalisierter Angststörung (Carpenter et al. 2022; Packheiser et al. 2024). Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) Auch hinsichtlich der Effekte therapeutischer Berührung zur Therapie von Symptomen einer PTBS wurde eine Übersichtsarbeit erstellt, auch diese jüngeren Datums: McGreevy & Boland (2022) fassen 39 Studien zusammen, die elf verschiedene berührungsbasierte Interventionen beschreiben. Sie fanden heraus, dass Techniken die auf die Emotionsregulation einwirken, die beste Evidenz aufweisen; insgesamt weisen die Studien darauf hin, dass Berührung eine wichtige Rolle bei der Unterstützung der Reduzierung von PTBS-Symptomen spielt. Berührung ist emotional „nährend“ und korrigierend bei traumatisieren Menschen, der Einsatz braucht ein hohes Maß an Vertrauen in der therapeutischen Beziehung und kann diese auch fördern, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt (Stichwort Passung) eingesetzt wird und die Patient: innen explizit ihr Einverständnis geben (d. h. die Kontrolle haben). Oxytocin, bekannt als Bindungshormon, wird als Reaktion auf menschliche Berührung ausgeschüttet und spielt eine Rolle bei der Affektregulation. Es fördert auch prosoziales Verhalten, Selbstvertrauen und positive soziale Erinnerungen. Die Möglichkeit, hierdurch spezifisch in der Traumatherapie Patient: innen dabei zu unterstützen, die hohe kortikale Aktivierung durch Stress auf ein erträgliches Niveau herunterzuregulieren, ist ein zentrales therapeutisches Anliegen, da hiermit das sogenannte „window of tolerance“ in der Stabilisierungsphase der Therapie aufrechterhalten werden kann. Im besten Fall gelingt es dabei, aversive Erinnerungen neu zu bewerten. Es gibt zudem Hinweise auf einen verringerten Oxytocinspiegel bei frühen Traumata. Dies kann zu Problemen im Zusammenhang mit sozialem Rückzug und der Stresserzeugung in sozialen Beziehungen beitragen (z. B. MacDonald 2013). Zusätzliche Ankerpunkte werden durch einfa- Bedeutung von Berührung in der Körperpsychotherapie 11 1 | 2025 che Selbstberührungsinterventionen zur körperlichen Stärkung geschaffen, die die Patient: innen während des gesamten Therapie-Prozesses zu Stabilisierungszwecken nutzen können: zum Beispiel Umarmen eines Kissens (eine hilfreiche Alternative, wenn die Selbstberührung immer noch eine Herausforderung darstellt) oder Auflegen der Hände auf Kopf, Herz und Bauch, um Gefühle von Trost, Schutz und Selbstachtung konkret im Erleben anzusprechen. Diese Signale können auch als Indizien gestisch in Erscheinung treten und innere Haltungen symbolisieren, d. h. z. B. als Gesten des Selbstrespektes und der Selbstfürsorge thematisch-therapeutisch genutzt werden. Allgemeine Wirksamkeit von Berührung in der Psychotherapie Horton et al. (1995) befragten 231 Patient: innen zur Erfahrung von Berührung in der Psychotherapie. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Berührung Vertrauen und Nähe in der therapeutischen Beziehung fördert. Die Patient: innen hatten das Gefühl, dass Berührung professionelle Zuwendung indiziert (69 % der Befragten) und sie sich damit besser auf den Therapieprozess einlassen konnten. 47 % gaben an, dass Berührung ihnen half, Akzeptanz und Selbstwertgefühl zu steigern. Bei einer weiteren Fragebogen-Studie in Großbritannien mit ca. 39000 Befragten gaben 6878 Teilnehmer: innen an, Erfahrungen mit einer Psychotherapie- Behandlung zu haben (Tanzer et al. 2022); 30 % der Befragten berichteten über körperlichen Kontakt mit ihren Therapeut: innen. Davon wurde das therapeutische Berührungserleben von 87 % positiv bewertet (Unterstützung / Bindung vermittelnd: 65 %); 88 % beschrieben es als „nicht unangemessen“, und 70 % sagten, die Berührungen hätten Unterstützung durch die Therapeut: innen signalisiert; lediglich 4 % berichteten, dass das Berühren unangemessen gewesen sei. Des Weiteren beschrieb die Studie, dass Bindungsvermeidung negativ mit der Qualität von Berührungserfahrungen assoziiert wurde, und 40 % der Befragten wollten explizit, dass ihr: e Therapeut: in sie berührt. Einige weitere Ergebnisse verschiedener Studien: ● Langsam-affektive (im Vergleich zu schnellneutraler) Berührung führt über allgemeine Stimmungseffekte hinausgehend zu einem spezifischen Rückgang des Gefühls der sozialen Ausgrenzung (die Autoren verweisen auf einen spezifischen Zusammenhang zwischen affektiver Berührung und sozialer Bindung; von Mohr et al. 2017). ● Unterschiede in der Wahrnehmung affektiver Berührungen können vom Bindungsstil abhängen (Krahé et al. 2018). ● Berührungsbasierte Interventionen verbessern die therapeutische Allianz zwischen Patient: