körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2024.art14d
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Medien & Materialien: Carsten Holle, Jens Tasche (Hrsg.): Psychodynamische Grundlagen der Bioenergetischen Analyse
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Peter Geißler
Nach dem „Handbuch Bioenergetische Analyse“ (Heinrich-Clauer 2008) erscheint im Psychosozial-Verlag neuerlich ein mit 536 Seiten beeindruckender Sammelband mit dem Ziel, in insgesamt 18 Beiträgen „die Intensität und Tiefe bioenergetisch-körperpsychotherapeutischen Selbsterlebens mit der Differenziertheit psychodynamisch modellierten Denkens zu verweben“ (Holle / Tasche 2024, 11). Diese Formulierung suggeriert eine enge methodische Verbindung zweier durchaus unterschiedlicher therapeutischer Ansätze. Vergessen wir nicht, dass sich die Bioenergetische Analyse (ähnlich wie die Gestalttherapie) ursprünglich als Gegenpol gegenüber einer „verkopft“ erscheinenden Psychoanalyse definiert hat. Es mag heute nicht so mehr so krass sein, aber Sprüche wie „diese verkopften Psychoanalytiker“ standen damals in bioenergetischen Selbsterfahrungsgruppen und Ausbildungen (Anfang der 1980er Jahre) an der Tagesordnung, und aus der Abgrenzung heraus zog seinerzeit die Bioenergetische Analyse ursprünglich den Kern ihrer Identität.
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Medien & Materialien 89 2 | 2025 Carsten Holle, Jens Tasche (Hrsg.): Psychodynamische Grundlagen der Bioenergetischen Analyse Psychosozial, 2024, Gießen, 536 Seiten., 79,90 € (D) Brückenschlag oder Sackgasse? Kritische Gedanken zu einem ambitionierten Werk N ach dem „Handbuch Bioenergetische Analyse“ (Heinrich-Clauer 2008) erscheint im Psychosozial-Verlag neuerlich ein mit 536 Seiten beeindruckender Sammelband mit dem Ziel, in insgesamt 18 Beiträgen „die Intensität und Tiefe bioenergetisch-körperpsychotherapeutischen Selbsterlebens mit der Differenziertheit psychodynamisch modellierten Denkens zu verweben“ (Holle / Tasche 2024, 11). Diese Formulierung suggeriert eine enge methodische Verbindung zweier durchaus unterschiedlicher therapeutischer Ansätze. Vergessen wir nicht, dass sich die Bioenergetische Analyse (ähnlich wie die Gestalttherapie) ursprünglich als Gegenpol gegenüber einer „verkopft“ erscheinenden Psychoanalyse definiert hat. Es mag heute nicht so mehr so krass sein, aber Sprüche wie „diese verkopften Psychoanalytiker“ standen damals in bioenergetischen Selbsterfahrungsgruppen und Ausbildungen (Anfang der 1980er Jahre) an der Tagesordnung, und aus der Abgrenzung heraus zog seinerzeit die Bioenergetische Analyse ursprünglich den Kern ihrer Identität. Während die bioenergetisch-körperpsychotherapeutische Arbeit stark auf das unmittelbare, körperlich-emotionale Erleben fokussiert ist und hier seine stärkste Wirksamkeit entfalten kann (und tatsächlich andere Erfahrungsräume eröffnet als üblicherweise der psychoanalytische Erfahrungsraum), betont das psychodynamische Modell die kognitive Reflexion und symbolische Deutung unbewusster Prozesse. Kann so eine Verschmelzung, die das „Verweben“ meinen mag, überhaupt funktionieren, bedenkt man die historische Gewachsenheit der Differenz? Kann dieses Buch, das zweifellos eine Art Standortbestimmung darstellen soll, einem solchen Anspruch gerecht werden? Zeigt das Buch tatsächlich einen Weg der Integration auf der Ebene der Theoriebildung, oder geht es eher um ein Ergänzen bestimmter bioenergetischer Theorieelemente (wie der Charakterstrukturen) durch passend erscheinende psychoanalytische Konzepte, im Sinne eines eklektischen Vorgehens? Gegliedert ist das Werk in vier Teile: Teil 1-- Wege in eine psychodynamische Bioenergetik (vier Beiträge von Weber-Steinbach, Schwenk, Glück/ Glück sowie Majce-Egger); Teil 2- - Behandlungstheoretische, entwicklungspsychologische und psychopathologische Kernelemente der psychodynamischen Bioenergetik (fünf Beiträge von Tasche, Pechtl, Wejner, Rau- Luberichs und