körper tanz bewegung
9
2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2024.art10d
41
2025
132
Fachbeitrag: Körper- und leiborientierte Musiktherapie in Theorie und Praxis
41
2025
Udo Baer
Musikhören und Musizieren ist sowohl ein rein physischer als auch ein leiblicher Prozess. Der Beitrag zeigt diese Zusammenhänge und arbeitet v. a. Aspekte des Körpererlebens heraus. Wie er als Grundlage musiktherapeutischer Arbeit genutzt werden kann, wird an mehreren musik- und kreativtherapeutischen Methoden und Praxisbeispielen vorgestellt.
9_013_2025_2_0004
Fachbeitrag 68 körper-- tanz-- bewegung 13. Jg., S. 68-75 (2025) DOI 10.2378/ ktb2025.art10d © Ernst Reinhardt Verlag Körper- und leiborientierte Musiktherapie in Theorie und Praxis Udo Baer Musikhören und Musizieren ist sowohl ein rein physischer als auch ein leiblicher Prozess. Der Beitrag zeigt diese Zusammenhänge und arbeitet v. a. Aspekte des Körpererlebens heraus. Wie er als Grundlage musiktherapeutischer Arbeit genutzt werden kann, wird an mehreren musik- und kreativtherapeutischen Methoden und Praxisbeispielen vorgestellt. Schlüsselbegriffe Körper, Leib, Musik, Musiktherapie Body and Body-Oriented Music Therapy in Theory and Practice Listening to music and making music is a physical as well as a lived body process. The article shows these connections and in particular highlights aspects of the body („Leib“) experience. How it can be utilised as a fundamental basis for music therapy is presented using several music and creative therapy methods and practical examples. Key words body, Leib, music, music therapy Musik ist körperlich J ede Erzeugung von Klängen, jede Rezeption von Musik ist körperlich. Das beginnt schon beim Sprechen. Der Klang der Worte ist vom Inhalt des Gesprochenen nicht zu trennen, jedes Sprechen ist zumindest auch musikalisch. Und wir sprechen in einem Rhythmus: abgehackt oder leiernd, mit Betonungen und Pausen … Der Körper lebt ständig Rhythmen, im Atem, im Herzschlag, im Gang usw. Instrumente werden mit Händen und Füßen gespielt, Töne mit Lunge und Mund erzeugt. Keine Sängerin kann körperlos singen, kein Kind körperlos auf dem Xylophon spielen. Besonders der Atem ist bei den meisten musikalischen Äußerungen unerlässlich. Das gilt nicht nur für den Gesang, sondern auch für alle Blasinstrumente wie Flöte oder Mundharmonika. Wer einem Schlagzeuger zuhört und zusieht, wird wahrnehmen, wie sein Atmen sein Musizieren begleitet und unterstützt. Auch beim Hören von Musik sind die Ohren und die mit ihnen verbundenen neuronalen und anderen Systeme unabdingbar aktiv. Musikalische Wahrnehmung ist nicht abstrakt, sondern körperlich. Die Resonanzen beim Musikhören zeigen sich aber auch darüber hinaus: Der Brustkorb und die Lunge kann sich weiten oder verengen, die Füße oder der Kopf wippen im Rhythmus, die Augen bewegen sich zu den inneren Filmen, die beim Musikhören entstehen. Mit Musik therapeutisch zu arbeiten, sollte auf einem Verständnis dessen beruhen, was Musik ist: Musizieren und Musikhören ist im- 69 2 | 2025 Körper- und leiborientierte Musiktherapie mer auch körperlich (Decker-Voigt et al. 2020; Marlock et al. 2023). Musik ist leiblich Dem Körper wohnt ein Doppelcharakter inne: Er kann einerseits aus der Perspektive der 3. Person („Er“) als ein Objekt betrachtet, analysiert, bearbeitet usw. werden. Andererseits wird aus der Perspektive der 1. Person („Ich“) gespürt und erlebt. Beides gilt für die Musik. Auch sie kann analysiert und bearbeitet werden, und sie wird erlebt, beim Musizieren wie beim Musikerleben (Fuchs 2023). Der sich und seine Welt erlebende Mensch wird in der Phänomenologie als „Leib“ bezeichnet. Das