in und Therapeut: in bei Patient: innen, die wegen muskuloskelettalen Schmerzen eine Behandlung suchen (Myers et al. 2022). ● Achtsamkeit mit aktiver Berührungsintervention führte zur signifikanten Reduktion depressiver Symptome im Vergleich zu einer Kontrollgruppe (Stötter et al. 2013). ● Die Metaanalyse von Hou et al. (2010) berichtet von einem statistisch signifikanten Ergebnis zur antidepressiven Wirkung von Massagetherapie. ● Eine Analyse von Baumgart et al. (2011) von 22 randomisiert-kontrollierten Studien zu Patient: innen mit Depressionen oder Angstzuständen zeigte in den meisten Fällen eine Überlegenheit der Massagetherapie gegenüber den verschiedenen Kontrollbedingungen mit teils auch langfristigen Auswirkungen (bei depressiven Patient: innen häufiger als bei solchen mit einer Angststörung). ● Baumgart et al. (2020) fanden in einer Studie an Patient: innen mit somatoformen Rückenschmerzen heraus, dass eine „psychoregulative Massage“ in der analgetischen und antidepressiven Wirkung gegenüber Medikamenten überlegen war. 12 Frank Röhricht 1 | 2025 ● In einer randomisiert-kontrollierten Studie zeigte sich, dass selbstberuhigende Berührungsgesten und Umarmungen Cortisol-Reaktionen auf psychosozialen Stress reduzieren und physiologische Stressreaktionen in Zeiten begrenzter sozialer Ressourcen reduzieren können (Dreisoerner et al 2021). Die bislang umfangreichste systematische Überprüfung und multivariate Metaanalyse der körperlichen und psychischen Effekte von Berührungsinterventionen publizierten kürzlich Packheiser et al. (2024). Die Analyse der Ergebnisse von 137 Studien (mit 12.966 Personen) zeigte: Berührungsinterventionen waren besonders wirksam bei der Regulierung des Cortisolspiegels und der Gewichtszunahme bei Neugeborenen sowie bei der Schmerzlinderung und Reduzierung von Depressionssymptomen oder Angstzuständen bei Erwachsenen. Zusammenfassung In der körperorientierten Psychotherapie kommt Berührung vielfältig zum Einsatz und hat dabei sowohl konfliktzentriert aufdeckende als auch funktional störungsspezifische and regulatorische therapeutische Auswirkungen. Insbesondere letztere und auch die wachsende Zahl empirischer Studien hat zu einer Neubewertung, besseren Akzeptanz und vermehrtem Gebrauch von Berührungsinterventionen auch in der allgemeinen Psychotherapie geführt. Und hinsichtlich der ethisch-praxeologischen Bedenken hat sich durchgesetzt, was Geuter (2015, 70) griffig formulierte: „Über die Einhaltung des ethischen Maßstabs entscheidet nicht die körperliche Nähe in Zentimetern, sondern die Intention und Bedeutung des Kontakts.“ Damit ist die Berührungsintervention gleichzustellen mit vielen anderen therapeutischen Maßnahmen, die unmittelbar am Erleben der Patient: innen ansetzen und im interaktionellen Austausch einen dynamischen Prozess beinhalten, in dem die subjektive Erfahrung nur bedingt vorhersagbar ist. Bromberg (2006, 4) zitierend, der sich ausführlich in seinem Buch mit der Frage beschäftigte „Was ist therapeutisch in der therapeutischen Beziehung? “: „Safe but not too safe“ sollte es sein, um transformative Prozesse in der Psychotherapie zu initiieren. Die mittlerweile vorliegenden Daten zur Evidenz und die systematischen Ausführungen zur Theorie der Wirkweisen und Indikationen legen nahe, dass die klinische Anwendung der Berührungsinterventionen in jeder Form von Psychotherapie in Theorie und Praxis gelehrt werden sollte. Literatur Baumgart, S. B-E., Baumbach-Kraft, A., Lorenz, J. (2020): Effect of psycho-regulatory massage therapy on pain and depression in women with chronic and / or somatoform back pain: a randomized controlled trial. Brain Sciences 10 (10), 721, https: / / doi.org/ 10.3390/ brainsci10100721 Baumgart S. B-E., Müller-Oerlinghausen, B., Schendera, C. F. G. (2011): Efficacy of massage therapy on depression and anxious disorders as well as on depressiveness and anxiety as comorbidity-- A systematic overview of controlled studies. Physikalische Medizin-- Rehabilitationsmedizin-- Kurortmedizin. 21, 167-182, https: / / doi.org/ 10.1055/ s-0031-1279760 Bayram-Weston, Z., Andrade, M., Knight, J. 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Frank Röhricht Facharzt für Psychiatrie, Chefarzt und Medical Director für Forschung, Innovation und medizinische Ausbildung im East London NHS Foundation Trust, Honorary Professor of Psychiatry, Queen Mary University of London. Mitherausgeber von „körper-- tanz-- bewegung“. ✉ Prof. Dr. med. Frank Röhricht East London NHS Foundation Trust Trust Headquarter, Robert Dolan House 9 Allie Street | GB-London E1 8DE frank.rohricht@nhs.net