Sollmann); Teil 3-- Ausgewählte Anwendungsbereiche der psychodynamischen Bioenergetik (vier Beiträge von Weber-Steinbach, Trotz, Holle und Sollmann); Teil 4-- Bioenergetisch-psychodynamisches Arbeiten in der Postmoderne (fünf Beiträge von Helferich, Heberhold, Colonna, Tasche und Liebau). In formaler Hinsicht ist das Buch modern konzipiert, verwendet ChatGPT als Werkzeug, um fiktive Geleitworte von Freud, Reich und Lowen zu verfassen. QR-Codes am Ende jedes Beitrags eröffnen die Möglichkeit, mit Hilfe eines interaktiven Multiple-Choice-Tests das erworbene Wissen zu überprüfen und manchmal auch offene Fragen zu formulieren. Jedem Beitrag ist eine Lernkarte zugeordnet, womit sich das Buch hervorragend für Auszubildende eignet. Ein Sach- und ein Personenregister am Ende 90 Medien & Materialien 2 | 2025 des Buchs sorgen für zusätzliche wertvolle Orientierungsmöglichkeiten. Es ist mir aus Platzgründen nicht möglich, auf die 18 Beiträge auch nur annähernd einzugehen und sie zu würdigen. Ich werde mich daher auf fünf Beiträge konzentrieren, die aus meiner Sicht dem Anliegen der Herausgeber-- nämlich die psychodynamische Fundierung der Bioenergetischen Analyse-- in besonderer Weise nahekommen (wollen). Jens Tasche geht in seinem Artikel „Psychodynamisches Verstehen in der Bioenergetischen Analyse“ explizit auf die theoretischen Unterschiede zwischen Bioenergetischer Analyse und Psychoanalyse ein. Er arbeitet zentrale Begrifflichkeiten aktueller psychodynamischer Theoriebildung heraus und stellt sie bioenergetischen Konzepten gegenüber. Während die Bioenergetische Analyse organismische Abwehr als eine körperlich-muskuläre wie auch psychische Reaktion auf Umweltversagen betrachtet, sieht die Psychoanalyse Ich-Abwehrmechanismen als intrapsychische Prozesse, die der Affektregulation dienen. Der Autor stellt auch heraus, dass die Bioenergetische Analyse kein ausgearbeitetes Konzept zur intrapsychischen Struktur hat, welches aber ein zentrales Element der Psychoanalyse darstellt. Der Autor ist sich der Differenzen bewusst und macht Vorschläge, sie zu überbrücken, beispielsweise durch das Hinzunehmen der OPD als modernes diagnostisches Instrument. Er plädiert „leidenschaftlich für eine selbstbewusste und dabei gleichzeitig diskursoffene BA“ (S. 123). Christine Pechtl untersucht in ihrem Beitrag „Von der Trieborientierung zur Beziehung“ das Charakterstrukturmodell der Bioenergetischen Analyse und reflektiert seine Entwicklung von einem ursprünglich triebtheoretischen Konzept hin zu einem stärker beziehungsorientierten Ansatz. Sie hinterfragt kritisch, ob die klassischen Charakterstrukturen noch zeitgemäß sind, und betont, dass viele Körpertherapeut: innen sich mittlerweile von ihnen distanzieren. Sie ergänzt bestimmte Kernelemente der Bioenergetischen Analyse durch psychodynamische Theorieansätze. Dieter Rau-Luberichs diskutiert in „Der bewegte Körper in Beziehung“ das intersubjektive Paradigma als einen möglichen Ansatz für eine Integration von Psychoanalyse und Bioenergetischer Analyse. Dabei hebt er hervor, dass körperliche Prozesse in der therapeutischen Beziehung oft zentrale unbewusste Konflikte inszenieren. Sein Beitrag betont die Brückenfunktion der Intersubjektivität, räumt aber auch ein, dass die klassische Psychoanalyse oft Schwierigkeiten hat, den Körper angemessen in ihre Theorie einzubeziehen. Seine Position legt die Vermutung eines Sich-Bewusstseins nahe, dass eine tatsächliche Integration der beiden Modelle weiterhin mit Schwierigkeiten behaftet ist. Ullrich Sollmann verfolgt in „Bioenergetische Analyse zwischen Tiefenpsychologie und Humanistischer Psychologie“ einen anderen Ansatz: Er sieht die Bioenergetische Analyse als eine Synthese aus Tiefenpsychologie und Humanistischer Psychologie. Dabei betont er den humanistischen Charakter der Bioenergetischen Analyse insofern, als sie Selbstverwirklichung und Wachstum in den Mittelpunkt ihres Menschenbildes stellt. Indem er die historischen und ideologischen