Wort „Leib“ entstammt dem mittelhochdeutschen Wort „lib“ oder „leb“, das als Wortstamm auch in „Leben“ und „lebendig“ enthalten ist. Der Körper in der musiktherapeutischen Begegnung wird vor allem als Körper- Erleben erfahren. Wenn der Atem den Körper weitet und wieder engt, entspricht das auch Qualitäten des Erlebens: Wir Menschen können uns eingeengt fühlen, und wir können uns mit unserem Sehnen und unserer Liebe in die Welt hinein weiten und ausbreiten. Wenn dieses Pulsieren zwischen Weiten und Engen sich einschränkt oder erstirbt, ist dies ein Grundmerkmal der Depression. Leiborientierte Musiktherapie kann das Engen und Weiten wieder allmählich beleben (Baer/ Frick-Baer 2009). Auch der Rhythmus der Musik kann Aspekte des menschlichen Lebensrhythmus widerspiegeln, auch seine Störungen, und gleichzeitig Anstöße geben, dass Menschen „ihren Rhythmus“ finden. Jedes Gefühl kann musikalisch ausgedrückt werden und findet spontan seinen klanglichen Ausdruck. Und gleichzeitig öffnet der musikalische Ausdruck Möglichkeiten der Veränderung. Im musikalischen Dialog - und nicht nur dort - entstehen Resonanzen: Etwas schwingt mit und schwingt gemeinsam. Dieses „Etwas“ kann aus Gefühlen bestehen oder eher körperlichen Aktionen und Interaktionen oder anderem mehr. Musiktherapie sollte darum um die Prozesse der Leiblichkeit wissen und diese nutzen. Tönen und Hören als Primäre Leibbewegung Als Leibbewegungen werden Regungen und Bewegungen menschlichen Erlebens bezeichnet. Primäre Leibbewegungen umfassen das Tönen / Hören, das Schauen und Gesehen-Werden, das Greifen, das Drücken und das Lehnen. Primär sind sie im doppelten Sinne: Es sind die ersten leiblichen und körperlichen Bewegungen der Säuglinge, mit denen sie sich in die Welt bewegen. Und es sind gleichzeitig grundlegende Elemente menschlicher Begegnung, die auch zentrale leibliche Interaktionen in therapeutischen Prozessen beschreiben (Baer 2017). Tönen und Hören sind für die Musiktherapie von besonderer Bedeutung. Wenn ein Mensch auf die Welt kommt, tönt er, meistens schreit er. Dieses Schreien beinhaltet schon zahlreiche Facetten. Eltern, die gut und feinsinnig zuhören können, hören, ob das Kind schreit, weil es etwas zu essen möchte, oder ob es sich in den Schlaf wimmert, ob es Schmerzen hat oder in den Arm genommen werden will. Dieser klangliche Reichtum als vielfältiger Erlebensausdruck bleibt in späteren Jahren als Ausdruck des Erlebens und Bestandteil der Kommunikation erhalten und differenziert sich aus, vor allem in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Auch in der Therapie. Ein Therapeut fragte nach Beendigung eines therapeutischen Prozesses eine Klientin, was ihr denn besonders geholfen habe. Sie antwortete: „Sie haben mir zugehört.“ Als Therapeut: innen nutzen wir das Tönen und Hören. Das gilt für jede psychotherapeutische Begegnung. Musiktherapie bietet dafür besondere Möglichkeiten. Wir ermuntern Klient: innen, das auszudrücken, wofür sie zumin- 70 2 | 2025 Udo Baer dest zunächst keine Worte haben. Wir nehmen unsere Resonanzen ernst und können sie in den Dialog einbringen. Wir hören auf das Unsagbare und auf das, was hinter den Worten liegt. All das und noch viel mehr stärkt die Würde der Klient: innen. Sie finden „Gehör“. Musiktherapie, Körper und Leib Wie Musiktherapie die körperlichen und vor allem körperlich-leiblichen Aspekte nutzen kann, soll an einigen Beispielen dargestellt werden. Doch Grundlage aller Methoden ist das Wissen darum, dass Musik und Körpererleben nicht getrennt werden können. Wenn zum Beispiel die Begegnung im musikalischen Dialog zwischen Therapeut: in und Klient: in daran festgemacht wird, dass