Wurzeln der Bioenergetischen Analyse reflektiert, zeigt er, dass die Differenzen zwischen Bioenergetischer Analyse und Psychoanalyse tief in ihren Grundannahmen verankert sind. Seine Sichtweise beschreibt er so: „Obwohl sie sich keinem der beiden Lager exklusiv zuordnen lässt, enthält sie Einflüsse und Elemente aus beiden Perspektiven“ (S. 273). Das klingt so, wie wenn die Bioenergetische Analyse in einer Zwitterposition von Beginn an eklektisch angelegt gewesen wäre. Carsten Holle zeigt in „Körperpsychodynamische Therapie bei Kindern und Jugendlichen“ auf, dass in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie sowohl psychoanalytische als auch körperorientierte Methoden Anpassungen benötigen. Er erkennt an, dass die Psychoanalyse Medien & Materialien 91 2 | 2025 zwar eine lange Tradition in der Kinderanalyse hat, aber wenige körpertherapeutische Elemente wirklich integriert. Die Bioenergetische Analyse hingegen hat zwar körperorientierte Zugänge entwickelt, sie jedoch kaum in eine psychoanalytische Theorie für Kinder und Jugendliche eingebettet. Herausragend an diesem Beitrag ist die detaillierte Aufstellung und Aufschlüsselung von Fallvignetten, gegliedert in Prozessbeschreibung und Arbeitshypothesen. In dieser Hinsicht zeigt der Autor anschaulich, wie er prozesshaft denkt- - eine essenzielle Fähigkeit für jeden psychotherapeutischen Zugang. Werden die Autor: innen der fünf Beiträge dem Anliegen des Buches gerecht? Die Frage nach einer möglichen Integration der Bioenergetischen Analyse und der Psychoanalyse begleitet das Feld der körperpsychotherapeutischen Forschung seit Jahrzehnten. Wie bereits dargelegt, verfolgt die Bioenergetische Analyse einen organismisch-körperlichen Ansatz, während die Psychoanalyse sich auf intrapsychische Strukturen und sprachlich-symbolische Prozesse konzentriert. Viele der in diesem Sammelband versammelten Beiträge versuchen, Brücken zwischen diesen beiden Denkmodellen zu schlagen- - sei es durch die Betonung psychodynamischer Konzepte (Tasche), die Reflexion über die Evolution des Charakterstrukturmodells (Pechtl) oder die Integration intersubjektiver Perspektiven (Rau-Luberichs). Dennoch bleibt die Frage bestehen: Ist eine Synthese dieser beiden Modelle überhaupt möglich-- und wenn ja, wäre sie überhaupt wünschenswert? Ein solcher Integrationsversuch ist ja nicht neu-- im Gegenteil. Wiederholt haben manche Vertreter: innen der Bioenergetischen Analyse versucht, psychoanalytische Konzepte in die Bioenergetische Analyse zu integrieren- - und sind gescheitert. Sander Kirsch und Jacques Berliner versuchten es auf internationaler Ebene Ende der 1980er/ Anfang der 1990er Jahre und lösten eine rege und sehr kontroverse Diskussion aus. Als Reaktion darauf rief Alexander Lowen das „Back-to-Basics-Programm“ aus, mit der Folge von Ausschlüssen und Austritten aus dem Internationalen Institut für Bioenergetische Analyse (siehe dazu Geißler 1996). Der Grund: Lowen sah sich als die einzig wahre Autorität im Feld der Bioenergetischen Analyse und ordnete an, dass sich jeder seiner Schüler: innen einer Nachanalyse bei ihm, dem Schulengründer, zu unterziehen habe. Nicht alle akzeptierten diese Bedingung. Einige Kollegen und ich unternahmen einen solchen Versuch zwei, drei Jahre später in Österreich-- und scheiterten ebenso. Wir versuchten damals, vorwiegend in Kontext von Diskussionen, für unsere Überzeugung, dass psychoanalytisches Wissen eine wesentliche Erweiterung für ein Prozessverständnis in bioenergetischen Therapien sein konnte, zu werben und zu überzeugen. Das Ausbildungsinstitut spaltete sich in dieser Zeit in zwei Lager: die „Theorieoffenen“ und die „Fundis“ (die eine solche Erweiterung für nicht notwendig hielten). Anfangs konstruktiv geführte Diskurse vermischten sich mit internen Vereinsdynamiken, Rivalitäten und Machtkämpfen. Der Loslösungsprozess war damals für mich extrem traumatisch- - und in späterer Folge befreiend. Ich habe also durchaus Verständnis für die