beide dieselben Noten spielen, dann lässt dies das Wesen des zwischenmenschlichen Dialoges und der Vielfalt zwischenleiblicher Prozesse außer Acht. Im musikalischen Dialog begegnen sich Rhythmen, auch Atemrhythmen, emotionale Resonanzen, Blickkontakte und vieles andere mehr. Psychotherapie ist zwischenleibliche Begegnung. Musiktherapie fokussiert auf die musikalische Begegnung, bezieht aber alle Aspekte des Körperlichen und Leiblichen ein. Viele Klient: innen leiden darunter, dass sie in ihrer Biografie als Objekt behandelt und in der Entfaltung ihrer Lebendigkeit reduziert und eingeschränkt wurden und werden. Das darf sich in der therapeutischen Begegnung nicht wiederholen. Die Bedeutung der Beachtung der körperlichen und leiblichen Aspekte in der Musiktherapie soll an einigen Beispielen illustriert werden. Der Anfang Nur in Ausnahmefällen schlage ich bei einer musiktherapeutischen Arbeit den Klient: innen ein Instrument vor. Fast immer bitte ich: „Wählen Sie ein Instrument aus, das Ihnen jetzt gerade passend erscheint.“ Schon dabei werden die Klient: innen auch körperlich aktiv. Sie gehen umher, wählen, suchen aus, probieren, entscheiden sich schließlich irgendwann für ein Instrument. Bei manchen dauert dies länger, bei anderen geht dies schneller. Wahrzunehmen ist immer, wie der Körper bei der Suche und Entscheidungsfindung beteiligt ist. Einige Menschen sind hoch angespannt, manche schüchtern oder aufgeregt, andere eher lässig und gelassen, je nach Thema und Befindlichkeiten. Dann bitte ich darum, sich einen Platz zu suchen, an dem sie auf ihrem Instrument spielen möchten. „Seien Sie sehr sorgfältig bei der Platzsuche. Entscheiden Sie, ob Sie eher stehen oder sitzen möchten, wie groß der Abstand zu mir ist, wo es für Sie stimmig ist zu erklingen.“ Auch hier ist der Körper beteiligt, auch hier ist das räumliche Erleben wesentlich. Wer Schwierigkeiten hat, einen Platz zu finden, um zu ertönen, hat vielleicht auch Probleme mit seinem Platz in seinem Leben, zumindest in der aktuellen Situation. Als Therapeut bin ich an der Suche beteiligt, nicht nur objektiver Zuschauer, sondern auch in meiner Resonanz auf die Klient: innen unmittelbarer Bestandteil des Resonanzraums, der entsteht, bevor der erste Ton erklingt. Erklingt dann die Stimme oder ein Instrument als Improvisation oder als Ausdruck eines Themas, das den oder die Klient: in beschäftigt, wird dieser gemeinsame Resonanzraum intensiver, und ich kann dann entscheiden, ob ich mich an dem Musizieren beteilige und meine Resonanz ausdrücke und interveniere oder ob ich als Zuhörer eine Resonanz wahrnehme. Fast immer ist der Zuhörer hilfreich, die Resonanz nach dem Musizieren in Worte zu fassen. Gelegentlich begleitet der oder die Klient: in das Musizieren mit solch deutlichen körperlichen Bewegungen, dass ich dies aufgreife, spiegele oder darauf meinen Impulsen folgend antworte, so dass daraus ein gemeinsam improvisierter Tanz entsteht. 71 2 | 2025 Körper- und leiborientierte Musiktherapie Wie das Kratzen erklingt Ein Kind leidet unter Neurodermitis und kratzt sich die Haut blutig. Die Eltern leiden mit und sind ratlos. Das Kind kämpft mit seinem Drang, sich zu kratzen, und spürt gleichzeitig den Schmerz auf der Haut. Die Hilflosigkeit aller Beteiligten steigert sich. Das Kratzen macht Töne. Die Töne variieren, je intensiver das Kratzen ist und je angespannter die Haut ist, die gekratzt wird. Diese Töne ähneln denen, die entstehen, wenn Papier gerissen wird. Die Eltern geben auf meine Empfehlung hin dem Kind Papier, Zeitungspapier, Zeitschriften oder andere Papierreste und reißen das Papier entzwei: mal langsam, mal schneller, mal lang