Herausgeber dieses „Opus magnum“ der Bioenergetischen Analyse und ihre Leidenschaft, für eine solche Integration weiterhin zu kämpfen. Für ihr Vorhaben wünsche ich ihnen alles Gute. Ich füge einige Gedanken hinzu, die hoffentlich nützlich sind, um ihr Bestreben auf solide Beine zu stellen. Während die Psychoanalyse über ein detailliert ausgearbeitetes intrapsychisches Modell verfügt, operiert die Bioenergetische Analyse mit einem direkteren, erfahrungsorientierten Zugang. In dieser Hinsicht scheint die grundlegende Inkompatibilität weniger eine Frage theoretischer Defizite zu sein als vielmehr ein Ausdruck unterschiedlicher Paradigmen. Daher scheint die Frage berechtigt: Ist der Theoriekorpus der Bioenergetischen Analyse überhaupt 92 Medien & Materialien 2 | 2025 geeignet, psychoanalytische Modellvorstellungen aufzunehmen-- oder verlangt eine solche Integration eine grundlegende Revision ihrer Methodik und Theorie? Ein zentraler Punkt, der in dieser Diskussion häufig übersehen wird, ist die von Alexander Lowen geprägte Vorstellung, die Bioenergetische Analyse sei in sich bereits eine vollständige Theorie, die die Psychoanalyse überflüssig mache. Lowen behauptete, dass die Bioenergetische Analyse sowohl eine Körperals auch eine Psychoanalyse sei- - eine Ansicht, die in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Psychotherapieforschung nicht mehr haltbar ist, jedoch damals viele von uns geprägt hat. Ich nehme mich da überhaupt nicht aus: Tatsächlich gelangte ich, als ich 1979 Waldefried Pechtl in Bad Gleichenberg in der Südsteiermark auf einem Bioenergetik-Seminar begegnete, zur Überzeugung, dass ich nach langer Suche in der Bioenergetischen Analyse die Quadratur des Kreises gefunden hatte. Entsprechend begeistert ging ich ans Werk, ließ mich voll ein. Die implizite Größenvorstellung in der Bioenergetischen Analyse ahnte ich damals vage, spürte sie dann stark in unserer Ausbildungsgruppe und genoss es, in einer dermaßen erlauchten Gemeinschaft mein Handwerk zu erlernen. Von idealisierenden Übertragungen in ihrer Verschränkung mit charismatischen Trainer- und Therapeutenpersönlichkeiten wusste ich zu diesem Zeitpunkt meines Weges gar nichts. Einige Autoren des vorliegenden Buches (z. B. Rau-Luberichs) lassen erkennen, dass sie darauf durchaus einen Blick haben. Mir selbst dämmerte erst viel später, dass eine solche Größenvorstellung eine nüchterne Bestandsaufnahme, was die Möglichkeiten und die Grenzen der Bioenergetischen Analyse ausmachte und wahrscheinlich noch immer ausmacht, beträchtlich erschwert. Die Frage nach den Grenzen ist aber entscheidend, denn Bioenergetische Analyse hat ihre Identität, wie eingangs erwähnt, aus einer Abgrenzung der Psychoanalyse gegenüber gewonnen, und diese Kluft ist heute noch spürbar, beispielsweise wenn es um das Thema „Berührung in der Psychotherapie“ geht (vgl. dazu Geißler 2025). Die Auseinandersetzung mit den Grenzen der Bioenergetischen Analyse klingt in den verschiedenen Beiträgen in unterschiedlicher Weise an. Insgesamt entwickelt sich der Eindruck, dass das Gesamtwerk trotz des Anerkennens einer gewissen Stagnation in der Theorieentwicklung (vgl. die Beiträge von Tasche und Pechtl) von der Vorstellung durchdrungen ist, dass eine solche Integration möglich sein müsste und auch sollte. Aber muss das wirklich so sein? Was erschwert die Integration oder macht sie womöglich nicht durchführbar? 1. Inkompatible Grundannahmen: Die Bioenergetische Analyse arbeitet weiterhin mit einem Konzept von „Energiefluss“, das weder in der zeitgenössischen Psychoanalyse eine Rolle spielt, noch wissenschaftlicher Prüfung standhält. Wenn man es als Metapher sieht, sollte man es klar so ausdrücken. Andernfalls sollte man von dieser Idee loslassen. 