andauernd, mal ruckartig, auf verschiedene Art und Weise. Das Kind reißt auch. Dadurch entsteht ein gemeinsames Reißkonzert, was beiden Spaß macht. Das Kind hat nun immer Papier in der Nähe und greift oft danach, um es zu reißen. Das Kratzen wird weniger. Die Ähnlichkeit der Töne des Reißens und Kratzens ermöglichen eine Verschiebung vom Kratzen hin zum Papierreißen. Das Reißen des Papiers reduziert die Spannung des Kindes. Töne, die aus dem Körper entstehen, können musikalisch aufgegriffen werden. Das ist weit mehr als Body Percussion (aber auch diese kann hilfreich sein). Es kann die Erkrankung nicht beseitigen, aber es kann die Spannung verringern und das Leiden erleichtern und abbauen. Wenn der Atem erklingt Die Mundharmonika ist meines Wissens das einzige Instrument, bei dem sowohl das Einatmen als auch das Ausatmen erklingen können. Ich benutze die „Kleine Puck“, eine Mini-Mundharmonika, die schon seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hergestellt wird und preiswert ist. Ich sage zum Beispiel einem Klienten: „Hier ist eine kleine Mundharmonika. Ich schenke sie Ihnen. Nehmen Sie sie bitte in den Mund und lassen Ihren Atem erklingen. Versuchen Sie nicht, eine Melodie zu spielen oder musikalisch etwas zu produzieren. Atmen Sie durch die Mundharmonika ein und aus.“ Es entsteht nach manchmal holprigem, aber doch meist sehr schnellem Beginn eine Atmosphäre, die fast andächtig ist. Der eigene Atem ist hörbar, das Ein- und das Ausatmen und damit etwas Intimes und Kostbares eines Menschen. Viele Klient: innen, denen ich dies vorgeschlagen habe, sind sehr berührt, sich selbst in ihren Atemklängen zu hören. In aufregenden, spannenden und leidvollen Situationen stockt uns Menschen oft der Atem, die Anspannung, Angst oder Aufregung „verschlägt einem den Atem“. Wenn ich dies merke, ist die Arbeit mit der Kleinen Puck und den Atemklängen angesagt. Sie bringt in Fluss, was vor Schrecken erstarrt ist. Der eigene Klang des Atmens wird hörbar, indem er durch die Mundharmonika verstärkt wird. Diese Wirkung kann gezielt eingesetzt werden bei Menschen, die extrem aufgeregt sind, vielleicht weil ein traumatischer Schrecken wieder lebendig wird oder weil sie aus anderen Gründen hocherregt sind. Ein Mann lag im Sterben. Er hatte nach seinen Äußerungen keine Angst vor dem Tod, fürchtete sich aber davor, seine geliebte Frau allein lassen zu müssen. Das führte ihn immer wieder zu hochintensiven Angstattacken. Ich schenkte ihm eine Kleine Puck und übte mit ihm das tönende Ein- und Ausatmen. Sie lag dann auf seinem Nachttisch. Wenn er merkte, dass eine Angstattacke sich abzeichnete, griff er nach ihr, atmete durch die Puck und beruhigte sich. Ich habe diese Arbeit mit sehr guten Wirkungen bei psychisch und/ oder körperlich erkrankten Menschen ebenso eingesetzt wie bei Kindern oder Erwachsenen, die unter ADHS leiden. 72 2 | 2025 Udo Baer Die Stimme der eigenen Kostbarkeit Jeder Mensch ist kostbar, jeder Mensch verbirgt in sich Kostbarkeiten. Vielen leidenden Menschen, also Klient: innen, geht das Bewusstsein und Gespür für diese Kostbarkeiten verloren. Das Geröll des Leidens und der Verletzungen und Entwürdigungen überlagert sie. Mit der Arbeit an der Stimme der eigenen Kostbarkeiten werden keine neuen, von außen kommende Impulse gesetzt, sondern die innere Kostbarkeit wird hörbar, sichtbar, bewegbar. Ich bitte zum Beispiel eine Klientin: „Nehmen Sie Ihren Atem wahr, und seien Sie nur achtsam für Ihr Ein- und Ausatmen. Beachten Sie besonders Ihr Ausatmen. Spüren Sie, nehmen Sie wahr, wie Ihr Ausatmen beginnt, wie es verläuft und endet … Das Einatmen geschieht ganz von allein. Achten Sie vor allem auf Ihr