2. Zu geringe theoretische Differenzierung: Während die Psychoanalyse über Jahrzehnte hinweg hochkomplexe, differenzierte Theoriemodelle entwickelt hat, bleibt die Bioenergetische Analyse in einem eher phänomenologischen Beschreibungsrahmen stecken. Ihre Konzepte sind oft intuitiv nachvollziehbar, aber nicht in der analytischen Tiefe ausgearbeitet, wie es bei psychoanalytischen Konstrukten der Fall ist. Das merkt man eindrücklich, wenn man bioenergetische und psychoanalytische Fallvignetten vergleicht, zwischen denen Welten liegen. 3. Therapeutische Methode als Hürde: In der Psychoanalyse hat sich ein spezifischer methodischer Zugang entwickelt, der stark auf Sprache, Symbolisierung und das Unbewusste setzt. Die Bioenergetische Analyse verfolgt hingegen einen eher direkten, erfahrungsorientierten Ansatz. Eine Synthese dieser bei- Medien & Materialien 93 2 | 2025 den Methoden bleibt methodisch schwer umsetzbar. 4. Wissenschaftliche Anerkennung: Die Psychoanalyse hat sich im akademischen und klinischen Diskurs behauptet und ist in der wissenschaftlichen Community zwar nicht durchgehend, aber überwiegend anerkannt. Die Bioenergetische Analyse hingegen wird oft eher als eine alternative Therapieform angesehen, ohne echte und tiefgründige wissenschaftliche Fundierung. Genau dieser Eindruck hat der Bioenergetischen Analyse bislang jedenfalls in Österreich, trotz umfangreicher Bemühungen, die Anerkennung als offizielles Ausbildungsverfahren verunmöglicht (ich kann das aus erster Hand sagen, denn das „Einreichpapier“ Mitte der 1990er Jahre habe ich selbst verfasst). Meine Meinung: Aus all diesen Gründen ist eine weitgehende oder vollständige Integration psychoanalytischer und bioenergetischer Zugänge im Moment wenig wahrscheinlich. Es braucht in dieser Hinsicht möglicherweise klare Bekenntnisse, wie eine ausdrückliche Verabschiedung vom Energiekonzept. In der psychodynamischen Körperpsychotherapie (z. B. Geißler 2017, 2023; Geißler/ Heisterkamp 2007, 2013) sind wir diesen Weg gegangen. Nicht gefunden habe ich in all den Beiträgen überraschenderweise eine ausdrückliche und ausführliche Bezugnahme auf das „implizite Beziehungswissen“ (Polanyi 1985). Genau dieses Konzept hat das Potential, brückenbildend zu wirken, und es wird von verschiedenen Strömungen der Psychoanalyse zunehmend entdeckt (vgl. dazu Mertens 2012). Auch in der modernen Psychotherapieforschung gewinnt dieses Konzept zunehmend an Bedeutung. Dieses Wissen ist kein sprachlich-symbolisches, sondern ein körperlich-affektives Wissen, das sich in der zwischenmenschlichen Dynamik zeigt-- und genau hier könnte die Bioenergetische Analyse ihren stärksten Beitrag leisten. Statt also weiterhin eine möglicherweise künstlich wirkende Synthese mit der Psychoanalyse anzustreben, könnte die Zukunft der Bioenergetischen Analyse in einer neuen theoretischen Ausrichtung auf das implizite Körperwissen liegen. Dr. med. Dr. phil. Peter Geißler DOI 10.2378/ ktb2025.art14d Literatur Geißler, P. (2025): Berührung in der Psychotherapie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, im Druck Geißler, P. (2023): Körperarbeit in der Psychotherapie. Erste Schritte zur Öffnung des Settings. Psychosozial, Gießen, https: / / doi.org/ 10. 30820/ 9783837962376 Geißler, P. (2017): Psychodynamische Körperpsychotherapie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, https: / / doi.org/ 10.13109/ 9783666406058 Geißler, P. (1996): Neue Entwicklungen in der Bioenergetischen Analyse. Materialien zur analytischen körperbezogenen Psychotherapie. Peter Lang, Frankfurt/ M. Geißler, P., Heisterkamp, G. (2013): Einführung in die analytische Körperpsychotherapie. Psychosozial, Gießen Geißler, P., Heisterkamp, G. (Hrsg.) (2007): Psychoanalyse der Lebensbewegungen. Zum körperlichen Geschehen in der psychoanalytischen Therapie. Ein Lehrbuch. Springer, Wien/ New York, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-211-48609-2 Heinrich-Clauer, V. (2008): Handbuch Bioenergetische Analyse. Psychosozial, Gießen Mertens, W. (2012): Psychoanalytische Schulen im Gespräch. Band 3. Psychoanalytische Bindungstheorie und moderne Kleinkindforschung. Huber, Bern Polanyi, M. (1985): Implizites Wissen. Fischer, Frankfurt/ M.