Ausatmen … Nun begleiten Sie Ihr Ausatmen mit einem Summen. Versuchen Sie nicht, einen bestimmen Ton zu treffen, sondern lassen Sie einfach Ihr Ausatmen klingen vom Anfang bis zum Ausklang des Atmens … Nun öffnen Sie beim Ausatmen langsam und mit unterschiedlicher Weise den Mund. Lassen Sie aus dem Summen eine Stimme erklingen … Spielen Sie mit diesen Stimmen, die erklingen wollen. Probieren Sie es aus. Lassen Sie sich überraschen- … Und nun suchen und finden Sie die Stimme, die Ihnen jetzt am ehesten passt und stimmig erscheint. Es ist die Stimme Ihrer eigenen Kostbarkeit, die Stimme, die aus Ihnen nach außen erklingt und gehört werden will.“ Oft sind die Menschen, denen ich diese kleine Einheit anbiete, überrascht von dem, was erklingt. Hätte ich sie gebeten, mit einem Instrument oder ihrer Stimme ihre eigene Kostbarkeit zu spielen, wäre auch etwas geschehen. Doch auf diese Art und Weise entspringt die Stimme der Kostbarkeit ihrem Atem und damit ihrem Körpererleben, sodass der Prozess nach meiner Erfahrung noch intensiver und beglückender wird. Mit dieser Erfahrung kann man weiterarbeiten. Man kann, was ich häufig vorschlage, die Stimme der eigenen Kostbarkeit mit einer Bewegung verknüpfen, die - klein oder groß, eng oder weit - aus dem Erklingen der Stimme der Kostbarkeit entstehen möchte. Man kann auch diese Stimme der eigenen Kostbarkeit an eine vorgestellte Person richten, ihr zusenden, oder ich finde auf ähnliche Weise meine eigene Stimme der Kostbarkeit, und daraus entsteht ein Dialog. Musikalische Dialoge Auch in jedem musikalischen Dialog ist es wie schon erwähnt wichtig, den Ort festzulegen, von dem aus die Klient: innen oder ich musizieren. Manchmal schlage ich vor, weiter zu musizieren und dabei etwas näher heranzurücken oder die Entfernung zu vergrößern. Oder ich bitte darum, den musikalischen Ausdruck mit einer Bewegung zu verbinden. Daraus kann ein Tanz entstehen. Doch auch wenn die Bewegung nur klein ist, verändert sich die Resonanz, verändert sich der Raum der Zwischenleiblichkeit. Besonders wichtig bei musikalischen Dialogen ist der Dialog der Blicke, den schon Stern als Tanz zwischen Mutter und Säugling beschrieb (Stern 1992). Wenn zum Beispiel eine Klientin und ich dialogisch musizieren und wir uns dabei anschauen, findet parallel zum musikalischen Dialog ein Dialog der Augen statt. Er ergänzt und erweitert den musikalischen Dialog. Ihn wahrzunehmen ist genauso von Bedeutung wie die Musik zu hören. Auch wenn die Klientin die Einladung zum Blickkontakt nicht annimmt, braucht das Wie des Wegschauens Beachtung. Es kann Scham ausdrücken oder Angst vor Beschämung, inniges Versunken-Sein oder Trotz … Emotionales Gerichtetsein Jedes Gefühl kann musikalisch ausgedrückt werden. Dabei ist das Körpererleben immer be- 73 2 | 2025 Körper- und leiborientierte Musiktherapie teiligt. Seine Liebe zu musizieren, ohne dass sich der Atem sowie die Körperspannung und Körperhaltung verändern, ist unmöglich. Das gleiche gilt für die Angst, den Schrecken, den Zorn und andere Gefühle. Das gehört zur musiktherapeutischen Alltagserfahrung. Spannend und fruchtbar ist es, das leibliche Gerichtetsein bewusst miteinzubeziehen. Das menschliche Erleben vollzieht sich immer in Richtungen, die mehr oder weniger bewusst und mehr oder weniger deutlich sind. Wir haben einen Boden unter unseren Füßen und können nach unten sinken oder erniedrigt werden. Wir können uns auch emporheben und nach oben strecken. In dem Raum hinter uns können wir uns anlehnen, Rückendeckung erfahren, aber es kann uns auch jemand in den Rücken fallen und verletzen. Wir streben nach vorne zu dem hin, was wir wollen und vielleicht auch müssen, gebremst mit Angst, aggressiv mit Zorn, dynamisch voller Sehnsucht … Auch zur Rechten wie zur Linken finden wir Halt oder greifen wir ins Leere. Die Impulse des Gerichtetseins sind zumindest unbewusst vorhanden. Nahezu alle Bezeichnungen haben eine Doppelbedeutung: Sie drücken eine motorischkörperliche Bewegung aus (z. B. betreten wir Holz- oder Steinboden unter unseren Füßen) und eine Leibbewegung (z. B. versuchen wir aus einer Krise heraus, wieder einen Boden für unser Leben zu gewinnen (Baer/ Frick-Baer 2008). Wenn Klient: innen ein Gefühl musizieren, frage ich oft: „An wen wollen Sie dieses Gefühl richten? “ Und ich bitte dann, dem Musizieren eine Richtung zu geben, sich eine Person oder mehrere Personen vorzustellen, einen Ort, eine Situation, auf die sich dieses Gefühl hinwendet und ausrichtet. Damit verändert sich fast immer das Musizieren. Zumindest wird immer der soziale Raum, der Lebensraum, der erlebte Raum miteinbezogen und Teil der musikalischen und leiblichen Erfahrung. Hocherregung In vielen Situationen sind Klient: innen hocherregt. Schon als Säuglinge sind Erregungsverläufe ein zentraler Modus des Erlebens und des Ausdrucks (Schumacher 2004). Manchmal hat die Klient: innen der traumatische Schrecken wieder ergriffen. Andere sind von Zorn erfüllt, und wieder andere tauschen die Erstarrungen der Hilflosigkeit gegen hocherregte Verzweiflung um. All dies kann im Musizieren seinen Ausdruck finden. Das ist gut so, weil Verborgenes und Erstarrtes lebendig werden kann und damit die Kraft verliert, mit der sie den Alltag beschränken und belasten. Um mit diesen Erregungen umzugehen, reicht es meistens nicht, sie nur musikalisch auszudrücken. Neben der Erfahrung, dass sie mit ihrer Erregung nicht allein sind, sondern sie mit dem / der Therapeut: in teilen können, sind drei Elemente wichtig, in denen das Körpererleben einbezogen wird: ● Ich bitte die Klient: innen oft, ihre Erregungsmusik an mich zu richten, und nehme dabei wahr, was in mir an Resonanzen entsteht. Oft entsteht daraus ein musikalischer Dialog. Damit verlieren die Hocherregungsquellen ihre Kraft, weil sie nicht nur in dem einen Menschen herumkreisen, sondern sich auch in die Umgebung zu anderen Menschen hinwenden können. ● Ich bitte oft darum, das Musizieren mit körperlichen Bewegungen zu verknüpfen. Es ist hier hilfreich, dass die Bewegung auch einen körperlichen Ausdruck findet - über die körperlichen Veränderungen, die beim Musizieren sowieso schon auftreten, hinaus. Wird die musikalisch ausgedrückte Erregung körperlich begleitet und verstärkt, entsteht oft bei Klient: innen ein Prozess, bei dem die Erregung abklingt und an die Stelle der Erregung etwas anderes tritt: Einsamkeit oder Sehnsucht nach Zartheit und Liebe oder 74 2 | 2025 Udo Baer andere Gefühle und Erlebnisqualitäten, die die Klient: innen meist überraschen. ● Manchmal bitte ich die Klient: innen, einen Raum für die Hocherregung zu finden und diese zu musizieren. Dann lade ich sie ein, einen Raum oder Ort für das Gegenteil dieser Erregung und der damit verbundenen Gefühle zu finden. Ich bitte sie, dorthin zu gehen und auch dort das, was in diesem Raum spürbar ist, erklingen zu lassen. Häufig tritt dann auf, was im Leben der Klient: innen zu kurz gekommen ist oder zu kurz kommt. Manchmal wandelt sich der hilflose Zorn in Sehnsucht nach Ruhe oder anderes mehr. Auch hier ist die körperlich-räumliche Veränderung ein Impuls für Veränderungen des Erlebens und die Entdeckung neuer Aspekte der Lebendigkeit. Das zu kurz gekommene Körperteil Ein Beispiel für die Einbeziehung von Körper und v. a. Körpererleben in die Musiktherapie ist die Arbeit mit dem zu kurz gekommenen Körperteil. In der leiborientierten Musiktherapie bieten wir Körperbildarbeit an, auch mit den Schwerpunkten Kunst und Tanz (Baer 2017). Wenn z. B. als Teil einer Essstörung das Bild des eigenen Körpers verzerrt oder anderweitig verstört wurde, ist es dienlich, auf einem großen Blatt Papier (2,5 m × 1,5 m) nach Achtsamkeits- und Spürübungen die einzelnen Körperteile zu malen. Dabei wird auf Imaginationen zurückgegriffen, z. B.: „Wenn deine Wirbelsäule eine Pflanze wäre …“ oder „Gestalte dein Becken als eine Landschaft …“. In dieser hier nur kurz angedeuteten Arbeit werden Verletzungen lebendig und heilbar, ebenso Kraftquellen und Ressourcen. Die Aspekte des Körperbildes können dann vertont oder getanzt werden, was und wie es sich gerade aus der Arbeit ergibt. Eine fokussierte Körperbildarbeit besteht darin, dass sie sich auf ein einzelnes Körperteil fokussiert. Das ist oft ein Körperteil oder eine Körperregion, die schmerzt oder anderweitig krank ist. Sehr wirksam ist die Frage: „Welcher Teil ihres Körpers kommt bei Ihnen zu kurz, aktuell oder immer schon, oder könnte sich vernachlässigt fühlen? “ Ich bitte dann den / die Klient: in, sich über einige Achtsamkeitsübungen mit diesem Körperteil zu beschäftigen und die dabei entstandenen inneren Bilder zu malen oder innere Klänge zu musizieren. Dabei wird oft sichtbar und hörbar, was auch im Leben zu kurz kam (und manchmal auch, was zu viel war). Aus dem Austausch darüber ergeben sich dann wieder Veränderungen im Bild oder in den Klängen oder anderes mehr. Mit diesem veränderten Erleben gilt es dann, wieder in dieses Körperteil zu spüren. Immer hat sich das Körpererleben verändert, oft werden auch andere Körperregionen wichtig. Der Prozess geht weiter. Die vorgestellten Beispiele der Verknüpfung von Körper, Körpererleben und Musizieren im therapeutischen Kontext ließen sich erweitern. Sie sollen illustrieren, dass diese Verknüpfungen keine „Erfindungen“ der Therapeut: innen sind, sondern Aspekte des realen Lebens der Menschen widerspiegeln, die wir als Therapeut: innen aufgreifen und im Sinne der Heilungsprozesse nutzen. Literatur Baer, U. (2017): Kreative Leibtherapie. Das Lehrbuch. Semnos, Berlin Baer, U., Frick-Baer, G. (2009): Klingen, um in sich zu wohnen. Methoden und Modelle leiborientierter Musiktherapie. Band 1 und 2. Semnos, Berlin Baer, U., Frick-Baer, G. (2008): Leibbewegungen, Herzkreise und der Tanz der Würde. Methoden und Modelle der Tanz- und Bewegungstherapie. Semnos, Neukirchen-Vluyn Decker-Voigt, H.-H., Oberregelsbacher, D., Timmermann, T. (2020): Lehrbuch Musiktherapie. UTB, Stuttgart, https: / / doi. org/ 10.36198/ 9783838552958 75 2 | 2025 Körper- und leiborientierte Musiktherapie Fuchs, T. (2023): Psychiatrie als Beziehungsmedizin. Ein ökologisches Paradigma. Kohlhammer, Stuttgart, https: / / doi.org/ 10.17433/ 978-3-17- 036846-0 Fuchs, T. (2000): Leib - Raum - Person. Entwurf einer Phänomenologischen Anthropologie. Klett-Cotta, Stuttgart Marlock, G., Weiss, H., Grell-Kamutzki, L., Rellensmann, D. (Hrsg.). (2023): Handbuch Körperpsychotherapie. 2. Aufl. Schattauer, Stuttgart Schumacher, K. (2004): Musiktherapie und Säuglingsforschung. Peter Lang, Frankfurt/ M. Stern, D. (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Klett-Cotta, Stuttgart Dr. phil. Udo Baer Kreativer Leibtherapeut, Leiter mehrerer Modell- und Forschungsprojekte, Vorsitzender der Stiftung Würde, Leiter der Semnos-Akademie für Kreative Leibtherapie, gemeinsam mit Dr. Gabriele Frick-Baer Begründer der leiborientierten Musiktherapie, Autor zahlreicher Fachbücher. ✉ Dr. phil. Udo Baer www.baer-frick-baer.de u.baer@baer-frick-baer.de
